Auf die Institution darf nichts kommen – die Arroganz der Macht.
1. Arroganz der Macht, oder: Anmaßende Ansprüche an die Anderen
Das Wort „arrogant“ wird in der Regel mit „anmaßend“ übersetzt. Sich etwas anzumaßen bedeutet, Ansprüche zu stellen, die man gar nicht hat. Wer es schon einmal mit anmaßenden Menschen zu tun hatte, wird schnell feststellen, dass die Anmaßung auf einem falschen Selbstbild beruht. Anmaßende Menschen meinen, die Ansprüche tatsächlich zu haben, die sie einfordern. Sie finden ihre Anmaßungen nicht anmaßend, sondern angemessen. Sie verstehen gar nicht, wenn man ihren Anspruch bloß als Wunsch versteht und sich herausnimmt, ihn eventuell auch nicht zu erfüllen. Das führt zu Kränkung und entsprechend heftigen Reaktionen.
Macht verbindet sich auf eine komplexe Weise mit Anmaßung. Es gibt nicht-angemaßte Macht. Inhaber von Machtpositionen maßen sich aber gerne Ansprüche an, weil sie mächtig sind. Macht legitimiert dann Anmaßung – in den Augen der Mächtigen. Sie werden vermutlich nicht „Anmaßung“ nennen, was sie beanspruchen, sondern es für einen gerechten Anspruch halten. Das erste Buch der Könige (1 Kön 21,4ff) schildert einen besonders krassen Fall dieser Art: Der König Ahab will den Weinberg seines Nachbarn Nabot haben. Doch der geht auf das Kaufangebot des Königs nicht ein und will das Erbstück für sich behalten. Darauf kehrt Ahab „missmutig und verdrossen“ nach Hause zurück. Vermutlich empfindet er Nabots Nein als anmaßend. Das ist natürlich genau die Projektion aus der Machtposition heraus: Die Arroganz der Macht besteht darin, wider besseres Wissen einen Anspruch auf den Weinberg des Nachbarn zu stellen, so lange, bis man selbst dran glaubt. Sich diesem Anspruch zu widersetzen wird dann als anmaßend erlebt. Ahab ist also gekränkt und legt sich ins Bett, „wandte das Gesicht zu Wand und wollte nicht essen.“ Isebel schmiedet daraufhin einen Komplott gegen Nabot, er wird ermordet, der Weinberg fällt dem Königshaus zu, der König wird wieder gesund. Alle haben das Gefühl, dass der anmaßende Nabot seine Strafe zu Recht erhalten hat. Darin besteht die weitere Anmaßung. Der Prophet wird sie konfrontieren: „Durch einen Mord bist du Erbe geworden.“
Sich etwas anzumaßen bedeutet, Ansprüche zu stellen, die man gar nicht hat
Institutionen verfügen über Macht und verleihen Macht. Die Institution Schule verleiht dem Lehrer Macht über Schüler. Die Institution Kirche verleiht dem Priester Vollmachten. Institutionen verfügen über Geld und Gestaltungsmacht, die sie an ihre Agenten übertragen. Die Macht der Institution strahlt auf ihre Repräsentanten und Mitglieder ab. Daraus können Anmaßungen entstehen, die sich in der Zugehörigkeit zu der Institution begründen. Wenn eine Schule einen guten Ruf hat – was immer dieser inhaltlich bedeuten mag – kann genau dies die Basis für ein anmaßendes Selbstbild bei den Lernenden und Lehrenden werden. Der gute Ruf ist dann nicht mehr Nebenprodukt einer guten Leistung der Schule, sondern als Produkt selbst angezielt. Das Image wird ein entscheidender Bestandteil der Selbstkonzeption der Institution und vorrangiger Bestandteil des Selbstbildes ihrer Zugehörigen. Daraus können anmaßende Ansprüche entstehen – nach innen wie nach außen. Doch Anmaßungen sind Selbsttäuschungen.
