022019
Statements
Ja sagen zur Macht
Frank Reintgen: Seit dem Sommer des letzten Jahres findet im Erzbistum Köln unter dem Slogan „Aktuelle Etappe des Pastoralen Zukunftsweges“ ein großangelegter Bistumsprozess statt. Worum geht es dabei?
Kristell Köhler: Es geht dabei um einen geistlichen Prozess. Aber dieser geistliche Prozess ist auch verbunden mit strukturellen Fragen, denen wir uns angesichts der Herausforderungen, die wir in der Kirche so allgemein wahrnehmen, stellen müssen. Zum Beispiel weniger pastorales Personal, abnehmendes ehrenamtliches Engagement, größere Räume, in denen zukünftig gedacht werden muss und so weiter.
Reintgen: Wie ist dieser Prozess genau aufgebaut? Wie ist der zeitliche Rahmen? Wer ist beteiligt? Wie sehen die Arbeitsformen aus?
Peter Otten: Der Prozess dauert vermutlich bis Sommer nächsten Jahres, zumindest haben wir bis dahin Termine gemacht. Wir sind zehn Leute in der Arbeitsfeldgruppe, die von Pfarrer Franz Meurer geleitet wird. Unsere ursprüngliche Arbeitsweise war so, dass wir uns jeden Freitag getroffen haben. Und dann haben wir zwei bis drei Stunden konferiert. Hin und wieder haben wir auch Klausurtage gemacht.
Inzwischen ist die Frequenz auf ungefähr alle 14 Tage bzw. maximal dreimal im Monat ausgedünnt. Das hat damit zu tun, dass wir inzwischen Untergruppen gebildet haben, die an verschiedenen Projekten arbeiten.
Das heißt, Wandel und Veränderung passiert nur dann, wenn sich die Werte verändern.
Das Ganze wird begleitet von Menschen der Boston Consulting Group (=BCG). Das ist eine Unternehmensberatung, die diesen ganzen Prozess organisiert und steuert. Die Mitarbeitenden von BCG wirken im Auftrag des Dienstgebers auch in den Arbeitsfeldgruppen mit und sorgen da vor allem für die Orga.
Köhler: Neben unserem Arbeitsfeld gibt auch noch vier weitere Arbeitsfelder, die sich ähnlich organisiert treffen wie unsere Gruppe. Diese Arbeitsfelder beschäftigen sich mit anderen Teilaspekten des Zukunftsweges. Insgesamt sind es also fünf Arbeitsfelder. Wir arbeiten im Arbeitsfeld „Geistlicher Kulturwandel und Vertrauensarbeit“ mit. Darüber hinaus gibt es ein Arbeitsfeld, das sich mit „Kirche (in ihrer ganzen Breite) vor Ort“ beschäftigt. In einem weiteren Arbeitsfeld geht es um „Kommunikation, Dialog und Öffentlichkeit“. Ein viertes Arbeitsfeld beschäftigt sich mit „Ausbildung & Kompetenzerweiterung“. Und es gibt das fünfte Arbeitsfeld „Effizienz und Nachhaltigkeit, Dienstleistung“.
Geistlicher Kulturwandel und Vertrauensarbeit
Reintgen: Ihr arbeitet also beide in der Arbeitsfeldgruppe „Geistlicher Kulturwandel und Vertrauensarbeit“ mit. Worum geht es da genau? Mit welchen Themen beschäftigt ihr euch?
Otten: Unsere Gruppe hat am Anfang einige Zeit gebraucht, um das Thema zu erarbeiten. Man könnte sagen, unsere Gruppe ist vielleicht die Grundlagengruppe, die die Basics dieses Prozesses genauer untersucht und entfaltet. Es geht bei uns um die Haltungen und Werte, die bei einem Veränderungsprozess notwendigerweise zugrunde liegen.
Das ist natürlich ein großes Rad an dem wir drehen, weil es in der Kirche Werte gibt, an denen die Menschen, die Macht haben, nicht rütteln.
Das finde ich persönlich das Frappierende, dass wir in der Beschäftigung mit der Kulturwandel-Theorie relativ schnell darauf gestoßen sind, dass es eben nicht darum geht, oben anzusetzen, sondern dass man unten an der Wurzel ansetzen muss. Ich erinnere mich an ein Schaubild, das ich bei Vorträgen jetzt immer wieder gerne nutze. Es zeigt einen Querschnitt durch einen großen Teich. Unten im Kies sind die Wurzeln einer Pflanze, in der Mitte im Halbtrüben sind die Stängel. Und ganz oben über der Wasseroberfläche sind die Blüten. Und oft geht man in Veränderungsprozessen von der irrigen Annahme aus, man müsse oben ein bisschen mehr Licht machen, die Blüten ein bisschen ausdünnen, damit die Blüten, die noch da sind, ein bisschen größer werden können.
