Schaut hin!
Bitte stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Der Kirche gelingt es, sich den gesellschaftlichen und organisatorischen Herausforderungen zu stellen und sie folgt dabei konsequent ihrer Botschaft.
1. Hat sich der persönliche Umgang mit Macht seitens kirchlicher Verantwortungsträger/innen (Haltungen und Verhalten) oder die institutionellen Bedingungen von Machtausübung in der Kirche (Machtarchitektur) verändert und wenn ja, wie?
Was für eine Vision! Ich lese die These, lese sie wieder und merke: Ich kann, so gerne ich es möchte, der Vision nur bedingt folgen. Denn ich gehe davon, dass es der Kirche und den Kirchen nicht gelingen wird, sich umfassend und mit einem Gesamtblick den gesellschaftlichen und organisatorischen Herausforderungen zu stellen. Niemand in der Kirche und den Kirchen ist dazu fähig. Die Vielfalt der Herausforderungen ist zu groß, nehmen wir nur drei Beispiele: In einer säkulareren Welt Raum zu schaffen für Religion und christlichen Glauben. Die Sinnhaftigkeit von Kirche(n) als Institution zu rechtfertigen und zu leben. Das Reich Gottes auf Erden momenthaft erfahrbar werden zu lassen. Noch herausfordernder wird in dem Zusammenhang Macht zu definieren. Ich schaue auf das, was im begonnenen neuen Jahrtausend an zahlreichen Veranstaltungen angeboten und öffentlich gemacht worden ist im geistlichen, gesellschaftspolitischen und kulturellen Programm der letzten Kirchentage (und Ökumenischen Kirchentage): Dabei kann frau vier Dimensionen unterscheiden: Es ist a) die Fähigkeit, etwas durchzusetzen (z.B. das Recht). Es ist b) die Herrschaft über andere (Geschlechterverhältnisse, Familienverhältnisse, internationale Beziehungen, …). Es ist c) die Selbstverständlichkeit und Bedingtheit bestimmter Mechanismen, Kulturen, Anforderungen (Marktmechanismen, kulturelle Codes, Arbeitswelt-Bedingungen) und es ist d) zuletzt – und mir als Frau und Kirchentagsvertreterin natürlich am wichtigsten – die Möglichkeit zu handeln (als Empowerment, Zivilcourage, als Mut und Erfahrung von Selbstwirksamkeit). Vielleicht ist das Letzte das Erste.
Was ist biblische Macht? Sie wird offen angesprochen und gelebt. Sie ist weder hui noch pfui. Sie existiert.
Was ist biblische Macht? In der biblischen Botschaft sind alle Ebenen enthalten, die wir menschlicherseits positiv oder negativ mit Macht in Beziehung setzen. Doch eines verbindet die verschiedenen Facetten von biblischer Macht (und unterscheidet sie z.T. von kirchlicher Machtausübung): Sie wird offen angesprochen und gelebt. Sie ist weder hui noch pfui. Sie existiert. Sie liegt bei Gott, sie dient dazu Menschen Gott nahe zu bringen und zum Leben zu befreien. Sie liegt bei Menschen, die mit ihr umgehen als Geschenk, als Gnade, für Gottes Schalom. Die biblische Botschaft hat keine Angst vor Macht, sie vergöttert Macht nicht. Macht ist endlich. Der Maßstab der Macht, an dem sich Macht messen lassen muss, ist das Doppelgebot der Liebe, die Mitte des Evangeliums. Dann wird sie zur Dynamis, zur Geistkraft. Dann kann Macht lebendig machen und verhilft der biblischen Botschaft zur Macht.
Macht wird geteilt und nicht gehäuft, Entscheidungen werden von Vielen getragen. Es wird unendlich ausgehandelt, es ist ein Hören auf das, was sich ereignen will.