Arroganz der Macht, Arroganz der Institution ist primär ein Wahrnehmungsproblem, und somit ein Thema der „Unterscheidung der Geister“. Die Arroganz der Macht geht einer Versuchung unter dem „Schein des Gutes“ auf den Leim, wie die Geistlichen Übungen es formulieren. Der Demütige ist auf nichts so stolz wie auf seine Demut, und gerade deswegen ist er nicht demütig. Die Institution spricht eine Sprache des Dienstes, doch in Wahrheit herrscht sie, stellt anmaßende Ansprüche an die Anderen, agiert subtil über Druck und ist in tiefem Ärger über die Unbotmäßigkeit derjenigen gefangen, denen sie vermeintlich dient. Die Aufdeckung des Missbrauchs von Macht in den eigenen Reihen ist der Augenblick, an dem sich die „übertünchten Gräber“ öffnen: „Ihr seid wie Gräber, die außen weiß angestrichen sind und schön aussehen. Innen aber sind sie voll Knochen, Schmutz und Verwesung.“ (Mt 23,27) Wenn das sichtbar wird, kann die Arbeit an der Selbst- und Fremdwahrnehmung, an der Unterscheidung der Geister neu beginnen.
Die Arroganz der Macht besteht darin, wider besseres Wissen einen Anspruch auf den Weinberg des Nachbarn zu stellen, so lange, bis man selbst dran glaubt
2. Das falsche Opfergefühl, oder: Der angemaßte Opferstatus
Am Tag, an dem die Berliner Morgenpost meinen Brief vom 20.1.2010 veröffentlichte, drang der Schrei aus der Institution an mein Ohr: „Was tut P. Mertes uns an!“ Ich zitiere diesen Satz nicht, um irgendjemanden bloßzustellen. Der Schmerz, der sich in dem Schrei Luft macht, ist nachvollziehbar. Für die Schülerinnen und Schüler des Canisius-Kollegs in Berlin war es ein riesiger Schmerz, als ihre Schule plötzlich das Stigma der „Schule des Grauens“ angeheftet bekam, wie eine Berliner Boulevard-Zeitung tags darauf titelte. Was für eine Erfahrung für Kinder und Jugendliche, wenn sie auf dem Weg in ihre Schule an den Zeitungskiosken solche Schlagzeilen über „ihre“ Schule lesen müssen! Vergleichbares galt für die Lehrenden am Canisius-Kolleg. Zu hören, dass ein geliebter, geachteter, inzwischen verstorbener Schulleiter, der zum Vorbild für viele berufliche Werdegänge und auch für die Identifikation mit einer Jesuitenschule wurde, seinerzeit von den Missbräuchen wusste und nicht angemessen reagierte, schmerzt in einem Kollegium sehr. Eine Ikone bekommt einen Riss. Wenn schließlich Priester seit dem Januar 2010 in Deutschland erleben, dass unbekannten Leute vor ihnen auf der Straße ausspucken, bloß weil sie Priester sind, dann reißt das weitere Wunden auf.
Durch die Aufklärung von Missbrauch – von Missbrauchstat und von Schweigen (in) der Institution – gerät das Selbstbild ins Wanken
Der Schmerz ist nachvollziehbar. Aufklärung von Missbrauch schmerzt. Durch die Aufklärung von Missbrauch – von Missbrauchstat und von Schweigen (in) der Institution – gerät das Selbstbild ins Wanken, der Stolz auf die Reputation, die mit der Zugehörigkeit zur Institution bisher gegeben war; die Identifikation mit Vorbildern, die bis zur Aufdeckung des Versagens zum sicheren, unhinterfragbaren Bestand des eigenen Selbstverständnisses gehörte. Und dann hängen sich noch die Geier dran – selbsternannte Aufklärer, die sich am Schmerz der Institution weiden wie die Geier am Aas (vgl. Lk 17,37); Trittbrettfahrer, die den Vorgang zum Anlass nehmen, ihren alten Ärger an der Institution nun loszuwerden (unvergessen für mich: Ein Mann, der sich in die Pressekonferenz am 1.2.2010 einschleicht und die Gelegenheit nutzt, um sich über einen angeblichen „Missstand“ am Canisius-Kindergarten in Charlottenburg zu beschweren – statt zum Thema „Missbrauch“ am Canisius-Kolleg im Tiergarten zu sprechen); Besserwisser, die einem die Welt erklären, die Fehler aufzählen, die man bisher gemacht hat, und ungebetenen Rat erteilen. Da ist schnell die Schmerzgrenze erreicht und es kommt zum Aufschrei. Die erste Abwehrreaktion ist emotional logisch.
