022019

Konzept

Benedikt Kranemann

Machtspiele und die Liturgie

Wenn über Macht in der Kirche diskutiert wird, bleibt die Liturgie zumeist außen vor. Dass sich Machtstrukturen im Gottesdienst abbilden und sich einprägen, ist nicht im Blick. Mehr noch: Ein solcher Zusammenhang wird häufig sogar empört zurückgewiesen. Entsprechende Nachfragen tangieren offensichtlich für manchen den sakralen Charakter des Gottesdienstes, rühren an die persönliche Glaubenspraxis und betreffen die eigene Identität. Doch die Beispiele aus der Liturgiegeschichte unterschiedlicher Jahrhunderte lassen sich nicht wegdiskutieren: Gesellschaftliche wie kirchliche Standesunterschiede konnten sich in der Sitzordnung von Kirchen widerspiegeln. Bestimmte Zonen im Kirchenraum waren Klerikern vorbehalten und für die anderen Gläubigen, zumal für Frauen, nicht zugänglich. Je nach Stand des oder der Verstorbenen wurde die Begräbnisliturgie in ihrer Feierlichkeit gestuft und wurden so gesellschaftliche Machtverhältnisse abgebildet. Die Letzte Ölung wurde immer wieder nicht als seelsorgliche Hilfe wahrgenommen, sondern als Gelegenheit für Kleriker, überhöhte Stolgebühren von den Gläubigen zu kassieren – auch ein Machtgebaren. Nicht nur zwischen Priestern und „Laien“, sondern zwischen den Geschlechtern wurde immer wieder ein Macht- und Geltungsgefälle gelebt. Die Beispiele ließen sich beliebig fortschreiben. Solche Machtkonstellationen sind immer wieder durchbrochen worden – von Bischöfen, die einschritten, von Gläubigen, die Regelungen unterliefen und ihren eigenen Weg suchten. Doch die vielfältigen Zeugnisse aus der Geschichte zeigen: Im Gottesdienst war das rechtliche, soziale, geistliche Hierarchie- und Machtgefälle von Klerus und „Laien“ immer präsent. Und vor allem: Es wurde Mal für Mal neu inszeniert, denn Liturgie für Liturgie wiederholte sich diese – bewusste oder unbewusste – Darstellung und Einprägung von Hierarchie, von Sakralisierung kirchlichen Personals und von Performance von Macht. Dabei darf das Machtgefälle innerhalb des Klerus, der anderen Gläubigen – und zwischen den Geschlechtern nicht vergessen werden. Die Verhältnisse sind noch komplizierter, als der erste Blick verrät.

Im Gottesdienst war das rechtliche, soziale, geistliche Hierarchie- und Machtgefälle von Klerus und „Laien“ immer präsent.

Jahrhunderte später und um eine tiefgreifende Liturgiereform reicher sollten sich die Verhältnisse geändert haben. „Volksliturgie“,  „Teilnahme der Getauften“, „Feier der ganzen Gemeinde“ hatte man sich für die Erneuerung von Gottesdienst und Kirche auf die Fahnen geschrieben. Aber ist wirklich alles anders? Natürlich entsprechen viele der historischen Beispiele den Verhältnissen im deutschen Sprachraum ganz und gar nicht mehr. Und viele Dokumente der katholischen Kirche – längst allerdings nicht alle und nicht durchgängig! – setzen voraus, dass Liturgie gemeinschaftlich gefeiert wird: entweder unter dem Vorsitz des Priesters oder von anderen Gläubigen. Die Pastorale Einführung in die Wort-Gottes-Feier beispielsweise hebt die priesterliche Würde der Getauften hervor, „die ihnen das Recht (!) gibt, einander Gottes Wort zuzusprechen, voreinander seine Zeugen zu sein und füreinander vor Gott einzutreten.“ Wenn zudem von „Ermächtigung zur Leitung von Gottesdiensten durch Laien“ die Rede ist, kommt bereits „Macht“ ins Spiel.1 Eine klare Aussage, theologisch bestens begründet: Getaufte können Gottesdienste leiten. Wenn es sich um einen Gemeindegottesdienst handelt, geschieht dies mit bischöflicher Beauftragung. Punktum!

Liturgie für Liturgie wiederholte sich diese – bewusste oder unbewusste – Darstellung und Einprägung von Hierarchie, von Sakralisierung kirchlichen Personals und von Performance von Macht.

Doch dann stutzt man: Was bedeutet „Ermächtigung“? Was sich auf den ersten Blick gut liest, wirft auf den zweiten zumindest Fragen auf. Es heißt nichts anderes, als das jemand sein Recht auf einen anderen überträgt und dieser dann fremdes Recht im eigenen Namen vollzieht, in Anspruch nimmt, ausübt. Auf der einen Seite steht das Recht der Getauften, auf der anderen Seite die Ermächtigung, dieses Recht auszuüben. Ein Spannungsverhältnis mit erheblichen Folgen! Denn er weist auf eine Mentalität hin, die dazu beiträgt, Machtverhältnisse bewusst oder unbewusst festzuschreiben, sie immer wieder rituell zu perpetuieren und sich an sie zu gewöhnen – oder sie seitens der Betroffenen abzulehnen und dann rasch auf Distanz zur Liturgie zu gehen.