Aber die Kulturwandeltheorie sagt, man muss ganz unten an der Wurzel ansetzen. Das heißt, Wandel und Veränderung passiert nur dann, wenn sich die Werte verändern. Das ist natürlich ein großes Rad an dem wir drehen, weil es in der Kirche Werte gibt, an denen die Menschen, die Macht haben, nicht rütteln. Also z. B. an der Verbindung von Leitung und Weihe.
Eigentlich wäre es erfolgversprechender, wenn die Bistumsleitung mit einer größeren Offenheit und Freiheit sagen würde, wir gucken jetzt mal alle unsere Werte an. Wir müssen auch darüber nachdenken und daran arbeiten und irgendwie eine Bereitschaft wecken, dass wirklich alle bereit sind, Werte zur Disposition zu stellen.
An diesem Beispiel lässt sich schon erkennen, dass wir natürlich häufiger auch an Grenzen stoßen.
Reintgen: Ich würde gerne noch ein bisschen besser verstehen, was der Arbeitsauftrag für euer Arbeitsfeld ist. Ich habe verstanden, dass ihr am Thema Kulturwandel arbeitet. Ist denn dabei schon klar, wie sich die Kultur verändern soll? Gibt es eine Vorgabe, in welche Richtung sich die Kultur verändern soll? Oder legt ihr das als Arbeitsgruppe eigenständig fest?
Köhler: Also vielleicht ist es eine Mischung aus beidem. Als wir im letzten Sommer gestartet sind, hatten wir Fragen und Themenfelder auf dem Tisch liegen, die sowohl Verantwortliche aus der Leitungsebene unseres Bistums, als auch Menschen, die im Diözesanpastoralrat , dem wichtigsten Beratungsgremium im Bistum, gesammelt hatten.
Wir haben dann versucht, diese Themen zu sortieren und weitere Fragen hinzugeworfen: Was bedeutet eine gemeinsame Kultur? Wie kann Vertrauen aufgebaut werden? Etc. Wir sind dann aber auch bewusst in den Dialog mit Experten getreten und haben aus all dem sieben Haltungen formuliert, die Grundlage einer angestrebten Kultur sein könnten.
Einen ersten Entwurf dieser Haltungen haben wir im Anschluss mit vielen Menschen ins Gespräch gebracht, um sie kritisch gegenlesen zu lassen und uns zu fragen, ob das wirklich Haltungen sind, die für eine veränderte Kultur im Erzbistum stehen können. Das war ein Dialogprozess mit Menschen, die aus der Kirche ausgetreten waren, mit Menschen, die hauptberuflich in der Kirche arbeiten, mit Ehrenamtlichen, mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus Verbänden, und eben auch mit Menschen, die in unserem Bistum Verantwortung tragen.
Wirklich miteinander vertrauensvoll zu arbeiten. Das war ein Laboratorium.
Reintgen: Eure Rolle war es also primär nicht die der großen Expertin bzw. des großen Experten für das Thema, sondern ihr wart eher gefragt „Anwalt des Themas“ zu sein. Ihr habt die relevanten Leute identifiziert, mit denen man das Thema besprechen kann, um dann auf Grundlage dieser Gespräche Hypothesen zu formulieren, die die Grundlage für weitere Schritte sein sollen. Habt ihr eine Vermutung, wie es kommt, dass gerade ihr für die Mitarbeit in diesem Arbeitsfeld angefragt worden seid?
Köhler: Zum Teil waren es Vorschläge der Arbeitsfeldleitungen oder auch einzelner Verantwortlicher aus dem Bistum. Aber ganz genau können wir die Genese auch nicht mehr nachvollziehen. Am Ende sind wir so etwas wie ein Laboratorium im Kleinen für diesen Kulturwandel. Das ist für mich die größte Erkenntnis. Dass wir in einer ganz großen Unterschiedlichkeit versucht haben, selber zu überlegen und vor allem zu erleben, wie ein Kulturwandel funktioniert. Wir sind ein bunter Haufen. Viele von uns haben vorher gar nicht viel oder vielleicht eher über Hörensagen miteinander zu tun gehabt. Und sich jetzt „eins zu eins“ zu begegnen und wirklich miteinander vertrauensvoll zu arbeiten. Das war ein Laboratorium.
Otten: Bei mir war es so, dass mich der Leiter des Arbeitsfeldes Franz Meurer gefragt hat, ob ich mitarbeiten würde. Und dann habe ich ja gesagt, auch weil mir kein Grund einfiel, es nicht zu machen. Mich hatte Franz auch noch nach Ideen gefragt, welche Menschen möglicherweise noch infrage kämen. Ich glaube, es war ein Mix aus Vorschlägen, die Franz als Arbeitsfeldleiter vorschlagen konnte und Vorschlägen der Bistumsleitung. Franz war wichtig, dass das Arbeitsfeld paritätisch mit Frauen und Männern besetzt ist.
