022019

Foto: Rebecca Prest/Unsplash

Konzept

Hildegund Keul

Macht ausüben, aber nicht missbrauchen.

Verletzlich sein – der Gewalt widerstehen – human handeln

Der Philosoph Friedrich Nietzsche war fest davon überzeugt, dass die ohnmächtigsten Feinde die bösesten Feinde seien.1 Ein Blick in die wutverzerrten Gesichter von Menschen, die sich bei rechtspopulistischen Demonstrationen lautstark und hasserfüllt zu Wort melden, mag diese Überzeugung bestätigen. Auch der furchtbare Anschlag vor drei Wochen in Halle hat vor Augen geführt, welch ungeheure Gewaltsamkeit daraus entstehen kann, wenn Menschen sich im Leben ohnmächtig fühlen. Der Attentäter hat noch während des Anschlags per livestream gerufen: „Einmal Verlierer, immer Ver­lierer.“ Loser zu sein, war offensichtlich sein Lebensgefühl. Der Hass, der aus solcher Ohnmacht wächst, nimmt gesellschaftlich spürbar zu, und das ist besorgniserregend.

Aus Verwundbarkeit wächst Vulneranz, also eine Verletzungsbereitschaft, die zu den Waffen ruft

Das Attentat in Halle zeigt ein leider sehr häufiges Phänomen: aus Verwundbarkeit wächst Vulneranz, also eine Verletzungsbereitschaft, die zu den Waffen ruft. Man spürt die eigene Vulnerabilität und denkt, dass Angriff die beste Verteidigung sei. Man fühlt sich ohnmächtig und setzt darauf, dass Waffen unübersehbare Stärke verleihen.

Auch Führungskräfte der katholischen Kirche haben in den letzten Jahrzehnten immer wieder zu dieser Strategie gegriffen. Sie verübten keine Terroranschläge. Aber auch in Missbrauch und Vertuschung war eine Vulneranz am Werk, die einem die Sprache verschlägt. Das haben die MHG-Studie sowie der Pennsylvania-Report2 besonders nachdrücklich gezeigt. Das Thema, wie man Macht gebrauchen kann, ohne sie zu missbrauchen, ist daher hoch aktuell und sowohl in Gesellschaft als auch in Kirche gleicher­maßen prekär ist.

1. Vulnerabilität und Vulneranz – warum Machtausübung notwendig, aber immer auch prekär ist3

In Institutionen, die sexuellen Missbrauch tolerieren, indem sie ihn vertuschen, übt die eigene Verwundbarkeit eine unsägliche Macht aus. Das hat die katholische Kirche gezeigt. Zweifellos gab es bei Schul-, Internats- oder Ordensleitungen, Bischöfen und Generalvikaren auch Achtlosigkeit, Unwissen, Überheblichkeit.4 Aber ein wichtiger Motivator lag darin, die katho­lische Kirche, also die eigene Institution, vor Schaden zu bewahren. Man fürchtete die Verwun­dung, die droht, wenn die Kirche in der Öffentlichkeit als unheilbringende Institution dasteht. Der Wunsch, die eigene Institu­tion zu schützen, birgt ein Gewaltpotential: man verwundet Andere, damit das Eigene nicht verwundet wird. Man agiert im Rüstungsmodus. Dieser bringt Schutzmecha­nismen hervor, die die Opfer ausgrenzen, unter Verdacht stellen und erneut verletzen. Um das öffentliche Bekanntwerden der Gewalt zu verhindern, wird den Betroffenen erneut Gewalt angetan. Die Verwundbarkeit der eigenen Institution wirkt hier als gewalt­potenzierende Macht, die sich gegen die Opfer wendet. Auf diesem Weg wird Täterschutz wichtiger als Opferschutz. Wie fürchterlich es wird, wenn die Gewalt erst einmal am Ruder ist, das hat der Anschlag in Halle gezeigt, aber auch die Vertuschung sexualisierter Gewalt.

Der Wunsch, die eigene Institu­tion zu schützen, birgt ein Gewaltpotential: man verwundet Andere, damit das Eigene nicht verwundet wird.