Wo liegen heute Probleme, wenn nach Macht und Liturgie gefragt wird? Eine Problemzone ist sicherlich der liturgische Raum. Dabei muss man genauer sagen, dass es häufig nicht die Räume sind, sondern ihre fantasielose Nutzung, die Schwierigkeiten bereitet. Die Distanz der Gläubigen zum Geschehen im Altarraum, das permanente Gegenüber von zumeist priesterlicher Gottesdienstleitung und Gemeinde, und dies alles im Zusammenspiel mit dominanter Sprachhandlung, Gewändern, Gesten, der Nutzung von Orten – sehr exponierte Priestersitze sind nur ein Problem – und einer fast immer praktizierten Form des Gottesdienstes, der Eucharistie nämlich, schreiben in den Gottesdienst ein Gefälle ein, das nach wie vor der Erfahrung innerkirchlicher Verhältnisse der Macht entspricht. Wie werden beispielsweise die Rollenträger im Gottesdienst um den Altar versammelt? Wie sind überhaupt „Laien“ in den Gottesdienst und seinen Ablauf einbezogen? Bleibt es bei einem fortwährenden Gegenüber von Gemeinde und Priester oder gar Priestern? Verstärken Ministrantinnen und Ministranten, die sich zwischen Gemeinde und Altar stellen, den Eindruck der Trennung im Raum? Wird beim Kommunionempfang die Erfahrung von Gemeinschaft gestärkt? Erlebt sich hier die Gemeinde als diejenige, die feiert, oder tritt sie nur hinzu? Es gibt viele Möglichkeiten, Liturgie als Gemeindeliturgie zur Erfahrung zu bringen – oder eben auch nicht. Es wäre schon viel geholfen, wenn zumindest fallweise in der Liturgie die Einheit der Gemeinde im Kirchenraum sichtbar würde. Es wäre ein Zeichen, dass alle Gläubigen diese Liturgie tragen. Ein anderes Selbstverständnis von Kirche und eine andere Ekklesiologie würden so zur Erfahrung gebracht. Die Performance der Liturgie spielt für die Identität wie Wahrnehmung der Kirche eine Rolle, die nicht unterschätzt werden darf.

Die katholische Kirche hat im vergangenen Jahrhundert vieles, was als unabänderlich galt, reformieren und verändern können.

Ein zweites Problem ist das Verbot der sog. „Laienpredigt“, also die Reservierung der Homilie in der Messfeier für Priester und Diakon. Schon der Begriff ist nicht akzeptabel, spielt doch immer das Laienhafte hinein und bleibt das gemeinsame Priestertum außen vor. Die Praxis in den deutschsprachigen Bistümern ist sehr unterschiedlich. Was im einen Bistum rigoros unterbunden wird, ist im anderen unter der Hand üblich und wird im nächsten offen toleriert, vielleicht sogar gefördert. Die kirchenrechtlichen Regelungen sind eindeutig, aber offensichtlich doch nicht in Stein gemeißelt. Die katholische Kirche hat im vergangenen Jahrhundert vieles, was als unabänderlich galt, reformieren und verändern können. Warum nicht hier? Wenn das Aufeinanderhören gerade auch in Glaubensfragen in der Kirche überzeugend gelebt werden soll, müssen mehr Gläubige – Männer und Frauen – als Getaufte das Recht bekommen, „Gottes Wort zuzusprechen“ und „voreinander seine Zeugen zu sein“. Wenn man von der priesterlichen Würde aller Getauften spricht – eine immens folgenreiche theologische Aussage – und ernstnimmt, dass diese in der Taufe zugesprochen wird, muss das umfassend realisiert werden. Eine Konsequenz daraus müsste die Predigttätigkeit von dazu kompetenten Männern und Frauen sein. So käme mehr Vielfalt in die Verkündigung, könnte Schriftauslegung aus unterschiedlichen Lebensperspektiven gelingen, würde sichtbar, was an Begabungen für die Verkündigung in der Kirche lebendig ist.

Es müsste seitens des verantwortlichen Klerus „Macht“ abgegeben werden. Und es müssten neue Zuständigkeiten für die Leitung der Gottesdienste akzeptiert werden.