Aber dann kommt der zweite Schritt, der Schritt zurück in die Distanz zur spontanen Emotion: Nehme ich den Schmerz an und höre hin; lasse ich zu, dass der Lack einen Kratzer hat, oder bleibe ich in der Haltung der Abwehr? Die Frage klingt einfacher als sie konkret zu beantworten ist. Der Schmerz verwirrt nämlich und führt zu der Frage, wer denn in dem ganzen Vorgang eigentlich die Opfer sind. Schüler und Schülerinnen, die mit dem viele Jahre zurückliegenden Missbrauch in der Institution nichts zu tun haben, fürchten die Stigmatisierung ihrer Institution, die sie heute ganz anders erleben als die Missbrauchsopfer vergangener Jahrzehnte. Darin sind sie ja tatsächlich auch irgendwie Opfer, denn die Stigmatisierung trifft sie ja mit. Lehrerinnen, Lehrer, Erzieher und Priester schmerzt die Generalverdächtigung als potentielle Täter, die über sie hereinbricht als dunkler, verdunkelnder Schatten. Die Generalverdächtigung des Priester- oder Lehrberufs, die Abrechnung von Trittbrettfahrern mit der Schule, die Stigmatisierung der Institution, das alles kann ja ein einleuchtender Grund dafür sein, sich selbst für ein Opfer zu halten.
Doch die Selbsteinschätzung der Institution als Opfer, das Opfergefühl (in) der Institution macht blind für die Opfer des Missbrauchs, taub für ihre Geschichten
Doch die Selbsteinschätzung der Institution als Opfer, das Opfergefühl (in) der Institution macht blind für die Opfer des Missbrauchs, taub für ihre Geschichten. Deswegen ist es im geistlichen Sinne des Wortes „falsch“ – eine Versuchung. Es gibt eine Reihenfolge, die zu beachten ist, wenn der Prozess der Aufklärung gelingen soll: Zuerst ist das Anhören der Missbrauchsopfer dran. Um das Sprechen der Opfer an sich heranzulassen, bedarf es einer Einordnung des eigenen Opfergefühls: Die böse Wahrheit tut zwar weh, aber zunächst geht es nicht um die Institution. Sie ist nicht in der Opferrolle, wenn sie den Missbrauchsopfern begegnet. Selbst da, wo bei der einen oder anderen Einzelperson, die zu der Institution gehört, ein rational nachvollziehbares Opfergefühl besteht, hilft es nicht weiter, sich der Öffentlichkeit und den Missbrauchsopfern gleichfalls als Opfer zu präsentieren. Sonst gibt es nur Opfer – und in der Konsequenz niemanden, der Verantwortung für die Institution übernimmt, vor die Missbrauchsopfer tritt und ihnen mitteilt, dass er nicht Opfer ist, sondern für die Institution steht, die nun die bittere Wahrheit anhört als korrekter Adressat der Berichte und Forderungen der Missbrauchsopfer. Im Blick auf die Missbrauchsopfer ist die Beanspruchung des Opferstatus seitens der Institution anmaßend.
Natürlich hat die Unterscheidung zwischen Missbrauchsopfer und Institution Grenzen. Es gibt nicht nur die „Kirche der Missbrauchstäter“, sondern auch die „Kirche der Missbrauchsopfer“. Opfer und Institution stehen einander nicht bloß gegenüber; in vielen Fällen verbindet sie eine gemeinsame Zugehörigkeit bis in die Gegenwart hinein. Doch für die Aufklärung von Missbrauch und für den anschließenden Prozess bedarf es eines Gegenübers auch für die, die sich auf einer anderen Ebene zur Institution dazurechnen. Ohne das Gegenüber von Opfer und Institution kommt es nicht zum Hören, nicht zum Sprechen und letztlich auch nicht zu einem Prozess der Aufklärung und eventuellen Versöhnung. Die Verweigerung des „Gegenübers“ zu den Opfern ist ein Verweigern des Zuhörens und damit eine Fortsetzung des Machtmissbrauchs: Die Institution nutzt ihre Macht, um sich vor dem Sprechen der Opfer zu schützen. Sie maßt sich an, selbst Opfer zu sein. Genau darin wird sie als arrogant, als anmaßend erlebt – und ist es auch.