Zwar denkt man beim Wort „verwundbar“ wahrscheinlich zuerst daran, dass jemand zum Opfer von Gewalt werden kann. Mit Verwundbarkeit wird Schwäche, Ohn­macht, Wehrlosigkeit, Schutzbedürfnis assoziiert. Aber das ist nur die eine Seite. Wenn eine machtvolle Institution verwundbar ist oder sich auch nur verwundbar fühlt, läuft sie Gefahr, zur Täterin zu werden. Wer zuschlagen kann, demonstriert Stärke. Institu­tionen aber wollen stark sein. So wächst aus Verwundbarkeit häufig Vulneranz. In der Vertuschung hat die Vulneranz des Systems die Gewalt, die die Missbrauchstäter zuvor ausgeübt haben, potenziert. Hier zeigt sich, dass das Problem der Macht das Gewaltpotential ist, das in ihr steckt. Es kann aus einem System, das eigentlich den Frieden predigt, zu einem vulneranten System machen.

Vulnerabilität (Verwundbarkeit) und Vulneranz (Verletzungsmacht, die zu den Waffen ruft) bilden ein prekäres Spannungsfeld. Die Machtwirkungen sind hier vielfältig, sie kreuzen sich, rufen Gegenmacht herbei und bringen überraschende, oft ungewollte Ergebnisse hervor. Aus Vulnerabilität kann Vulneranz entstehen. Aber der Vulneranz kann man auch widerstehen durch Vulnerabilität. Um diese Wechselwirkungen geht es im Folgenden.

Wenn Macht so eng mit der Gewalt verbunden ist, stellt sich die Frage: Was tun mit der Macht? Soll man lieber die Finger von ihr lassen, um nicht schuldig zu werden? Wenn man so vorgehen würde, würde man einer neuen Utopie unterliegen. Das zeigt ein Blick darauf, woher das Wort „Macht“ etymologisch kommt. Es hat sich aus dem mittelhochdeutschen Verb „mügen / mögen“ entwickelt, und das bedeutet: können, dürfen, ver­mögen, wirksam sein, tun können, Kraft haben. Macht ist demnach die Möglichkeit und Fähigkeit, etwas zu tun, etwas zu machen: Handlungskompetenz.

In der Vertuschung hat die Vulneranz des Systems die Gewalt, die die Missbrauchstäter zuvor ausgeübt haben, potenziert.

Macht sollte man daher weder verteufeln noch heiligsprechen. Es gibt sie auf allen Ebenen und in allen Ereignissen menschlichen Lebens. Auch in der Kirche: in ihren Institutionen, in ihrer Liturgie, in ihrer geistlichen Begleitung, in ihrer Pastoral. Auch Familien sind ein Ort der Macht, wo die sich selbst potenzierende Gewalt ein Problem darstellt („Rosenkriege“). Aber sie kann hier auch sehr kreativ und lebens­stiftend am Werk sein. Familien dabei zu unterstützen, ihr Gewaltpotential zu reduzieren, ist eine zentrale Aufgabe der Pastoral.

2. Macht vagabundiert. Wer hat wo etwas zu sagen?

„Die Macht“ tritt in der deutschen Sprache meistens irgendwie bombastisch auf, schwerfällig und manches Mal bedrohlich. Das hat auch mit der Verwendung des Singulars zu tun: „Die Macht“. Der Singular behauptet, dass die Macht eine einzige sei und dass es folglich immer eine einzige Person geben muss, die diese Macht in Händen hält. Aber das ist falsch. Wenn Macht „können“ bedeutet, „etwas zu tun vermögen“, dann sind an ihr viele beteiligt – und niemand kann ihr ausweichen. Dabei sind Macht und Gewalt keineswegs identisch. Die Macht im Sinne von Potestas, Amtsgewalt, bedient sich mitunter der Gewalt, aber sie gründet niemals allein auf ihr, jedenfalls nicht auf Dauer. Vielmehr kann Macht sehr kreativ sein, wenn sie auf viele Schultern verteilt ist, wenn man sie miteinander teilt und wenn man sich gegenseitig kontrolliert. Macht gibt es immer nur im Plural. Deswegen schlage ich vor, die Macht auch in der Sprache zu pluralisieren und lieber von „Machtfragen“ oder „Macht­wirkungen“ zu sprechen. Das irreführende Wort „Machthaber“ sollten wir ganz aus dem Wortschatz streichen. Wer denkt, „die Macht“ in Händen zu halten, ist stattdessen selbst in ihrem Griff. Niemand hat „die Macht“ in Händen. Macht ereignet sich, sie ist immer „in actu“. Sie ist nicht statisch, sondern höchst dynamisch. Sie vagabundiert. Die Philosophin Hannah Arendt sagt: „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln.“ (Arendt 1994, 45)5