Die Vielfalt der unterschiedlichen Gottesdienstformen ist ein dritter Aspekt, wenn es um Macht und Liturgie geht. Die Form des Gottesdienstes, die für Katholikinnen und Katholiken das Normale darstellt, ist die Eucharistie. Die Leitung obliegt dem ordinierten Priester. Dass andere Formen der Liturgie – die vielfältigen Wortgottesdienste – gerade heute ihren Platz im Leben der Kirche haben müssten, wird oft beschworen, doch es entspricht kaum der Realität. Dabei könnten solche Gottesdienste neue liturgische Leitungsformen und Möglichkeiten für eine partizipative Kirche einbringen. Vor allem wären Versammlungen zum Gebet überall dort möglich, wo Gläubige sind – sonntags wie wochentags. Die großartige Initiative des Bonner Mittagsgebets – mitten in der Großstadt gefeiert, so organisiert, dass es auch für Ehrenamtliche zeitlich zu bewältigen ist, mit schmalen Leitungsstrukturen, aber klarem Ausdruck von gemeinschaftlicher Feier – zeigt, was möglich ist.2 Dafür müsste aber denen, die dazu die Kompetenz mitbringen, Raum und ein Vertrauensvorschuss gegeben werden. Es müsste seitens des verantwortlichen Klerus „Macht“ abgegeben werden. Es müsste zudem eingeräumt werden, dass solche Liturgien örtlich und situativ variieren können. Und es müssten neue Zuständigkeiten für die Leitung der Gottesdienste akzeptiert werden. (Die rechtlichen Möglichkeiten bestehen mancherorts längst.). Dann ginge es nicht mehr um „Ermächtigung“, sondern um Kompetenz von Getauften, die abgerufen wird. Dass es das alles irgendwo gibt – keine Frage. Aber es ist nicht so stark präsent, dass es wirklich das Bild von Kirche nachhaltig prägt. Und das ist zum Schaden der Glaubensgemeinschaft.

Es wird keinen Bereich kirchlichen Lebens geben, der ohne Macht gestaltet wird. Das gilt auch für die Liturgie.

Bis zum 1. November 2019 hätte man sich übrigens in der St Thomas Aquinas Catholic Church, Saint Cloud, FL, USA, um den “Job” eines Director of Liturgy bewerben können. Die Beschreibung der Stelle klingt so: Er oder sie „ facilitates the music for all liturgical celebrations, educates the parish in areas of music and liturgy according to the vision of the Second Vatican Council, and assumes administrative responsibilities relevant to the position.”3 Es gibt zahllose solcher Ausschreibungen, die man rasch im Internet findet. Der Clou: Es sind Beispiele, die zeigen, wie sich innerhalb der Kirche Zuständigkeit und Verantwortung für den Gottesdienst neu organisieren lassen. Ein/e Nichtordinierte/r mit entsprechender Ausbildung übernimmt weitgehende Verantwortung für einen Kernbereich des kirchlichen Lebens. Priester und Nichtpriester werden nicht gegeneinander ausgespielt. Die Komplementarität der unterschiedlichen Begabungen jenseits einer Hierarchie wird vielmehr genutzt. Liturgie wird zur Sache vieler, die dafür die notwendige Kompetenz mitbringen – und dies mit hoher Verbindlichkeit. In dieser Richtung sollte auf Zukunft hin gesucht werden.

Liturgie wird zur Sache vieler, die dafür die notwendige Kompetenz mitbringen – und dies mit hoher Verbindlichkeit.

Es wird keinen Bereich kirchlichen Lebens geben, der ohne Macht gestaltet wird. Das gilt auch für die Liturgie. Aber Macht kann man anders verteilen, man kann sie transparent gestalten, man kann mehr an Beteiligung ermöglichen. Rainer Bucher hat die Liturgie als den „zentrale[n] Ort der Integration des Volkes Gottes vor seinem Angesicht“ bezeichnet.4 Dann allerdings sind wirklich andere Formen und Intensitäten der Verantwortung und Partizipation gefordert, als sie bislang realisiert sind. Die Macht, die für die Leitung wie die Gestaltung der Liturgie eine Rolle spielt, muss dann anders ge- und verteilt werden – um des Gottesdienstes und der ihn feiernden Menschen willen.

  1. Wort-Gottes-Feier. Werkbuch für die Sonn- und Festtage. Herausgegeben von den Liturgischen Instituten Deutschlands und Österreichs im Auftrag der Deutschen Bischofskonferenz, der Österreichischen Bischofskonferenz und des Erzbischofs von Luxemburg. Trier 2004, S. 11.
  2. Dazu Achim Budde, Gemeinsame Tagzeiten. Motivation – Organisation – Gestaltung. Stuttgart 2013 (Praktische Theologie heute 96).
  3. https://www.indeed.com/q-Director-of-Liturgy-jobs.html?vjk=f3b76a3624228f80 [12.10.2019],
  4. Rainer Bucher, … wenn nichts bleibt, wie es war. Zur prekären Zukunft der katholischen Kirche. Würzburg 2012, 196.

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