022022

Foto: Kunj Parekh/Unsplash

Praxis

Regina Nagel

Irgendwie ein wenig schizophren

Motivlagen und Strategien kirchlich Hochengagierter auf dem Kipp-Punkt

Eine Frau im liturgischen Gewand verteilt Blumen an alte Menschen, die sich sichtlich darüber freuen. So beginnt ein aktueller Kurzfilm von und über Gemeindereferent*innen. Die Seelsorgerin sagt: „Also ich arbeite sehr gerne mit Menschen. Ich mag Menschen und ich arbeite überwiegend mit Demenzkranken, mit alten Menschen und das ist für mich einfach eine ganz wunderbare Arbeit. Wenn man Menschen treffen kann, wenn man ihnen begegnen kann und ihnen auch was schenken kann, und es kommt so viel zurück.“ So beginnt der Film und dieser Grundtenor bleibt durchgehend bei allen Gemeindereferent*innen, die sich in ihm zu Wort melden. Auf meine Nachfrage schreibt mir eine der Kolleginnen, die an dem Projekt mitgewirkt hat: „Ja, unser Film ist sehr positiv. Hauptsächlich deshalb, weil er ja anlässlich unseres 100-Jahre-Jubiläums entstanden ist. Wir wollten damit uns selber feiern, und beim Feiern lässt man ja alles „Aber“ weg. Wir wollten zeigen, wie interessant, vielfältig und wertvoll unser Beruf ist. … Ich habe inzwischen mitbekommen, dass es in unserer Berufsgruppe ein positives Echo auf unseren Film gibt. Anscheinend wird der kritische Blick auf die vorhandenen Probleme nicht vermisst. Ich denke mal, wir haben die Schnauze voll davon, uns immer nur mit Missständen zu beschäftigen (und der Öffentlichkeit immer nur ein problemzentriertes Bild der Kirche zu präsentieren), sondern freuen uns, wenn in diesem Film wieder das Eigentliche, das Sinnstiftende, in den Mittelpunkt gerückt wird.“

Die Kollegin, wie auch die vielen, denen der Film gefällt, bestreiten nicht, dass es Missstände gibt. Sie nehmen sie wahr als etwas, das den Blick auf das Wesentliche behindert und sie entscheiden sich dafür, sie zu ignorieren – zumindest im Rahmen dieses Filmprojekts. Sie stellen das Positive des seelsorgerlichen Berufs vor und dies anhand von Beispielen, bei denen es immer um Begegnung mit und Begleitung von Menschen geht. Solange dies geschieht in der Kirche, so verstehe ich die Aussagen des Films, solange bleibt Kirche relevant, und zwar unabhängig von Skandalen, Mitgliederschwund oder welchen innerkirchlichen Problemen auch immer.

Diese und viele andere hoch engagierte Personen in der katholischen Kirche wissen um Vieles, was in der Kirche kaum noch zu ertragen ist und sie benennen es auch.

Diese und viele andere hoch engagierte Personen in der katholischen Kirche wissen um Vieles, was in der Kirche kaum noch zu ertragen ist und sie benennen es auch. Besonders häufig ist dabei die Rede von „Machtmissbrauch“. Nachdem wir uns im Gemeindereferent*innen-Bundesverband längere Zeit mit diesem Thema auseinandergesetzt hatten, haben wir im Mai dieses Jahres entschieden, eine bundesweite Umfrage zu „Erfahrungen mit Machtmissbrauch im pastoralen Beruf“ unter Gemeinde- und Pastoralreferent*innen durchzuführen. Die Umfrage wurde von 936 Personen bearbeitet und die Ergebnisse füllen hunderte von Seiten. Wie sehr Kirche Schaden anrichtet und Leiden verursacht, das wissen diese Kolleg*innen – aus Beobachtung und eigener Erfahrung. Wie viele davon jedoch nicht nur an Mängel, die behoben werden müssten, denken, sondern darin Vorboten oder bereits Merkmale der Auflösung des Systems wahrnehmen, das ist schwer zu sagen. Befinden wir uns vor einem Kipppunkt, auf der Kippe oder sind wir schon im Absturz begriffen? Die ehrlichsten Aussagen dazu fallen in Gesprächen unter vier Augen oder in kleinen Gruppen, in denen man einander vertrauen kann. Ich kenne einige Hochengagierte, zum Teil auch in Sprecher*innenrollen für kirchliche Gruppen, die äußern im direkten Kontakt, dass das aktuelle System Kirche nicht reformierbar ist und beteiligen sich dennoch aktiv an Reformforderungen, -aktionen und -prozessen.

Viele Hochengagierte äußern im direkten Kontakt, dass das aktuelle System Kirche nicht reformierbar ist und beteiligen sich dennoch aktiv an Reformforderungen, -aktionen und -prozessen.

Bisweilen wirkt es fast schizophren. Mein Eindruck ist, dass die eigentliche Dramatik nicht ausreichend und schonungslos in den Blick genommen wird. Denn – was kippt denn da eigentlich? „Nur“ die Zahl der Mitglieder an sich, die Zahl der engagierten Mitglieder, der Respekt vor der Hierarchie, die Bereitschaft, ein Schaf zu sein? Kippen nicht auch die Lehre, die Glaubenspraxis und zunehmend der Glaube? Wer wagt denn die ergebnisoffene Frage zu stellen, ob und wie man heute überhaupt noch von Gott reden kann? Die Wahrnehmung und vor allem die Bewertung dessen, was derzeit geschieht, erfolgt unterschiedlich, divergierend und zum Teil diametral. Reformorientierte sehen Chancen in den Forderungen des Synodalen Wegs; ernüchterte Realist*innen bleiben, solange sie noch Handlungsoptionen im zugrunde gehenden System sehen; im christlich-katholischen Glauben tief Verwurzelte hoffen auf ein Wunder im Sinne einer neuen Gestalt der katholischen Kirche; Traditionalist*innen sehen die „wahre“ Kirche vom Zeitgeist bedroht; Katholikal-charismatische versuchen in Kooperation mit den Traditionalist*innen die „wahre“ Kirche zu sein; Christlich-ethisch Orientierte wünschen sich konfessions- und religionsunabhängige Kooperation mit allen, die sich für die Zukunft unseres Planeten stark machen.