Macht ereignet sich, sie ist immer „in actu“. Sie ist nicht statisch, sondern höchst dynamisch. Sie vagabundiert.

In der deutschen Sprache gibt es die schöne Formulierung: „etwas zu sagen haben“. Das ist doppeldeutig. Es meint Potestas (Amtsbefugnisse) und Auctoritas (Sachkompe­tenz, die gebraucht wird), und beide bilden miteinander den Raum der Macht.6 Auctoritas im Sinne von Autorität: Was jemand zu sagen weiß, um bestimmte Aufgaben zu erfüllen und Probleme zu lösen. Sie ist situationsbezogen und entsteht in Beziehungen. Autorität ist man nie für sich allein, sondern immer für andere. Das kann bedeuten: eine unübersichtliche Situation treffsicher einschätzen können und ihre Handlungspotentiale erkennen; gefragt werden, weil man etwas Entscheidendes zu sagen weiß; sich durchsetzen, weil die Argumente überzeugen.

Potestas hingegen ist Amtsgewalt und umfasst die Befugnisse, die man im Blick auf Personal, Finanzen und Richtlinienkompetenz innehat. Im Idealfall sind das jene Befugnisse, die man braucht, um seine / ihre Aufgaben erfüllen und Ziele erreichen zu können. Hierbei hakt es bei Laien oft – sie haben nicht immer die Befugnisse, die sie brauchen, um ihre Arbeit gut erledigen zu können. Eine Gemeinde faktisch zu leiten, obwohl man die dazu erforderlichen Befugnisse nicht hat, führt schnell zu Schwierig­keiten, die die Arbeit blockieren und Beziehungen (zer-)stören.

Die Vertuschung sexueller Gewalt hat die Potestas missbraucht, um die Autorität der Überleben­den zum Schweigen zu bringen.

Machtfragen bewegen sich in dem Spannungsfeld, das von beiden Polen gebildet wird: „etwas zu sagen haben“ in der doppelten Bedeutung. Für Führungskräfte ist es dabei herausfordernd, dass sich Autorität oft im Widerspruch, in Kritik der Potestas gegenüber entwickelt. Was heißt das für die Person in Verantwortung?

Wie verheerend ein falscher Gebrauch der Potestas sein kann, hat sich in der katholischen Kirche bei Missbrauch und Vertuschung gezeigt. Die Vertuschung sexueller Gewalt hat die Potestas missbraucht, um die Autorität der Überleben­den zum Schweigen zu bringen. Man wollte genau das nicht hören, was die Opfer sexualisierter Gewalt zu sagen hatten. Die Vulneranz der Kirche verletzte die Opfer des Missbrauchs erneut und steigerte ihre Vulnerabilität.

Aus meiner Sicht bedeutet das für die Umsetzung der Trierer Synode: die Potestas muss sich auf allen Ebenen in den Dienst der Autorität stellen, und zwar insbesondere in den Dienst der Autorität von vulnerablen Menschen – innerhalb und außerhalb der Kirche. Der Anschlag in Halle hat darauf verwiesen, wer die vulnerablen Gruppen in unserer Gesellschaft sind. Das erste Ziel des Verbrechers waren Jüdinnen und Juden in ihrer Synagoge an ihrem höchsten Feiertag Jom Kippur. Gar zu gern hätte der Attentäter aber auch muslimische Menschen umgebracht, sein Weg in den Dönerladen war kein Zufall. Außerdem zeigt das Manifest des Attentäters – ähnlich wie bei den Attentätern von Christchurch sowie Oslo und Utoya – tiefsitzenden Frauenhass und hemmungslose Hetze gegen Feministinnen.7 In Halle galt der erste Todes­schuss einer Frau, die zufällig vorbeilief und sich über seinen Lärm beschwerte. Zu beachten ist auch, dass im Rechtsextremismus die Gewaltbereitschaft gegen homosexuell liebende Menschen dramatisch zunimmt.8

Die Potestas muss sich auf allen Ebenen in den Dienst der Autorität stellen, und zwar insbesondere in den Dienst der Autorität von vulnerablen Menschen – innerhalb und außerhalb der Kirche.