Wie Menschen Kirche erleben
Reintgen: Die sogenannte Analysephase liegt nun hinter euch. In dieser Phase habt ihr viele Gespräche mit unterschiedlichen Menschen über ihre Kirchenerfahrung geführt. Gab es dabei Gespräche, die euch besonders in Erinnerung geblieben sind?
Otten: Ich werde oft in meiner Arbeit meistens von Menschen angeregt, die gar nicht viel mit unserem System zu tun haben. Wir haben am Anfang zwei, drei Stunden Jürgen Wiebicke bei uns gehabt, diesen Radiophilosophen, einen ganz klugen Menschen. Und wir haben auch mit Stefan Kraus, dem Leiter des Diözesanmuseums Kolumba, gesprochen, die auch einen Kulturwandel hinter sich haben. Die haben ihr ganzes Haus mal auf den Kopf gestellt.
Solche Begegnungen bringen mich immer weiter,
Das waren für mich Begegnungen, die mich weiter gebracht haben. Solche Begegnungen bringen mich immer weiter, weil das oft Sympathisanten sind, die der Kirche wirklich Wohlwollen gegenüber bringen, ohne selbst ein Teil davon zu sein. Beim Leiter des Diözesanmuseums stimmt das natürlich nicht so ganz, aber bei so Menschen wie Jürgen Wiebicke trifft das zu. Und das finde ich am besten, weil man sonst oft in der Gefahr ist, dass man doch im eigenen Saft schmort.
Reintgen: Kann es sein, dass man solchen Menschen mit dem Blick von außen eine ehrlichere, schonungslosere Antwort zutraut?
Otten: Also bei Jürgen Wiebecke garantiert, ja. Wir haben uns natürlich auch Kulturwendelprozesse in anderen Unternehmen angeguckt. So haben wir uns z. B. einen Kulturwandelprozess in einem großen, öffentlich-rechtlichen Unternehmen angeschaut, das ähnlich strukturiert ist, wie wir als Kirche. In diesem Unternehmen war ein Wert, der ganz überzeugt kommuniziert wurde, „Wir sind eine Familie“. Das war in diesem Unternehmen ein Kern des Übels und ein wesentlicher Grund, warum es dort geknirscht hat. Dann haben sie diesen Wert überdacht.
Die haben gesagt, es nützt nichts mehr den Familienbegriff zu retten, weil er so schön ist, sondern das müssen wir jetzt mal zur Disposition stellen.
Köhler: Ich kann gerne auch noch zwei Begegnungen hinzulegen. Wir haben ein Format veranstaltet, bei dem wir Menschen zusammengebracht haben, die in Kirche eher die „Hintergrundarbeit“ machen, also Kirchenmusiker, Verwaltungsmitarbeiter, Pfarramtssekretärin, Kindergartenleiterin, Erzieherinnen usw.
Ein Verständnis füreinander zu entwickeln, das ist etwas ganz Wesentliches für einen gemeinsamen Kulturwandel.
Und das Spannende war, dass die plötzlich und wahrscheinlich das erste Mal über die Berufsgruppen hinweg, miteinander gesprochen haben. Und dabei haben sie festgestellt: Wir arbeiten alle für den gleichen „Laden“. Wir sind zwar total unterschiedlich, wir haben auch ganz verschiedene Aufgaben und wir machen das trotz mancher Herausforderungen eigentlich gerne. Das war schon irgendwie beeindruckend.
Beeindruckend war auch, wie schnell sich in dem kurzen Gespräch ein Verständnis für die Nöte und Herausforderungen der jeweils anderen Berufsgruppe entwickelt hat. Dass z.B. die Kindergärtnerin sagte, jetzt verstehe ich, warum der Küster immer so froh ist, wenn wir unsere Zeiten auch einhalten. Er hat nur eine sehr begrenzte Stundenanzahl zur Verfügung. Ein Verständnis füreinander zu entwickeln, das ist etwas ganz Wesentliches für einen gemeinsamen Kulturwandel. Kulturwandel bedeutet auch, sich einander anzuvertrauen, miteinander zu sprechen statt übereinander und dem anderen das Vertrauen entgegenbringen, das ich selbst gerne geschenkt bekommen möchte.
Schön war auch, dass es Menschen gab, die sehr, sehr frei gesprochen haben. Es gab einen Lehrer, der gesagt hat, eigentlich balanciere ich immer so zwischen zwei Welten. Ich bin zwar beim Land angestellt, aber ich habe mit der Missio einen Auftrag, katholische Religion zu unterrichten, und mache das auch mit voller Leidenschaft. Gleichzeitig habe ich aber selber gerade so viele Anfragen an die Institution Kirche, an das, was ich erlebe und das, was kommuniziert wird. Mich hat das beeindruckt. Weil da einerseits die Sehnsucht zu spüren war, für Kirche zu arbeiten und hinter der Botschaft zu stehen, und es andererseits eine große Ernüchterung gibt, wenn es um Fragen wie Macht und Gerechtigkeit etc. geht.