Wenn ich dies heute aufschreibe, denke ich zurückblickend mit besonderer Dankbarkeit an die Schülerinnen und Schüler des Canisius-Kollegs, aber auch der anderen Jesuiten-Kollegien. Sie haben die Stigmatisierung ihrer Schule akzeptiert als notwendigen Preis, den sie mitzahlen mussten, um den Prozess der Aufklärung und der Kommunikation mit den Missbrauchsopfern in Gang zu bringen. Eine unglaubliche psychische Leistung! Ich nehme sie als ein positives Beispiel, als Vorbild für den konstruktiven Umgang einer Institution mit der Aufdeckung von Missbrauch. Die Jugendlichen stellten bekannten sich zu ihrer Zugehörigkeit zur Schule, als es zu ungerechten Verallgemeinerungen kam, die ihnen mit Häme und Hass entgegengehalten wurden. Umso jämmerlicher wäre es gewesen und ist es, wenn sich die offiziellen Repräsentanten der Schule mit Selbstverteidigung und Jammern über die eigenen Schmerzen befasst hätte. Das gilt mutatis mutandis auch für das Verhältnis von Katholiken und ihren Bischöfen, Pfarrern und Kaplänen. Es ist gerade auch für die „eigenen Leute“ unglaublich peinlich und verletzend, wenn ihre offiziellen Repräsentanten den Preis nicht zu zahlen bereit sind, den die Aufklärung von Missbrauch eben kostet, sondern stattdessen jammern, Selbstmitleid im Herzen wälzen und anklagende Predigten halten. Die Arroganz der Macht wird da nicht nur nach außen, sondern auch nach innen hin deutlich.
Die Missbrauchstäter haben der Institution geschadet, also ist die Institution auch Opfer – so der Trugschluss
Noch ein weiterer Aspekt des „falschen Opfergefühls“ sei hier erwähnt. Opfer haben mit Hassgefühlen zu kämpfen. Das gilt auch für diejenigen, die mit dem „falschen Opfergefühl“ ringen. Wer in der Institution nicht aus dem falschen Opfergefühl herauskommt – „falsch“ ja auch in dem Sinne, dass es zum Zeitpunkt des Aufbrechens der schlimmen Wahrheit eben nicht „dran“ ist –, rutscht leicht aus dem Jammern über die eigenen Schmerzen in Hassgefühle und in Hass-Sprache hinüber. Das wurde ebenfalls bereits am Tag des Erscheinens des Morgenpost-Artikels (28.1.2010) deutlich und ist bis heute so geblieben: Eine Hasssprache ist seit Januar 2010 in der Kirche hochgekommen, die sich anonym hemmungslos oder hinter geschickten Formulierungen versteckt äußert, um alle niederzuschreien, die auf die hässliche Seite der Institution hinweisen. Diese Hasssprache verschont am Ende nicht einmal die Missbrauchsopfer.
Hassgefühle sind Ausdruck von Ohnmacht. Insofern könnte man solche Äußerungen aus der Institution mehr „Arroganz der Ohnmacht“ als „Arroganz der Macht“ nennen. Und doch gibt es einen Unterschied: Es geht um Hassgefühle, die aus dem Schmerz über die Aufklärung entstehen – also um Hassgefühle in der Institution, die sich mit der Institution verbünden und dadurch Macht bekommen, öffentlich handelnde Macht. Das hat viele Opfer immer wieder zum Schweigen gebracht, dieser blanke Hass innerhalb der Institution, diese nackte Wut gegen das Aussprechen der Wahrheit – in Familien, Gemeinden, Schulen und Heimen, und auch in der Kirche. Ohnmächtige Wut, die sich mit der Institution verbindet, übt Gewalt aus.
Noch einen weiteren Trick wendet der „böse Feind der menschlichen Seele“, wie Ignatius in der Sprache der Unterscheidung der Geister formuliert, an, um der Institution das falsche Opfergefühl einzureden. Der Trick lautet: Sich selbst als Opfer der Täter sehen. Die Missbrauchstäter haben der Institution geschadet, also ist die Institution auch Opfer – so der Trugschluss. Die Einflüsterung ist „listig“ (vgl. Gen 3,1), klingt einleuchtend und lädt zum bequemen Weg ein: Sich auf die Seite der Opfer stellen und mit ihnen gegen die Täter vorgehen. Hier entsteht dann die Hasssprache gegen die Täter: „ausmerzen, ausrotten, ausreißen“, oder ein bisschen zurückgenommen: Die Metapher vom „reinigen“.