Sich an der Autorität vulnerabler Menschen orientieren, sie stärken und in ihrer Bedeutung für die eigene Pastoral erkunden, gehört zu den Kernaufgaben der neuen „Pfarreien der Zukunft“. Wo ist welche Autorität? Man kann den Menschen heute nicht mehr sagen, was sie zu tun und zu lassen haben. Aber man kann Menschen nach dem fragen, was sie zu sagen haben, und sie ggf. hierin bestärken: damit ihre Autorität Früchte trägt.

3. Verletzlichkeit riskieren, der Gewalt widerstehen

Das Verhältnis von Macht und Ohnmacht ist höchst komplex und sehr beweglich, vagabun­dierend. Vermeintliche Macht kann sich plötzlich in Ohnmacht verwandeln, und Ohn­macht kann überraschende Stärken entwickeln. Hierzu drei Beispiele.

1. Nichts hat eindrücklicher gezeigt, dass aus Ohnmacht Stärke wachsen kann, als „Die Wende“ im Herbst 1989. Damals vor dreißig Jahren schienen Schwachheit und Stärke fein säuberlich auf zwei Seiten verteilt. Auf der einen Seite agierte die Macht eines großen Staatsapparats, der über ein Spitzelsystem verfügte, die Grenzen mit Waffen­gewalt dichthielt, Dissiden­ten mit Gefängnis und Folter bedrohte, gegen Frie­densgebete seine Panzer auffahren ließ: höchster Potestas-Einsatz, höchste Vulneranz eines Systems.

Auf der anderen Seite waren hingegen zunächst nur Ohnmacht und Vulnerabilität auszumachen. Keine Waffen, keine Panzer, keine Soldaten; keine Stärke, keine Macht, keine Potestas. Aber dann kam alles ganz anders. Bei den Montagsdemonstrationen im Herbst ’89 haben so manchen nicht nur die Knie gezittert. Sie mussten ihre Angst überwinden, dass sie den Weg zum Friedensgebet vielleicht sogar mit dem Leben zahlen müssten. Ohne Waffen und mit zitternden Knien haben sie es geschafft, ein totalitäres System zu stürzen.

Was haben diese Menschen gemacht? Sie waren hoch vulnerabel einem hoch vulneranten System gegenüber. Aber nicht, indem sie sich selbst geschützt haben, sondern indem sie sich verwundbar gemacht haben, konnten sie die Übermacht stürzen. Daher ist es kein Zufall, dass einer der wichtigsten Bibeltexte in der Zeit der Friedens­gebete vom Apostel Paulus stammt. Dieser hatte eine Verletzung, einen „Stachel im Fleisch“ und wollte, dass Gott ihm diesen Stachel nimmt. Aber Gott antwortet dem Verwundeten:

„Lass dir an meiner Gnade genügen; denn meine Kraft ist in den Schwachen mächtig.“ (2 Kor 12,9)

Der Staat stand den Menschen im Rüstungsmodus gegenüber. Aber sie haben nicht geantwortet, indem sie sich ebenfalls bewaffnet hätten. Sondern sie sind in dem aufgetreten, was ich „Verletzlichkeitsmodus“ nenne. Sie haben sich genau anders herum verhalten, als man dies erwarten könnte („contre-conduit“, Gegenverhalten). Obwohl man hoch verletzlich ist, wech­selt man nicht in den Rüstungsmodus, sondern man bleibt im Modus der Verletzlichkeit. Man begegnet der Vulneranz mit Vulnerabi­lität. Und das hat die DDR zum Einsturz gebracht.

Vom Herbst ’89 kann man lernen, auf Rüstungsmodus nicht mit Rüstung, sondern im  ‘Verletzlichkeitsmodus’ zu antworten.