Kulturwandel bedeutet auch, sich einander anzuvertrauen, miteinander zu sprechen statt übereinander und dem anderen das Vertrauen entgegenbringen, das ich selbst gerne geschenkt bekommen möchte.
Otten: Beeindruckend waren auch die Tiefeninterviews. Ich war selber nicht dabei, aber so wie es Franz Meurer und Swen Höbsch, die mit im Arbeitsfeld arbeiten, erzählt haben, waren das eindrückliche Begegnungen mit ganz verschiedenen Menschen, größtenteils mit Menschen, die zwar noch mit einer gewissen Sympathie und Sehnsucht zur Kirche stehen, aber doch auch irgendwie den Kontakt abgebrochen haben, zum Teil auch aufgrund von Verletzungen. Und da ist für mich das Erstaunliche, dass sie oft erzählt haben, wie groß die Sehnsucht der Menschen ist und wie relevant Orientierungsfragen, Fragen nach dem Lebensglück oder Lebenssinn sind. Die Sehnsucht in Menschen ist immer noch wach. Und obwohl Menschen verletzt und frustriert sind, haben sie zum Teil immer noch die Hoffnung, Kirche könnte ihnen eine Antwort geben. Das ist erstaunlich.
Andererseits: Als wir hier in St. Agnes die Aktionswoche Maria 2.0 durchgeführt haben, waren da auch Menschen, die erstaunt sagten: Wie, in der Katholischen Kirche gibt es keine Priesterinnen? Da habe ich dann schon gemerkt, dass man sich auch nichts vormachen darf. Der Traditionsabbruch ist zum Teil schon gigantisch.
Vielleicht ist diese Ungleichzeitigkeit so herausfordernd und spannend zugleich: zu merken, es gibt keinen Weg, den es nicht mehr gibt. Das macht den Kulturwandel vielleicht auch so schwer. Man hat immer mit Personen, mit Individuen zu tun. Und dieser Individualisierungs- und Autonomiedruck auf die Institution, der ist gigantisch.
Angstfreie Kommunikationsräume
Reintgen: Im Zuhören habe ich mich gerade gefragt, ob ihr durch die Wahl der Formate nicht schon Spuren entdeckt habt, die Teil einer Lösung sein könnten. Vielleicht heißt Kulturwandel u. a., Räume zu öffnen, wo angstfrei gesprochen werden kann, wo man sich in der Unterschiedlichkeit erlebt und ein gemeinsames Verständnis entstehen kann, und wo der einzelne nochmal merkt, ich bin hier als Person total im Fokus. Da hat einer ein echtes Interesse, ohne noch eine andere geheime Absichten zu haben. Täuscht das oder seht ihr das auch so?
Und obwohl Menschen verletzt und frustriert sind, haben sie zum Teil immer noch die Hoffnung, Kirche könnte ihnen eine Antwort geben.
Köhler: Nein, das stimmt auf jeden Fall! Peter hat ja eben schon gesagt, dass es ein schwieriger Prozess ist, Werte zu wandeln. Mit den Erkenntnissen, die wir auch durch die Formate gewonnen haben, versuchen wir, Werkzeuge zu entwickeln, mit denen man eben genau diesen Wandel in Gang setzen kann,also quasi Hebel oder Stellschrauben.
Reintgen: Und habt ihr ein paar Hebel und Stellschrauben identifizieren können?
Köhler: Das sind zum Beispiel diese angstfreien Kommunikationsräume. Aber auch eine gute und gelungene Feedback-Kultur, die dazu beträgt, dass man trotz des hierarchischen Gefälles, das auch weiterhin in Teams gegeben sein wird, gut in einen Austausch gehen kann. Dass sowohl der Mitarbeiter den Vorgesetzten, als auch der Vorgesetzte dem Mitarbeiter ein regelmäßiges Feedback gibt, was ehrlich und offen ist. Sodass es auch ein Teil der Unternehmenskultur wird, sich zu unterhalten. Und gleichzeitig auch, das wäre ein weiteres Werkzeug, dass diejenigen, die wir unter dem Begriff der „Folgedienste“ subsumieren, als wertvolle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unseres pastoralen Tuns begreifen.
Otten: Das ist eine Haltungsänderung, die wir auf jeden Fall vorschlagen werden, dass der Begriff Folgedienste abgeschafft wird.