Doch das alles ist anmaßend. Die Institution übersieht ihren eigenen Anteil am Missbrauch: Das Schweigen, das Nicht-Hören, das Vertuschen um des guten Rufs willen, das Versetzen. Sie übersieht den systemischen Aspekt des Missbrauchs: Machtorientierung, hermetischer Korps-Geist, ideologische Fixierungen in der Sexualpädagogik, egal ob reformpädagogisch oder katholisch gefärbt. Die Institution maßt sich die Rolle des Richters gegenüber den Tätern an und agiert zugleich gegenüber den Missbrauchsopfern übergriffig, in dem sie sich eine Nähe zu ihnen erlaubt, die ihr nicht zusteht. Schließlich verweigert sie das Gegenüber zu den Opfern, dass sie diesen schuldig ist. Verbündete können Missbrauchsopfer und Institution nur am Ende eines Prozesses werden, nicht am Anfang.
Die Institution übersieht ihren eigenen Anteil am Missbrauch: Das Schweigen, das Nicht-Hören, das Vertuschen um des guten Rufs willen, das Versetzen
3. Image-Denken, oder: Die Anmaßung der Selbstbezogenheit
Schon in den ersten Tagen nach dem 28.1.2010 kam mir von zwei verschiedenen Seiten her die Image-Perspektive auf die Aufklärung der Missbräuche entgegen – als Lob und als Vorwurf. Das Lob lautete: „Das habt ihr besonders geschickt gemacht. Keine Imageberatungsfirma hätte euch besser beraten können. Ihr habt genau das gemacht, was notwendig ist, um das Image, die Glaubwürdigkeit der Institution zu retten.“ Der Vorwurf lautet spiegelverkehrt: „Ihr seid gar nicht wirklich an der Wahrheit und an den Opfern interessiert, sondern ihr handelt nur so, weil das eine besonders geschickte Image-Strategie ist. Es geht euch nicht um Aufklärung, sondern ihr verteidigt nur besonders geschickt die Institution.“
Image-Denken sperrt das denkende Ich ein. Wer im Gefängnis des Image-Denkens sitzt, ordnet alles in Kategorien des Image-Denkens ein und findet dafür auch immer wieder Bestätigung. Das funktioniert so ähnlich wie Verschwörungstheorien – die haben ja auch immer recht. Manch einer, der die pro-aktive Aufklärung in ersten Monaten heftig kritisierte („das hätte man diskreter angehen können, das hätte man professioneller handhaben müssen“), schwenkte irgendwann um und sagte: „Ihr habt das Richtige gemacht. Wenn ihr das nicht gemacht hättet, wäre es auf andere Weise herausgekommen, und das hätte dem Image noch mehr geschadet.“ Im anderen Fall gipfelte die Unterstellung, bloß eine besonders geschickte PR-Strategie zu fahren, in einem Vorwurf: „Ihr habt so lange vertuscht, bis es aus Gründen des Institutionsschutzes nicht mehr zu verantworten war. Ihr habt nur Euren Kopf im letzten Augenblick aus der Schlinge gezogen.“
Glaubwürdigkeit ist kein Image-Faktor, oder genauer: Glaubwürdigkeit kann nur wiedergewonnenen werden, wenn das Image-Denken in der Begegnung mit den Opfern vollkommen verlassen wird
Offensichtlich legt sich die Image-Kategorie wie ein Schleier auf alle Vorgänge und verändert ihr Aussehen. Alles, was geschieht, kann unter der Perspektive des Image-Interesses gedeutet werden. Nur eines scheint dem Image-Denken nicht vorstellbar zu sein: Dass es ein Handeln gibt, dass nicht von Image-Aspekten her motiviert ist. Da alles Handeln, auch alles institutionelle Handeln, immer auch eine Rückwirkung auf das Image einer Person oder Institution hat, kann allem Handeln immer unterstellt werden, dass es von der Image-Kalkulation her motiviert ist. Der Vorwurf ist nicht widerlegbar. Das Lob ist vergiftet. Die Arroganz des Image-Denkens zeigt sich genau darin: Es hört nicht zu, weil es sich anmaßt, immer schon verstanden zu haben, was die eigentlichen Motive sind, die dem Schritt in die Aufklärung zu Grunde lagen.