Vom Herbst ’89 kann man lernen, auf Rüstungsmodus nicht mit Rüstung zu antworten.

2. Ähnlich haben sich die Überlebenden von Missbrauch und Vertuschung in der Kirche verwundbar gemacht, als sie die Verbrechen zur Anzeige gebracht und öffentlich gemacht haben. Auch sie haben ihre Verwund­barkeit erhöht, denn sie wussten, dass sie erneut mit Anfeindung, Verleum­dung und Ausgrenzung zu rechnen hatten; und dass sie einem System gegenüberstanden, das viel stärker war als sie selbst. Sie verdienen allerhöchsten Respekt. Sie haben Unglaubliches geleistet: ein vulnerantes System der Vertuschung aufzubrechen.

3. Auch die Trierer Synode zeigt, wie sich Ohnmacht und Vulnerabilität in Kreativität verwandeln kann. Am Anfang stand die Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann, wie es geht. Es geht einfach nicht mehr – eine vulnerable Situation. Daraus entstand mit der Synode ein kreativer Umgang mit Macht, denn sie wird auf viele Schultern verteilt. Der französische Philosoph Michel Foucault sagte: „die Macht ist etwas, was sich von unzähligen Punkten aus und im Spiel ungleicher und beweglicher Beziehungen vollzieht.“9 Das beschreibt doch recht gut, was während der Synode passierte und was jetzt in der Umsetzung geschieht. Dies bedeutet aber für alle Beteiligten, sich verwundbar zu machen. Das gilt für Bischof und Generalvikar, die mit öffentlichen Attacken rechnen müssen. Aber auch für alle anderen, die an der Synode teilgenommen haben oder nun an ihrer Umsetzung mitwirken. Vielleicht bekommen Sie das in Ihren Gemeinden schon zu spüren, wenn sich Skepsis breitmacht, ob das alles wohl so richtig läuft. Aber nur, wenn man dieses Risiko eingeht, wenn man bereit ist, die eigene Verwundbarkeit zu riskieren, kann etwas Neues entstehen und jene andere Macht Gottes zum Zug kommen, von der das Evangelium handelt. Wir glauben an einen Gott, der sich verwundbar macht: die biblischen Gründungs­geschichten erzählen hiervon. Dann können wir auch den Mut zu einer Kirche haben, die auf jene andere Macht setzt, die aus Verwundbarkeit wächst und die gerade nicht mit Waffengewalt daherkommt.

Wir glauben an einen Gott, der sich verwundbar macht: die biblischen Gründungs­geschichten erzählen hiervon

Darin liegt ja der Kern des christlichen Glaubens:10 Gott wird geboren und kommt zur Welt als verletzliches Kind, leiblich geboren von einer Frau. Er tritt nicht in voller Kampfrüstung auf wie die Göttin Athene, die erwachsen, kraftvoll und kriegsbereit dem Kopf des Zeus entspringt – eine gewaltbereite Kopfgeburt. Jesus aber kommt ohne Rüstung und ohne Waffen. Ihn zeichnet das aus, was heute „hohe Vulnerabilität“ genannt wird. Wie jedes Neugeborene ist er äußerst verwundbar. Er ist auf die Fürsorge, Zuwendung und Unterstützung anderer Menschen angewiesen, um überhaupt ins Leben zu kommen. Ein Neugeborenes, auch das in der Krippe, würde in kürzester Zeit sterben, wenn niemand sich um es kümmern wollte. Jesus braucht den Geburtsschmerz der Mutter Maria, die Gaben der dahergelaufenen Sterndeuter, die Zuwendung der armseligen Hirtinnen und Hirten. Und Joseph, der nach katholischem Glauben nicht mal der biologische Vater ist, erweist sich als wahrlich sozialer Vater, als er mit Maria und Jesus nach Ägypten flieht – und damit dem gewalttätigen Diktator Herodes widersteht. In seiner Hingabe für ein Kind, das nicht das seine ist, ein Role Model für heutige Patchworkväter.