Reintgen: „Aktuelle Etappe des Pastoralen Zukunftsweges “ – so ist der Bistumsprozess im Erzbistum Köln überschrieben. Erkennt ihr in der Prozessarchitektur schon anfanghaft den angestrebten „geistlichen Kulturwandel“?
Otten: Also bei uns in der Gruppe auf jeden Fall. Das hat Kristell ja eben angedeutet. Für mich verblüffend ist die Qualität unserer Gruppe. Dass es in einer hohen Schlagzahl der Treffen gelingt, so aufmerksam, wertschätzend, aber auch diszipliniert aus einer totalen Unterschiedlichkeit heraus, mit der je eigenen biografischen, fachlichen Haltung und Geschichte heraus, auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten. Das empfand ich als echtes Geschenk. Beim Gesamtprozess bin ich zurückhaltend.
Es stellt sich schon die Frage, was die Wirksamkeit dessen ist, was wir in der Arbeitsfeldgruppe tun
Vielleicht passt es, an dieser Stelle von der Grenze zu sprechen. Denn die nicht zu benennen, wäre einfach unredlich. Es stellt sich schon die Frage, was die Wirksamkeit dessen ist, was wir in der Arbeitsfeldgruppe tun. Da hat, glaube ich, jeder aus der Gruppe eine unterschiedliche Grenze, vielleicht auch einen unterschiedlichen Anspruch, ein unterschiedliches Schmerzempfinden oder eine größere oder kleinere Kompromissfähigkeit. Deswegen kann ich das erst einmal nur aus meiner Perspektive betrachten.
Es gibt natürlich schon Themen, die bei einem Kulturwandel auf den Tisch müssten, aber die nicht auf den Tisch kommen. Das wird auch relativ klar kommuniziert.
Reintgen: Damit meinst du die sogenannten „heißen Eisen“?
Otten: Ja natürlich, das ist die Frage nach Geschlechtergerechtigkeit, die Frage nach Leitung, der Zusammenhang von Leitung und Weihe, der Zueinander von Sakramenten, Klerikern und Laien. Ich spüre ganz oft, dass es unredlich ist, nicht darüber zu sprechen. Weil das ansonsten nur ein halber Kulturwandel wird.
Ich merke es auch an meiner eigenen Motivation. Ich denke, darüber müssen wir unbedingt sprechen. Der andere kann ja auch seine Grenze aufzeigen oder kann sagen, er tut sich damit schwer, darum geht es nicht. Ich habe oft das Gefühl, es gibt tabuisierte Themen. Das finde ich für mich einfach schwierig.
Das zweite ist. Es gab eine riesige Online-Umfrage an der sich ungefähr 7000 Menschen beteiligt haben. Das war ein Zusammenspiel von den Arbeitsfeldgruppen und Bistumsleitung. Die Frage ist schon, was ist von den Ergebnissen in der Zielskizze noch drin. Was ich schon vermisse, ist dass, Leute die von außen auf die Kirche gucken, bei dieser Etappe eigentlich nicht mehr wirklich mit am Tisch sitzen.
Wie können wir auch höchst umstrittene Themen besprechen? Wie können wir da wenigstens eine Perspektive aufzeigen?
Man muss schon realistisch auf die Wirksamkeit gucken. Im letzten Diözesanpastoralrat hat der Kardinal auf die Frage, wer entscheidet am Ende, gesagt: Ich entscheide. Nun heißt Kulturwandel auch Vertrauen. Es geht also auch darum, den Menschen zu vertrauen, die irgendetwas entscheiden zu vertrauen. Damit steht und fehlt alles.
Wie können wir auch höchst umstrittene Themen besprechen? Wie können wir da wenigstens eine Perspektive aufzeigen? Und was Kristell sagte, wie können wir ehrlich miteinander sprechen ohne, dass man Angst hat, man kriegt einen drüber. Da habe ich persönlich schon große Anfragen. Da merke ich, dass das oft an meiner Motivation nagt.
Die theologische Ausrichtung der Zielskizze finde ich auch schwierig. Wenn ich das lese, dann habe ich den Verdacht, dass es immer noch darum geht, die sakramental-verfasste Kirche ist im Besitz der Wahrheit. Das ist die eine Seite. Und dann gibt es Menschen, die sind nicht erleuchtet. Die müssen wir jetzt durch umfangreiche, lebenslange katechetische Prozesse mit der Wahrheit in Verbindung bringen. Das ist nicht das, was ich glaube. Das ist nicht meine pastorale Erfahrung. Das ist auch nicht das, was die Menschen außerhalb der Kirche, mit denen ich zu tun habe, an Bedürfnissen formulieren. Ich will gar nicht ausschließen, dass es das gibt, aber es ist nur ein Fokus.
