Nur das Änderbare können wir akzeptieren, oder: Freiheit als öffnende Einschränkung
Verfallsdiagnosen sind en vogue. In welche Tageszeitung, welches Wochenblatt, welchen Blog auch immer man schaut: die Anfälligkeit der Gegenwartsgesellschaft für ihren Verfall wird überall gesehen, an vielen Stellen auch beschworen. Beklagt werden Einbußen an Übersichtlichkeit, an Berechenbarkeit, an Gestaltbarkeit, an Verläßlichkeit, und mitlaufend unterstellt wird eine Normalität, in der all dies selbstverständlich gewesen sei – so dass man die diversen Verlusterfahrungen vielleicht unter dem Namen einer Krise des Selbstverständlichen zusammenfassen kann. Es stellt sich dar wie ein Gewahrwerden eigenen Alterns1: alles Mögliche (vor allem Körperliches, eben noch das Selbstverständliche schlechthin) klappt nicht mehr, jedenfalls nicht mehr umstands- und anstrengungslos, und die Erfahrung des Misslingens schiebt sich vor jede andere Erfahrung.
Man ist plötzlich denen ähnlich, denen man sich überlegen zu wissen meinte, eine Erfahrung, die manche demütig und viele aggressiv macht. Irgendwann kommt der Moment, in dem man sich selbst bei einem niedergeschlagenen, mutlosen, bald auch ärgerlichen und nörgeligen Auftreten beobachtet, dessen unverdächtig zu sein man doch immer sicher gewesen war. Man mag das eine Zeitlang externalisieren und Gründe bei anderen suchen, aber irgendwann zieht man sich zurück und sehnt sich nach vergangenen Zeiten, nach dem jugendlich-unbekümmerten Ich, nach Phasen müheloser Erfolge und herzlicher Anerkennung, nach dem, was normal gewesen war und jetzt verloren ist.Wir sehen unsere Felle davonschwimmen und schließen daraus, dass die Ordnung den Bach heruntergeht.
Dass diese Resignation in konkurrenten Umgebungen, in Kämpfen um Anerkennung, Aufmerksamkeit, Einfluß als Nachteil bemerkt und mehr oder minder rücksichtslos angegriffen werden würde, kann niemanden wundern, am wenigsten jene, die ehemals rücksichtlos waren und jetzt auf Rücksicht hoffen. Dass also die heute 20- bis 30-Jährigen die heute 50- bis 60-Jährigen als »Boomer« oder »alte Weiße« attackieren, ist rational: es trifft diejenigen, die selber unter ihrem Alter und unter dem Alt- und Engwerden ihrer Milieus leiden, es bestätigt ihren Verdacht und enttäuscht zugleich ihre Hoffnung auf Beruhigung. Ich (denn so lohnt es sich hier zu sprechen: in der ersten Person) sehe das erfreut und alarmiert zugleich: sie kennen uns gut, unsere Kinder; sie wissen (das ist der erfreuliche Teil), wo wir empfindlich sind, und sie zögern nicht (das ist der alarmierende Teil), dieses Wissen einzusetzen. Wir sehen unsere Felle davonschwimmen und schließen daraus, dass die Ordnung den Bach heruntergeht. Wir könnten recht haben, aber es war nur ›unsere‹, nicht ›die‹ Ordnung, die da verfließt. Wir könnten uns also auch irren; die Ordnung verfällt nicht, sondern verändert sich bloß.
Wer sich auf Ordnung einläßt, gewinnt Veränderungschancen.
Das aber ist der Sinn von Ordnung. Kontingenz ist ihr Eigenwert. Ordnung wird stets gegen Unordnung eingeführt oder setzt sich (wie ein Kosmos gegen das Chaos) gegen Unordnung durch. Ihr eignet daher nichts Selbstverständliches, sie hat ihre eigene andere Seite, sie ist immer auch anders möglich, kurz: die Negation ihrer selbst – Unordnung – gehört zu ihren Möglichkeiten. Wer sich also auf Ordnung einläßt, gewinnt Veränderungschancen. Man kann Ordnung als Akzeptanzerwartung verstehen und als Normalität bezeichnen, aber mit der Akzeptanz ergeben sich Eingriffsmöglichkeiten, die – wenn sie ergriffen werden – die Ordnung ändern und ihre Normalität verunsichern. Das gilt auch dann, wenn Macht eingesetzt wird, um Eingriffe zu verhindern, weil dieser Machteinsatz selbst ebenfalls nichts anderes ist als eine Änderung dessen, was eben noch für Ordnung oder Normalität gehalten worden war.
Vermutlich sind es daher die mit jedem Sicheinlassen auf Ordnung gegebenen Eingriffsmöglichkeiten, die als Freiheit bezeichnet werden können. Ordnung, könnte man sagen, bezeichnet die Einschränkung von Freiheitsgraden, aber zugleich ihre Ermöglichung, und Freiheit wäre dann diese Möglichkeit selbst, also die Erwartung, Ordnung ändern bzw. die Formen der Einschränkung variieren zu können.