Herodes, die Herbergsleute, die Schriftgelehrten und Hohenpriester wollen sich selbst schützen und wollen nichts mit der Vulnerabilität des Neugeborenen zu tun haben. Aber alle Menschen, die zur Krippe kommen, riskieren ihre Vulnerabilität, um Jesus ins Leben zu helfen. Und der entscheidende Punkt: Dieses Wagnis der Verwundbarkeit macht sie nicht schwach, sondern es stärkt sie mit einer Kraft, die alles übersteigt. Als sie zur Krippe kommen, erfahren sie das Glück ihres Lebens. Die Gegenwärtigkeit dieses Augenblicks macht den Zauber des Weihnachtsfestes aus. Die Hirtinnen und Hirten wissen nicht, was sie nach der Rückkehr zu ihren Schafen, hinaus aufs freie Feld, erwartet. Die Sterndeuter wissen nicht, ob sie mit heiler Haut wieder nach Hause zurückkommen werden. Maria und Josef wissen nicht, was nach der Geburt auf sie zukommt. Aber das alles tritt zurück. In diesem Augenblick an der Krippe verlieren Sorgen und Nöte gänzlich ihren Zugriff auf das Leben. Alle sind präsent, ganz da, ganz wach und gegenwärtig. Mit dem Blick auf das Neugeborene bricht sich das Leben Bahn. So wird die Geburt an einer armseligen Krippe zu einem Ort voller Leben, der Liebe und Geborgenheit ausstrahlt.

Das Wagnis der Verwundbarkeit macht sie nicht schwach, sondern es stärkt sie mit einer Kraft, die alles übersteigt

Die Weihnachtsgeschichten erzählen davon, welche Lebensstärke aus dem Verletzlichkeits­modus entstehen kann. Natürlich hat auch eine Rüstung Vorteile. Aber im Verletzlichkeits­modus kann man eine ganz andere Lebendigkeit erfahren. In der Liebe öffnet man sich, wird kommunikativ und dabei immer auch verletzlich. Alle Schutzmauern, Waffen, Rüstungen, Abgrenzungen, die sonst den Alltag bestimmen, werden abgelegt. Denn in der Liebe kann man kein Schutzschild brauchen. Ja sogar Kleider werden unter gewissen Umständen hinderlich. In Ritterrüstung wird das nichts mit der Erotik. Man will sich ja gerade berühren und berührt werden; sich austauschen, alles voneinander wissen, sich nahe sein, sich wechselseitig durch­dringen.

Die Macht aus Verletzlichkeit ist jene Macht, die in Zuneigung, Solidarität und Liebe wirk­sam ist. Liebe lebt daraus, dass Menschen sich verletzlich machen – und sich in ihrer Verletzlichkeit verbunden wissen.

4. Ein anderer, christlicher Umgang mit Macht

Wie kann man Macht ausüben, ohne sie zu missbrauchen? Missbrauch liegt vor, wo man die Vulnerabilität von Menschen ausnutzt und Gewalt potenziert. Das ist die große Gefahr der Macht. Christlich kann und muss man anders mit Verwund­barkeit umgehen, indem man die Vulnerablen schützt und ihre Autorität fördert. Dabei lehren Missbrauch und Vertuschung, dass man aktiv und sehr entschieden der Vulneranz widerstehen muss, und zwar insbesondere der eigenen. Das ist für das Verhalten im Konfliktfall besonders wichtig: bei sich selbst die Vulneranz und bei den Anderen die Verwundbarkeit wahrnehmen.

Das ist für das Verhalten im Konfliktfall besonders wichtig: bei sich selbst die Vulneranz und bei den Anderen die Verwundbarkeit wahrnehmen

  • Das Problem ist, dass man die Vulneranz bei sich selbst meistens nicht sieht. Man will sie nicht wahrhaben, denn das Selbstbild besagt, dass man friedliebend, kommu­ni­kativ und human ist. Aus diesem Grund verdrängt man die eigene Vulneranz, redet sie klein. Hier muss man gegensteuern, indem man bei sich selbst den Blick auf die Vulneranz richtet. Man muss der eigenen Vulneranz ins Auge sehen.
  • Bei den Anderen hingegen richtet man den Blick auf die Vulnerabilität. Zwar ist die eigene Vulnerabilität im wahrsten Sinn des Wortes ‚naheliegender‘, sie drängt sich schneller auf und ist stärker zu spüren. Aber gerade deswegen richtet man die Aufmerksamkeit auf die Vulnerabilität der Anderen.