Das wäre für mich ein Beispiel, wo ich denke, da findet eine Verengung statt. Ich finde, Kulturwandel heißt eben auch, wir sind in der Kirche nicht mehr die exklusiven Heilsträger, die den Sinn mit der großen Kelle über die Welt auskippen. Ich würde vielmehr fragen, was hat die Welt auch mir zu sagen. Das ist meine pastorale Erfahrung, dass die Welt, der andere, einen ganz großen Reichtum hat. Und ich bin bereit mich auch diesem Reichtum zu öffnen. Ich würde mir wünschen, dass so etwas in der Zielskizze deutlicher würde. Also zumindest diese Vielfalt, die da drinsteckt.
Köhler: Vielleicht ist es auch so, dass der große Lackmus-Test jetzt erst noch kommt. Die vorliegende Zielskizze ist erst einmal „nur“ eine Skizze, ein Rahmen. Viele Dinge, die wir in Gesprächen gehört haben und die wir wahrgenommen haben, sind noch gar nicht so explizit in dem drin, was wir jetzt an Skizze formuliert haben oder sie liegen auf Hintergrundfolien.
Können wir wirkliche eine Vielfalt, die Andersartigkeit des andern stehen lassen, und niemandem den Glauben absprechen, und trotzdem sagen, wir gehören zu einer Kirche.
Wenn wir feststellen, das ist jetzt die richtige Richtung und man arbeitet Sachen ein, die in diesen Beteiligungsformaten und Regionalforen hinzugekommen sind, dann kommt die eigentliche Frage: Wie setzen wir das um? Der nächste Schritt wird sein, ein Zielbild mit Details und Konkretisierungen zu erarbeiten und dann muss man dieses Zielbild auch in die Realität bringen. Und da würde sich viel für mich bei der Art und Weise des Weges entscheiden: Wie argumentieren und diskutieren wir miteinander? Können wir wirkliche eine Vielfalt, die Andersartigkeit des andern stehen lassen, und niemandem den Glauben absprechen, und trotzdem sagen, wir gehören zu einer Kirche. Also all diese kulturellen und kommunikativen Dinge..
Otten: Ich will mal etwas Positives sagen. Ein großes Thema ist z.B. „Willkommenskultur“. Und ein anderes Thema ist „Dienstleistungs-Offensive“, so haben wir das einmal genannt. Also dass man sehr stark an den Bedürfnissen der Menschen ansetzt, so wie Jesus sagt „Was kann ich für dich tun?“. Ich hoffe, dass das, was mit dem Projekt Pfarrbüro 24 am Horizont aufsteigt, ein bisschen in die Richtung geht. Also, dass man nicht immer nach der Glaubensstärke der Menschen fragt, und wie mit einer Insulinflasche versucht Glaubenswissen in die Adern zu träufeln. Sondern dass wir uns trauen zu fragen: „Was kann ich für dich tun?“ Auch ganz konkret. Zum Beispiel, dass wir vereinbaren: Wenn einer stirbt und die Angehörigen wollen ein Gespräch, muss innerhalb von maximal sechs Stunden eine Antwort da sein. Oder wenn einer heiraten will: Dass der ordentlich behandelt wird und nicht erst mal zehn Formulare zugeschickt bekommt und als erstes gefragt wird: „Haben Sie eine Vorehe?“ Solche Überlegungen finde ich schon gut. Dass hat etwas mit Kulturwandel zu tun.
Sich zur Macht bekennen
Reintgen: Schwerpunktthema dieser futur2 Ausgabe ist das Thema Macht in Kirche. Taucht das Thema Macht bei euch im Arbeitsfeld auch auf?
Otten: Ständig! Natürlich hat Macht und der Umgang mit Macht auch etwas mit Kulturwandel zu tun. Das Thema Machtteilung oder Geschlechtergerechtigkeit, das war bei uns ständig Thema.
Köhler: Es gab wirklich wenige Gespräche, in denen das Thema Macht nicht auch Thema war. Weil es vielfältig ist. Macht wird angezweifelt, sie wird an sich gerissen, sie wird irgendwie nivelliert im Sinne von „brauchen wir eigentlich nicht mehr, in der Welt von heute“. Es gibt ganz unterschiedliche Facetten, aber zum Thema wird sie immer gemacht.
Da ist es dann auch an uns, diese Orte in einer bestimmten Art zu prägen und die Verantwortung nicht auf eine nächst höhere Ebene abzuschieben.
Reintgen: Mit der Erfahrung der Gespräche, die ihr geführt habt im Hinterkopf, was sind aus eurer Perspektive die größten Herausforderungen für die Kirche im Erzbistum Köln im Umgang gerade mit Macht?