An diese Erwartung gewöhnt man sich schnell und man vergißt entsprechend schnell, wie unwahrscheinlich »die Vorstellung der Möglichkeit (ist), die eigenen Möglichkeiten selbst einschränken zu können« (Luhmann2). Es ist Individualität, womit Freiheit sogleich unter dem Namen der Selbstbestimmung identifiziert wird, und es ist Individualität, die gefährdet ist und verteidigt wird, sobald Ordnungsakzeptanz und Ordnungsvariation nicht mehr zusammenfallen. Mit Blick auf die Komplementarität von Ordnung und Freiheit könnte man daher sagen, ist Individualität immer nervös, immer unruhig, steht immer vor drohender Ohnmacht, ist immer (nochmals Luhmann3) in »Eile«. Und auch daran gewöhnt man sich.
Ordnung, könnte man sagen, bezeichnet die Einschränkung von Freiheitsgraden, aber zugleich ihre Ermöglichung…
Es ist dieser sowohl individuelle wie gesellschaftliche Habitus der Eile, der im Zuge der aktuellen Pandemie und der Versuche, sie zu bewältigen, gekränkt und frustriert worden ist und sich entsprechend beleidigt zeigt. Mit langsamer Freiheit kommen wir nicht gut zurecht, weil sie als ohnmächtiges Abwarten dessen erscheint, was zeitgleich mutmaßlich andere tun. Wir halten das Herumsitzen nicht aus und zögern dann nicht (sic!), von Freiheitsberaubung zu sprechen. Verhältnisse, die sich nicht ändern lassen, erscheinen uns nicht als Ordnungen; Akzeptanz wird sinnlos, weil sie eben an Änderungsmöglichkeiten geknüpft ist. Und unversehens artikuliert sich Individualität in nichts anderem mehr als dem Vorwurf, einer Unterwerfungserwartung begegnet, zum Stillhalten verdammt zu sein. Statt unsere Lage zu bedenken und zu bestimmen, beklagen wir sie (klagen also und klagen an) – weil das schneller geht, weil das im alten Habitus gelingt, weil es uns erlaubt (habitus heißt hysteresis), träge an unserer gewohnten Eile festzuhalten. Dass Freiheit die (oben zitierte) Möglichkeit einschließt, ›die eigenen Möglichkeiten selbst einzuschränken‹, dieser kommunikative, soziale Takt – also zum Beispiel etwas nicht zu fragen oder zu sagen, obwohl es gefragt oder gesagt werden könnte, oder einen Fehler nicht zu brandmarken, obwohl er beim Namen genannt werden sollte, oder eine Zuwendung nicht zu beanspruchen, obwohl der Anspruch legitim ist – wird dann vergessen oder sogar als Schwäche diskreditiert. Die gekränkte Individualität wird aggressiv.
Die Freiheit des Individuums im Angesicht der Ordnung realisiert sich taktvoll, versöhnlich, großzügig und in diesem Sinne asketisch, weil Akzeptanz und Eingriff nicht gegeneinander ausgespielt, sondern abgewogen werden müssen; sie realisiert sich also nicht, sondern gefährdet sich durch anspruchsvolle Schärfe und rücksichtslose Angriffslust. Man mag aktuell einen Sieg erringen, wird mit diesem Sieg aber nichts anfangen können, weil er eine Beziehung beendet.
Freiheit heißt, sich auf Ordnung einlassen zu können, weil Ordnung kontingent ist: hinnehmbar ist, was änderbar ist.
Es ist aber genau diese Bereitschaft, Freiheit gegen Ordnung auszuspielen und beide damit aufs Spiel zu setzen, die an der gegenwärtigen Lage so sehr irritiert. An allen möglichen Stellen und immer an vielen gleichzeitig neigt die Gesellschaft aktuell zu Eskalationen und Enthemmungen.4 Sie moderiert nicht, sondern polarisiert. Sie kritisiert nicht, sondern negiert. Ihre Konfliktneigung ist so scharf und so unbeherrscht, dass man (wieder mit Luhmann5) von einem überschießenden »Immunsystem« sprechen könnte. Ansteckung ist eben tatsächlich ein kommunikatives Geschehen, und die Kontaktvermeidung hat zu einer Konfliktverschärfung geführt, was man wohl als Triumph des Virus über die Gesellschaft verstehen muss. Aber dieser Triumph fiel derart leicht, dass die Gesellschaft der Ansteckung ein Milieu geboten haben muss. Das Virus passte zu uns, das verstehen wir jetzt, so dass wir nun auch lernen können, mit diesem unserem eigenen, eben nicht grenzenlos belastbaren Immunsystem zurechtzukommen.