Wenn dies befolgt wird, dann verändert sich Macht – bei kirchlichen Funktionsträger*innen und bei kirchlichen Institutionen. Und dann wird Kirche zu einer Vision. Kirchentage sind Experimentierlabor und vor-läufige Kirche. Das ist der Anspruch des Kirchentages seit 70 Jahren. So versuchen wir mit Macht umzugehen – thematisch und organisatorisch bei der Vorbereitung eines Kirchentages, der von, mit und für Laien gestaltet und getragen wird. Das ist die exemplarische und paradigmatische Vision des Kirchentages: Macht wird geteilt und nicht gehäuft, Entscheidungen werden von Vielen getragen. Es wird unendlich ausgehandelt, es ist ein Hören auf das, was sich ereignen will. Das ist mühsam, es durchkreuzt Macht-Logiken. Zugleich ist nicht alles basisdemokratisch, wir leiten durch Gremien, die im Miteinander andere und sich selbst ermächtigen. Wir reflektieren Machtstrukturen und Leitungsstrukturen. Vieles ist möglich, nichts sollte auf Dauer gestellt sein. Wir scheitern dabei und machen weiter. Wir freuen uns, wenn im Gemeinsamen Tun Gottes Macht aufscheint. Wenn uns die Stimme verschlägt singen wir Psalmen und Kirchentagslieder, um aus lähmenden Machtkämpfen wieder herauszukommen.
2. Welche (alternativen) Machtphänomene, -mechanismen und -verwerfungen erwarten Sie, wenn sich Machtstrukturen, Haltungen und Verhalten tatsächlich in der von Ihnen beschriebenen Weise verändern werden?
Ich bin keine Prophetin. Ich erwarte viel und alles von Gott und Gottes Geist. Ich erwarte, dass Menschen immer wieder von dieser Freiheit eines machtvollen Lebens abweichen werden, weil sie nicht offen bleiben für Gottes Wort, d.h. sie verharren in engen, ängstlichen und machtbesitzenden Haltungen und Aktionen. Da schließe ich mich selbst ein. Ich erwarte Enttäuschungen. Enttäuschung darüber, dass es kein Allheilmittel ist Macht zu teilen. Auch ein synodaler Weg schützt nicht vor Machtstreitigkeiten. Ich erwarte Irrwege, d.h. wieder aufkeimende Sehnsucht nach einem starken machtvollen Mann. Für Gott ist Macht einfach, für den Menschen kompliziert sich von guten Mächten umgeben Gottes Macht anzuvertrauen.
Auch ein synodaler Weg schützt nicht vor Machtstreitigkeiten. Ich erwarte Irrwege, d.h. wieder aufkeimende Sehnsucht nach einem starken machtvollen Mann.
Ökumene ist dabei Vorbotin der Freude von geteilter Macht und Zeichen von Reich Gottes auf Erden. Auf dem Weg dahin liegen mehr institutionelle und kleingeisterische Fallen als ich mir früher vorstellen konnte. Dennoch bin ich insgesamt optimistisch: In den letzten zwanzig Jahren ist so viel über Macht gesprochen worden wie nie in den Kirchen – z.B. auch aufgrund von Hunderten von Veranstaltungen auf Kirchentagen oder auch Ökumenischen Kirchentagen. Neuere biblische Übersetzungen trauen sich Macht neu zu übersetzen – in das Leben der Menschen heute. Auf dem 3. Ökumenischen Kirchentag in Frankfurt wird ein Hauptthema „Macht und Kapital“ sein. Es geht dabei um Geld, aber um weit mehr als Geld. Als Leitwort ist in einem partizipativen Prozess und intensivem Diskutieren das aus der jesuanischen Brotmehrungserzählung nach Matt 6,38 verdichtete „schaut hin“ bestimmt worden. Schaut hin heißt deutlich: Schaut hin zu Machtmissbrauch und Machverlust, zu Machtanmaßung. Schaut hin, wo Kleinglauben herrscht, schaut genau hin. Wo sind Eure Ressourcen? Die sind mehr als endlich und dennoch ist für alle genug. Das zu meditieren, das zu leben, dafür zu beten: Es ist mehr als genug. Das könnte das neue Mantra sein, um Macht im Sinne der biblischen Botschaft verantwortlich zu leben. Diese Macht sich zu nehmen. Im Sinn der Bergpredigt, als Frauen und Männer und alle, die sich anders geschlechtlich definieren; als High Potentials und vom Leben Versehrte; zwischen Ost und West, Nord und Süd, Alt und Jung; Katholiken und Protestanten, Kerngemeinde und Randsiedler*innen und weit darüber hinaus.