Otten: Die Leute sind es leid, dass Besserwisser unterwegs sind, die letzten Endes dann doch sagen, wie es zu gehen hat. Das ist bei uns ein riesiges Thema gewesen. Die große Crux an dieser Etappe ist, dass wir jetzt zwei Jahre arbeiten, Leute beteiligen, Regionalforen machen und vielleicht im Hintergrund die Befürchtung da ist, dass es von der Struktur unserer Kirche her am Ende einen gibt, der am Steuer sitzt. Und der kann dann auch auf seiner Seekarte nach gucken, in welche Richtung es gehen soll, und alles andere ist dann auch egal.
Diese Bürde spielt schon eine sehr große Rolle. Und es ist mit Händen zu greifen, dass sehr viele Menschen das nicht mehr ertragen können bzw. daran nicht mehr interessiert sind. Die sind ja schon fünf Schritte weiter als wir. Allein die Tatsache, dass wir noch über Machtteilung diskutieren müssen. Ob das für uns sinnvoll ist, oder ob das bei uns überhaupt eine Rolle spielen darf. Das ist ja total absurd. Das kannst du einem Menschen, der jeden Tag seinen Alltag organisiert, der eine Familie hat, der ein Unternehmer ist nicht mehr begreiflich machen.
Köhler: Spannend wird es werden, zu identifizieren, welche Themen wirkliche Machtthemen sind und wo Macht nur vorgeschoben wird. Es gibt ja auch Themen, wo man immer sagt, weil wir da jetzt keine Macht haben oder jemand anderes die Macht hat, deswegen kann ich das Thema nicht weiter verfolgen. Und manchmal ist das richtig. Es gibt Macht, und es gibt auch Machtgefälle, und es gibt auch eine ausgeübte Macht. Und über manche Dinge muss man ins Gespräch kommen.
Ich fände es super, sich zur Macht zu bekennen.
Aber es gibt auch die Fälle, wo das einfach nur vorgeschoben wird, um an etwas anderes, an einen bestimmten Kern nicht ran kommen zu müssen. Ich glaube schon, dass wir am Ende in Kirche, auch aktuell, als Laien-Gläubige eine große Macht haben und hätten. Denn das, was ich selber in meiner Gemeinde vor Ort, in meinem Verband, in meiner Einrichtung lebe und tue, das bestimmt ganz, ganz viel. Da haben viele von uns eine relativ große Macht. Weil das nicht immer direkte“ Kontrollräume“ sind. Weil wir selber ja auch Einrichtungen und Verbände leiten und auch geistlich führen. Da ist es dann auch an uns, diese Orte in einer bestimmten Art zu prägen und die Verantwortung nicht auf eine nächst höhere Ebene abzuschieben.
Reintgen: Hättet ihr aus euren Erfahrungen, die ihr bei der Mitarbeit im Arbeitsfeld gewonnen habt, eine Empfehlung, wie innerhalb der Kirche künftig mit dem Thema Macht umgegangen werden sollte?
Otten: Ich fände es super, sich zur Macht zu bekennen. Also zu sagen, dass die Macht ein positiver realer Faktor ist. Natürlich gibt es in der Kirche Macht. Wir sollten endlich aufhören alles unter dem spiritualisierten Mäntelchen des Dienens zu betrachten.
Wir sollten endlich aufhören alles unter dem spiritualisierten Mäntelchen des Dienens zu betrachten.
Jede Wundergeschichte im Neuen Testament ist eine Machtgeschichte. Jesus könnte ja auch sagen „Hau ab!“ oder „Du kommst zu spät“ oder „Ist mir doch egal, ob du Lepra hast“. Und schon ist das eine Machtfrage. Das wäre meine erste Empfehlung, ja zu sagen zur Macht.
Meine zweite Empfehlung wäre es, über die Vollmacht nachzudenken. Vollmacht ist mit einem Bereich oder einer Ebene aufgeladene Macht, die du nicht kontrollieren kannst. Darüber kann man ja grundsätzlich nachdenken. Ich habe aber oft das Gefühl, dass die Vollmacht eine Art Deckmantel ist, überhaupt nicht drüber diskutieren zu müssen.
Als ich angefangen habe zu arbeiten, habe ich mich unglaublich darüber geärgert, dass Priester nicht die Schulausbildung machen mussten und trotzdem mit der Priesterweihe die Lehrerlaubnis bekommen. Ich fand das einen Skandal. Ich musste ein Jahr lang ins Gymnasium rennen und eine Lehrprobe nach der anderen hinter mich bringen und Examen machen. Und der Priester bekam die Vollmacht mit der Weihe.
Er sagt, Macht teilen bedeutet auch, sich an ein Votum zu binden.
Das dritte wäre tatsächlich über Machtteilung nachzudenken. Einen wichtigen Hinweis dazu hat uns Matthias Sellmann gegeben. Er sagt, Macht teilen bedeutet auch, sich an ein Votum zu binden. Das lernt man ja z. B. in den Verbänden. Ich war fünf Jahre geistlicher Leiter der KJG. Ich habe da oft die Faust in der Tasche gemacht und hab bei mir gedacht, lieber Gott, das ist jetzt grober Unfug, was die Kinder da machen, aber anders kommen wir jetzt nicht voran. Das ist Kulturwandel.