Indizien gab es, namentlich in jüngerer Zeit. Weltweit wächst die Neigung, auf Komplexitätszuwächse mit separatistischen oder partikularistischen Vereinfachungen zu reagieren. Diese Neigung erschreckt, aber sie zeigt auch eine selektive Blindheit auf, die – vor allem, meine ich – mit Akademisierungs- und Urbanisierungsfortschritten zu tun hat, ja vielleicht deren Preis ist. Es deutet sich zum Beispiel eine Spaltung nicht nur der jüngeren Generationen an in diejenigen, die die kleinstädtischen und ländlichen Milieus verlassen haben, weil sie in den Großstädten studiert haben und dort auch bleiben, und diejenigen, die in Handwerksberufe oder traditionelle Rollen gehen und sesshaft bleiben, sich aber zurückgesetzt sehen (was sich ja nicht ändert, sondern verschärft, wenn die gebildeten Großstädter beginnen, nach dem Stadtraum den ländlichen Raum zu gentrifizieren). Dieses akademisch-großstädtische Milieu lebt, ein weiteres Beispiel, in konsumistischen Distinktionen, für die es keinen materiellen Rückhalt hat; es verschuldet sich also (was nichts anderes heißt, als dass es einem scharfen Armutsrisiko ausgesetzt ist, das sich nicht nur ökonomisch darstellt, sondern auch kulturell: man ›verliert den Anschluß‹). Politisch verhält sich dieses Milieu daher fordernd (Distinktion heißt Aufmerksamkeitsbewirtschaftung). Es neigt dem Protest zu, nicht dem Konsens, und es versteht Freiheit als Interessenvertretung (sei es für sich selbst, sei es für andere) mit der Folge, dass es den kämpferischen jedem administrativen Stil vorzieht. (Ich erinnere mich an zwei lange Debatten mit Studierenden über Verfahrenslegitimation im Sinne einer Akzeptanzermöglichung auch für den Fall des Unterliegens – anders gesagt: über den Sinn von Kompromissen – und über die demokratische Präferenz für bürokratische Rationalität anstelle charismatischer Herrschaft, die mich beide ratlos, ja verzweifelt zurückließen).
Ordnung muss als änderbar erfahren werden, wenn sie akzeptabel sein soll.
Nach allem, was ich oben überlegt habe, dürften diese Indizien den Schluss zulassen, dass die Gesellschaft es mit einer Individualitätsinflation zu tun bekommt, die – so fürchte ich – den Sinn von Individualität sogar trivialisieren könnte. Freiheit heißt, sich auf Ordnung einlassen zu können, weil Ordnung kontingent ist: hinnehmbar ist, was änderbar ist. Entsprechend heißt Freiheit zwar Einschränkung des Möglichen, aber diese Einschränkung ist eine öffnende, keine schließende Form. Freiheit öffnet Möglichkeiten im Kontext von Ordnung, und Individuen sind frei, weil und solange Ordnung kontingent ist. Das setzt nur eines voraus: das Sicheinlassen auf Ordnung auch in dem Sinne einer Begegnung, eines Miteinanders mit anderen Individuen, die im selben Sinne frei sind. Kontingent ist nicht nur die Ordnung selbst, sondern auch die eigene Positionierung im Verhältnis zum Anderen (diese spezifische Form doppelter Kontingenz nennt man heute gerne Netzwerk). Deshalb setzt Freiheit das Sicheinlassen auf mögliche Änderungen der Ordnung und das Sicheinlassen auf mögliche Relativierungen des Selbsts voraus. Letzteres ist es, was der gegenwärtigen Gesellschaft abhanden zu kommen droht. Individualität, die sich nicht relativiert, die sich also nicht oder nur mit einer Durchsetzungs-, Präferenz- und Dominanzerwartung auf Beziehungen einläßt, verliert ihren sozialen Sinn.
Obwohl keine Soziologie je raten könnte, wie die Gesellschaft auszusehen habe oder wie solchen Gefährdungen durch eskalierende Kommunikationen zu begegnen sei, läßt sich doch eines zumindest sagen: Ordnung muss als änderbar erfahren werden, wenn sie akzeptabel sein soll. Diese Akzeptanz des Änderbaren, diese öffnende Einschränkung ist Freiheit.
- Vgl. dazu Maren Lehmann (2017): Das »Altwerden funktionaler Differenzierung« und die »nächste Gesellschaft«, in: Soziale Systeme 2/20 (Special Issue), datiert auf 2015, S. 308-336.
- Niklas Luhmann (1995): Die Autopoiesis des Bewußtseins (zuerst 1985), in: ders., Soziologische Aufklärung 6: Die Soziologie und der Mensch. Opladen: Westdeutscher Verlag, S. 55-112, hier 69.
- Ebd.
- Vgl. Maren Lehmann (2020): Enthemmter Dissens: Kommunikation in Netzwerken, in: Lars Koch und Torsten König (Hg.), Zwischen Feindsetzung und Selbstviktimisierung: Gefühlspolitik und Ästhetik populistischer Kommunikation. Frankfurt am Main: Campus, S. . 203-226.
- Niklas Luhmann (1984): Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, insbes. Kap. 9, hier: 504.