Eine weitere Anmaßung steckt in der Image-Perspektive: Sie verharrt in der Beobachter-Position. Das Problem ist aber, dass sich die Institution im Verhältnis zu den Opfern nicht in dieser Position befindet. Durch das Verharren im Image-Denken verweigert sie sich der Begegnung in der Bereitschaft, vorbehaltlos zuzuhören. Deswegen gehen auch die öffentlich geäußerten Sorgen um den Verlust der eigenen Glaubwürdigkeit, wie sie seit Januar 2010 von Institutionsseite her zu hören sind, haarscharf am Problem vorbei. Glaubwürdigkeit ist kein Image-Faktor, oder genauer: Glaubwürdigkeit kann nur wiedergewonnenen werden, wenn das Image-Denken in der Begegnung mit den Opfern vollkommen verlassen wird. Und wenn man das Image-Denken nur deswegen zurückstellt, um Glaubwürdigkeit zu gewinnen, hat man das Image-Denken noch nicht verlassen. Viele Debatten der letzten Monate, gerade auch die innerkirchlichen Debatten, kranken an diesem Problem. Mit ihnen reitet sich die Institution tiefer in die Krise hinein.
Image-Denken neigt dazu, sich mit Dreistigkeit in den Vordergrund zu schieben. Es hat kein kritisches Verhältnis zu sich selbst. Fragen des „Reputationsmanagements“ verstehen sich wie von selbst als Schlüsselthemen der Institutionskrisen, ob schulisch, kirchlich oder auch gesellschaftlich. So suchen die Institutionen für ihre strategischen Entscheidungen in Krisen Halt bei PR-Beratungsfirmen und debattieren auf „Vertrauensgipfeln“ taktische Fragen unter dem Vorzeichen des Image-Denkens. Der vorausgesetzte Irrtum: Vertrauen werde wiederhergestellt durch Verbesserung des Images.
Narzissten sind bekanntlich Menschen, die kein Gespür dafür haben, was sie anderen antun, die aber selbst sehr empfindlich sind, wenn man ihnen ein wenig auf die Füße tritt. Sie sehen ihre Täteranteile ungern und fühlen sich im Fall der Fälle lieber als Opfer. Die narzisstische Perspektive gehört zu den Konstanten der Täterprofile im Falle von Missbrauch – bis dahin, dass die Täter selbst denken, sie seien „Opfer“ der Opfer; Opfer von deren Verführungskünsten, oder Opfer des nachträglichen Verrates ihrer einst einvernehmlichen Zuwendung und Liebe.
Das Image-Denken ist das institutionelle Pendant zum individuellen Narzissmus
Das Image-Denken ist das institutionelle Pendant zum individuellen Narzissmus. Indem sich die Institution in der Krise des Missbrauchs mit dem Image-Fragen befasst, befasst sie sich mit sich selbst und bekommt die Opfer nicht in den Blick – oder sie fallen nach einer kurzen Phase des Schreckens wieder aus der Wahrnehmung heraus. Im Übrigen bestand und besteht der „Schrecken“ ja vornehmlich im Entsetzen über den eigenen Imageverlust, nicht im Schrecken über das Leiden der Opfer. Image-Denken ist tendenziell Empathie-unfähig.
Was ist denn das Ziel des Prozesses zwischen Opfern und Institution nach der Aufdeckung des Missbrauchs? Es ist zu wenig, wenn sich die Institution beschränkt auf Begriffe wie „Reinigung“, „Läuterung“ oder ähnliches. Bei diesen Begriffen ist wieder nur die Institution im Blick, und damit verengt sich der Blick nazistisch. Die Institution maßt sich an, sich am eigenen Schopfe aus der Krise herausziehen zu können. Die „Umkehr“, die ansteht, ist ein Wechsel von der nazistischen Imageperspektive auf die Opferperspektive. Bei Begriffen wie „Reinigung“, „Läuterung“ hingegen kommen die Opfer gar nicht vor. „Reinigung“ macht nur Sinn, wenn sie mit Blick auf die Opfer geschieht, genauer: Mit Blick darauf, was sich die Institution über sich lernen kann, wenn sie mit der Perspektive der Opfer auf sich selbst blickt.
Anmaßung ist ein anderes Wort für Hochmut. Demut lässt sich nicht machen. Der Schmerz allerdings kann demütig machen; der Rest ist Abschied vom Primat des Image-Denkens. Das wäre dann eine echte Befreiung für alle Beteiligten von der Arroganz der Macht.
Anmaßung ist ein anderes Wort für Hochmut