Ein solcher, anderer Umgang mit Macht könnte zum wichtigen Beitrag der Kirche im heutigen Europa werden. Unsere Gesellschaft setzt in den letzten Jahren verstärkt auf Selbstschutz. Die Grenzen Europas werden dichter geschlossen, der Ruf nach Sicherheit wird lauter. Wer sich verwundbar macht, hat schon verloren – so will es der Rechtspopulismus glauben machen. Die biblischen Erzählungen von Weihnachten bis Ostern leben von einer ganz anderen Botschaft.

Zwar kennt auch das Christentum die Macht der Waffen. Aber sein Glaube setzt auf jene andere Macht, die im Zeichen von Zuneigung und Empathie, Fürsorge und Liebe aus der Verletzlichkeit wächst. Wenn Menschen allein auf Selbstschutz setzen, entsteht eine gnaden­lose Gesellschaft. Aber Stärke und Lebendigkeit wachsen dort, wo Menschen bereit sind, sich um der Liebe willen verletzlich zu machen.

Stärke und Lebendigkeit wachsen dort, wo Menschen bereit sind, sich um der Liebe willen verletzlich zu machen

In den gesellschaftlichen Turbulenzen der Gegenwart macht es einen gravierenden Unterschied, ob eine Gesellschaft davon überzeugt ist, dass Verwundbarkeit immer schwächt und gefährdet, oder ob sie darum weiß, dass aus Verwundbarkeit Kreativität, Stärke und Resilienz wachsen können. Letzteres ist die Perspektive, die der christliche Glaube gesellschaftlich einzubringen vermag. Europa braucht Menschen, innerhalb wie außerhalb der Kirche, die für diesen Glauben einstehen.

  1. Vgl. Nietzsche, Friedrich 1999: Kritische Studienausgabe. 15 Bde. Hg. Von Colli, Giorgio; Montinari, Mazzino. München / Berlin: dtv / de Gruyter, 266f.
  2. https://en.wikipedia.org/wiki/Grand_jury_investigation_of_Catholic_Church_sexual_abuse_in_Pennsylvania
  3. In meine Überlegungen fließen Ergebnisse eines theologischen Forschungsprojekt zur Vulnerabilität an der Universität Würzburg ein, das durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gefördert wird (Projektnummer 389249041). Siehe auch www.vulnerabilitätsdiskurs.de.
  4. Vgl. hierzu das Interview mit dem ehemaligen Hamburger Erzbischof Werner Thissen vom 10.11.2019, der darin schwere Fehler und damit Verantwortung für die Vertuschung klar benennt.
  5. Hierbei hatte Hannah Arendt wohl nicht im Blick, dass auch Rechtspopulisten sich zusammenschließen und ganz in diesem Sinn Macht ausüben können.
  6. Die Unterscheidung von Auctoritas und Potestas gehört zur Ekklesiologie, die der Fundamentaltheologe Elmar Klinger in Würzburg lehrte, und setzt sich mit der Klingerschule derzeit in weiten Bereichen der Pastoral durch.
  7. Vgl. https://www.deutschlandfunk.de/rechtsextreme-attentaeter-wie-der-feminismus-zur.1939.de.html?drn:news_id=1065347
  8. Wie zutiefst verletzend Homophobie in einer Gesellschaft wirken kann, hat der französische Soziologe Didier Eribon in seinem Buch „Rückkehr nach Reims“ auf wenigen Seiten nachdrücklich beschrieben (Suhrkamp 2016, 191-199) „Schwul zu werden heißt, sich ins Feuer von Vokabeln zu stellen, die man tausendmal gehört hat und deren verletzende Kraft man schon lange kennt, weil man ihnen, noch bevor sie einen bewusst und tatsächlich treffen, potenziell längst ausgesetzt ist. Eine stigmatisierte Identität geht einem voraus“ (192).
  9. Michel Foucault: Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit I. Frankfurt 1983, 115).
  10. Vgl. ausführlicher Hildegund Keul: Weihnachten, das Wagnis der Verwundbarkeit. Ostfildern: Patmos, 3. Aufl. 2017.

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