Die meisten nehmen das Zerbröseln der Kirche wahr und wollen es gleichzeitig doch nicht in aller Konsequenz wahrhaben.

Bei denen, die ich nicht nur von außen beobachte, sondern mit denen ich persönlich in Kontakt bin, habe ich den Eindruck, dass die meisten das Zerbröseln der Kirche wahrnehmen und es gleichzeitig doch nicht in aller Konsequenz wahrhaben wollen. An persönlichen Strategien des Zurechtkommens mit dieser Situation erlebe ich u.a. folgende Haltungen und Vorgehensweisen:

  • Ich kümmere mich um meinen Bereich und um die Menschen, mit denen ich alltäglich zu tun habe. Ich bin für sie Seelsorger*in, unterstütze sie ihn ihrer ehrenamtlichen Arbeit, wende mich aufmerksam dem zu, wo ich gebraucht werde – u.a. auch in Bezug auf gesellschaftlich-caritative Situationen
  • Ich suche mir meine Nische – in der Gemeindearbeit selbst oder auch in der Kategorie, in Ämtern oder als Referent*in, Berater*in u.ä.
  • Ich wage pastoralen Ungehorsam (Beispiel: Spendung der Krankensalbung)
  • Ich halte durch bis zur Rente und trete dann aus der Kirche aus
  • Ich arbeite an meinem persönlichen Plan B – durch ein Zweitstudium, eine Zusatzqualifikation, durch Netzwerken mit dem Ziel, außerhalb von Kirche einen Arbeitsplatz zu finden
  • Ich werde krank (Nicht als geplante Strategie, aber rückblickend evtl. so wahrgenommen als einziger Ausweg, der noch blieb)
  • Ich kündige

Was auf jeden Fall zunimmt, ist das Bedürfnis, den kirchlichen bzw. pastoralen Beruf zu verlassen. Deutlich häufiger als vor ein paar Jahren sagen vor allem jüngere  Kolleg*innen offen, dass sie sich nicht vorstellen können, dauerhaft für die Kirche zu arbeiten.

Dass es zu einer Kirchenspaltung kommen wird, das sagen wenige. Viele benennen immer wieder, was es bräuchte, damit die Kirche in veränderter Form weiterbestehen kann. Aufgeführt werden da z.B. Elemente wie Entklerikalisierung, Geschlechtergerechtigkeit, professionelle Personalführung oder auch kritische Grenzziehung zu katholikalen Strömungen. Dass es dazu tatsächlich kommen wird, das glauben eher wenige. Manche befürchten ein Erstarken der traditionalistisch geprägten Kirche, und zwar vor allem durch evangelikal-katholische Strömungen wie z.B. die Jüngerschaftsschulen. Nachwuchs für pastorale Berufe gibt es aus diesen Kreisen nicht nur, was Priester anbelangt. Die Gegenbewegung dazu sind die, die sich als katholische Christ*innen oder auch ökumenisch (und im Übrigen problemlos unter Einbeziehung von aus der Kirche ausgetretenen Personen) zusammentun und miteinander ihr Christsein leben: in vielfältigen liturgischen Feiern, im Erleben von Gemeinschaft und in sozial-caritativem Tun. Der Übergang ist schon im Gange.

Was auf jeden Fall zunimmt, ist das Bedürfnis, den kirchlichen bzw. pastoralen Beruf zu verlassen.

Die Frage, ob und ggf. wie dieser Übergang konstruktiv gestaltet werden könnte, ist meinem Eindruck nach wenig im Gespräch. Das Interesse an und die Hoffnung auf Kirchenentwicklungsprozesse hat stark nachgelassen. Man hört sich mal den einen oder anderen Vortrag an, liest möglicherweise mal wieder ein Buch, findet die eine oder andere Idee ganz interessant. Aber das war es dann auch.

Das Bild von Kirche, das in Deutschland und weltweit als das zukunftsträchtige vorgestellt wird, ist das der synodalen Kirche. Ich habe nicht den Eindruck, dass es die Engagierten, mit denen ich zu tun habe, so wirklich vom Hocker reißt. Manche setzen ihre Hoffnung in dieses Modell und merken im Erleben der praktischen Ausgestaltung, wie wenig letztlich möglich ist, z.B. was die Mitbestimmung bei Bischofsernennungen anbelangt. Synodal klingt sehr nach „schön, dass wir mal wieder geredet haben“. Nach Demokratie und selbstbestimmten Christsein klingt es eher nicht. Ich nehme kein Szenario oder Zukunftsbild von Kirche wahr, das echte Energien freisetzt. Das Kirchenbild des 19. Jhd., das die Rückwärtsgewandten propagieren, wirkt abschreckend. Die synodale Kirche andererseits wirkt nicht wirklich faszinierend, sondern wird eher wahrgenommen als: „Ist ok, kann man probieren.“ Vielleicht findet man die treffendsten Kirchenbilder in Karikaturen, wie z.B. bei Thomas Plaßmann. Sie ermöglichen ein Schmunzeln, ein Wiedererkennen dessen, worunter man leidet und die Chance, durch Humor einen inneren Abstand zum Trauerspiel zu finden.

Und dann bleibt man halt noch eine Weile, solange man es erträgt und das Gefühl hat, noch etwas Positives bewirken zu können.

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