022019

Foto: Anthony Cantin/Unsplash

Statements

Christoph Meyns

Glaubwürdigkeit und weite Horizonte

Bitte stellen Sie sich folgendes Szenario vor: Der Kirche gelingt es, sich den gesellschaftlichen und organisatorischen Herausforderungen zu stellen und sie folgt dabei konsequent ihrer Botschaft.

  1. Hat sich der persönliche Umgang mit Macht seitens kirchlicher Verantwortungsträger/innen (Haltungen und Verhalten) oder die institutionellen Bedingungen von Machtausübung in der Kirche (Machtarchitektur) verändert und wenn ja, wie?
  2. Welche (alternativen) Machtphänomene, -mechanismen und -verwerfungen erwarten Sie, wenn sich Machtstrukturen, Haltungen und Verhalten tatsächlich in der von Ihnen beschriebenen Weise verändern werden?

Unsere Gesellschaft hat sich in den letzten fünfzig Jahre tiefgreifend verändert. Die Zahl der Mitglieder von Vereinen, Parteien, Gewerkschaften und Kirchen ist kontinuierlich zurückgegangen und wird weiter zurückgehen. Menschen sind immer weniger bereit, sich an Organisationen zu binden, sich an die von ihnen ausgehenden Verhaltensanforderungen anzupassen und mit den von ihnen vertretenen Inhalten zu identifizieren. Im Kontext dieses allgemeinen gesellschaftlichen Trends, den dahinter stehenden technologischen und ökonomischen Entwicklungen sowie den damit verbundenen Werten von individueller Freiheit und Selbstverwirklichung sind die Kirchen verglichen mit anderen Institutionen relativ stabil. Dennoch schrumpfen auch sie.

Vor diesem gesellschaftlichen Hintergrund wird sich die Machtbalance mittelfristig weg von hauptamtlichen Beschäftigten hin zu ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, ihren Interessen, ihren Möglichkeiten und ihren Grenzen verschieben.

Vor diesem Hintergrund wird sich die Machtbalance mittelfristig weg von hauptamtlichen Beschäftigten hin zu ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, ihren Interessen, ihren Möglichkeiten und ihren Grenzen verschieben. In der Folge werden Leitungsebenen noch stärker als bisher Kompetenzen im Blick auf die Rekrutierung, Ausbildung, Führung und Begleitung von Ehrenamtlichen entwickeln müssen.

Religionssoziologische Untersuchungen zeigen, dass hinter der institutionellen Schwäche der Kirchen Faktoren wirken, die sich nicht kurzfristig durch eine wie auch immer geartete Ausrichtung des kirchlichen Leitungshandelns beeinflussen lassen. Die Handlungsspielräume sind begrenzt. Gleichzeitig ist schwer zu entscheiden: Haben bisherige Strukturen, Haltungen oder Verhaltensweisen im Umgang mit Macht dazu beigetragen, Schlimmeres zu verhindern? Oder hätten andere Strukturen, Haltungen oder Verhaltensweisen dazu beitragen können, dass heute z. B. mehr Menschen an Gott glauben, mehr Menschen Gottesdienste besuchen oder weniger Menschen aus der Kirche austreten?

Über die Bedeutung eines Aspekts des kirchlichen Leitungshandelns und den Umgang mit Macht lässt sich gleichwohl Genaueres sagen. Die Höhe der Kirchenaustritte ist seit 1953 in der evangelischen und der katholischen Kirche gleichlaufend von der Steuerpolitik der Bundesregierung abhängig. Erhöht sie die direkten Steuern, steigt die Zahl der Kirchenaustritte. Senkt sie die Steuerlast, treten weniger Menschen aus der Kirche aus. Es gibt eine einzige Ausnahme, bei der das kirchliche Leitungshandeln in den vergangenen fünf Jahrzehnten das Verhalten von Kirchenmitgliedern sichtbar beeinflusst hat. Im Jahr 2010 traten als Reaktion auf die damals öffentlich bekannt gewordenen Fälle sexualisierter Gewalt das erste und einzige Mal mehr katholische als evangelische Christen aus der Kirche aus.

Es wird deshalb aus meiner Sicht künftig noch stärker als bisher darauf ankommen, dass kirchliche Verantwortungsträger selbst glaubwürdig leben und dazu beitragen, dass die Kirche glaubwürdig handelt. Organisationsstrukturen, Ausbildungs-, Fortbildungs-, Arbeits- und Personalführungsprozesse sowie die Organisationskultur müssen so gestaltet werden, dass sie Misstrauen abbauen und Vertrauen stärken.

Neben allen Konsequenzen für Aufarbeitung, Intervention und Prävention in Fällen sexualisierter Gewalt – auch in der evangelischen Kirche – lässt dieses Ereignis darauf schließen, dass insgesamt die Glaubwürdigkeit des Leitungshandelns der entscheidende interne Faktor ist, der die Bindung von Menschen an die Kirche positiv wie negativ beeinflusst.

Es wird deshalb aus meiner Sicht künftig noch stärker als bisher darauf ankommen, dass kirchliche Verantwortungsträger selbst glaubwürdig leben und dazu beitragen, dass die Kirche glaubwürdig handelt. Organisationsstrukturen, Ausbildungs-, Fortbildungs-, Arbeits- und Personalführungsprozesse sowie die Organisationskultur müssen so gestaltet werden, dass sie Misstrauen abbauen und Vertrauen stärken.

Neben allem, was dazu schon jetzt aktuell in den Kirchen diskutiert und umgesetzt wird, besteht aus meiner Sicht eine wichtige Maßnahme darin, das diakonische Engagement der Kirchen zu stärken. Ein großes Problem ist hier der Funktionsverlust der Kirchengemeinden durch die zunehmende funktionale Spezialisierung und organisatorische Ausgliederung von Caritas und Diakonie. Menschen erleben vor Ort immer weniger den Zusammenhang von Gottesdienst und Menschendienst. Die Einheit der Kirche ist durch diese Trennung stärker gefährdet als durch die konfessionelle Spaltung. An einem vor Ort konkret erlebbaren engen Miteinander von gottesdienstlicher Feier und sozialem Handeln zu arbeiten, darin besteht für mich eine der wichtigsten aktuellen Aufgaben kirchlicher Leitungskräfte und -gremien.

Das große Thema der kommenden Jahrzehnte wird dabei die Umstellung der globalen Produktion und Verteilung von Gütern auf ein ökologisch verträgliches Maß sein. Was können die Kirchen beitragen zum notwendigen gesellschaftlichen Wandel hin zu einem sinkenden Verbrauch von Ressourcen und Energie? Wo sind sie selbst gefordert, ihr Handeln umzustellen? Wie kann ein Leben aussehen, das die Grenzen des Wachstums achtet und lernt, mit weniger auszukommen? Was bedeutet das für jeden Einzelnen, seine Haltungen und sein Verhalten, für das gesellschaftliche Miteinander in unserem Land und das Zusammenleben der Völker? Eine der zentralen Aufgaben kirchlicher Leitungskräfte wird sein, die eigenen Wahrnehmungs- und Verantwortungshorizonte zu erweitern, um tragfähige Antworten auf diese Fragen zu finden. Dabei werden sie vermutlich stärker als bisher in Konflikte mit eigennutzorientierten und nationalistischen Interessen geraten.

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