Köhler: Ich würde den ersten Punkt bestärken wollen. In der online Umfrage waren ganz wesentliche Schlagworte Offenheit und Transparenz. Das bezog sich sicher insgesamt auf Kirche, aber ich würde das für den Bereich der Macht ganz stark machen wollen. Wer hat wo Macht? Wer übt sie auch wie aus und warum übt er sie aus? Diese Dinge müssen Menschen gegenüber offen gelegt werden.
Und gleichzeitig gibt es auch in der Ausübung von Macht eine Vielfalt. Auch jemand der sich ehrenamtlich in Kirche engagiert, hat Macht und muss Transparenz schaffen, wie er sie ausübt.
Gottes Wirklichkeit für die Menschen greifbar machen
Reintgen: Im Moment arbeitet ihr an der Zielskizze, aus der ein Zielbild 2030 entstehen soll, also eine Beschreibung, wie Kirche im Erzbistum Köln im Jahr 2030 aussehen soll. Mal angenommen wir hätten jetzt das Jahr 2030. Und auf wundersame Weise hätte der geistliche Kulturwandel im ganzen Bistum Raum ergriffen. Woran würden wir erkennen, dass ein geistlicher Kulturwandel stattgefunden hätte? Was wäre dann eigentlich anders als heute? Woran würde man den Kulturwandel im Erzbistum Köln erkennen? Was wären sichtbare Phänomene? Wovon würden die Zeitungen berichten und was würden die Spatzen von den Dächern pfeifen?
Das, was ich da tue und wo ich arbeite, das hat wirklich etwas mit meinem Herzen zu tun.
Köhler: Ich würde sagen, dass dann die Christen im Erzbistum Köln ein bisschen erlöster aussähen, dass Menschen, die ehrenamtlich in Kirche aktiv sind, wieder eine Fröhlichkeit ausstrahlen. Dass die wenigen, die im Hauptberuf in Kirche tätig sind, deutlich machen, ich mache das, weil ich wirklich Freude an der Botschaft habe. Das, was ich da tue und wo ich arbeite, das hat wirklich etwas mit meinem Herzen zu tun. Und auch erlöster aussehen, weil wir angstfreier miteinander umgehen. Wenn man weiß, dass der andere in einem immer auch alle Möglichkeiten sieht und nicht nur alle Grenzen. Das wäre schon etwas Großartiges.
Otten: Ich finde, wenn weniger Gefälle spürbar wäre. Wenn Menschen, die im Bistum miteinander umgehen, damit rechnen, der andere könnte auch recht haben. Da wäre schon viel gewonnen.
Wenn Menschen, die im Bistum miteinander umgehen, damit rechnen, der andere könnte auch recht haben. Da wäre schon viel gewonnen.
Konkret: dass wir im Bistum Schritte zur Geschlechtergerechtigkeit gehen. Dass diese unwürdige Bettelei von Frauen ernst- und wahrgenommen zu werden, nach dem Motto, dass Männerkirche immer bestimmt, was Gleichberechtigung ist, dass das mal aufhört.
Und das dritte wäre für mich aber auch so ein Realismus. Ich glaube, die Leute sind es leid nach dem 25 Prozess, den es irgendwo gibt. Heute habe ich im Internet oder irgendeiner Facebookseite gelesen, dass einer sagte, das habe ich schon dreimal mitgemacht. Dass Ziele formuliert worden sind, die waren in keiner Weise realistisch, sind auch nie nach gehalten worden. Wir sollten uns davor hüten, Enttäuschungen zu produzieren.. Kulturwandel darf nicht nur heißen, ich bekomme am Kircheneingang ein Gebetbuch in die Hand gedrückt, werde angelächelt – und das war es dann.
Köhler: Und vielleicht noch eins: Dass wir als Kirche wirklich helfen, Gottes Wirklichkeit für die Menschen greifbar zu machen. Das klingt jetzt vielleicht etwas fromm. Ich meine damit, auf der einen Seite Kirche nicht klein zu denken. Also nicht immer nur die Getauften und Gefirmten im Blick zu haben, sondern die vielen Menschen, die auf der Suche sind, die vielleicht noch gar nicht in die verfasste Kirche hinein gehören und sich vielleicht auch noch nicht zugehörig machen wollen und die dennoch eine ganz große Sehnsucht nach Gott in sich tragen, und nach Güte und Barmherzigkeit. Diese Menschen ernsthaft mitzudenken und wirklich zu überlegen, wie wir für Menschen da sein können, um ein Leben in Fülle zu ermöglichen – das hätte Ausstrahlung.