012022

Foto: Brooke Cagle/Unsplash

Statements

Franz Gulde

In sich gehen – außer sich sein

Wir wissen nicht nur um die Krisen unseres Planeten, nein, wir spüren bereits die Konsequenzen unseres Handels. Wenn wir auf die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern hören, sind die Leitplanken für unser zukünftiges Leben doch eigentlich klar. Die Zeit – und das betrifft vor allem die Industrieländer – der Ausbeutung der Ressourcen ist vorbei. Angesichts der drohenden Kipppunkte1 unseres globalen Systems stellen wir fest, dass wir uns und letztlich alle Menschen auf unserem Planeten der Grundlage unseres Lebens berauben, wenn wir weiter so wachstumsorientiert leben wie bisher, wenn wir unseren Lebensstil zum Maßstab für das globale Zusammenleben machen.

Wir wissen um die Klimakrise, die Vielzahl der fragilen Staaten, die Migrationsbewegungen, die Ernährungskrise. Die Liste ließe sich noch fortsetzen. Angesichts dieser Krisen vor unserer Haustür und weltweit fühlen wir uns vielfach ohnmächtig, Macht-los. Und dann versuchen wir zu verstehen, woher die Krisen, Konflikte, Spaltungen kommen. Die Komplexität der Prozesse hat so zugenommen, dass jede und jeder einzelne von uns sie kaum ergründen kann.

Wenn wir uns ohnmächtig, machtlos fühlen, stellt sich die Frage, woher uns die Energie, die Motivation und die Hoffnung zuwachsen, dass wir die Welt noch dahingehend wandeln können, dass nicht nur ein Überleben, sondern ein gutes Leben für alle Menschen möglich wird.

Zeichen der Zeit erkennen

Spätestens mit dem Jahr 2015 sind die Krisen unseres Planeten unüberhörbar in die Öffentlichkeit getreten: Die Vereinten Nationen verpflichteten sich auf die Agenda 2030 (die 17 Nachhaltigkeitsziele – SDGs), die Pariser Klimakonferenz verabschiedete das Ziel, die globale Erwärmung deutlich unter zwei Grad, möglichst auf 1,5 Grad, zu begrenzen, und Papst Franziskus veröffentlichte seine Enzyklika Laudato Sí, die weit über die Kirche hinaus wahrgenommen und rezipiert wird. Wir haben verstanden, dass in unserem „gemeinsamen Haus“ alles mit allem verbunden ist. Wenn wir uns dem Anspruch der SDGs stellen möchten, niemanden zurück zu lassen („leave no one behind“), wird schnell klar, dass wir über unseren eigenen Tellerrand hinausschauen müssen, über den geographischen, den kulturellen und auch den religiösen Tellerrand. Und wenn wir uns auf diesen Weg begeben, stellen wir – zum Teil schmerzhaft – fest, dass unsere europäische Weltsicht und unsere Art zu leben und zu wirtschaften seit der Industrialisierung nicht dazu beigetragen haben, die Welt sozial und ökologisch gerecht zu gestalten. Unser Lebensstil trägt vielmehr bis heute dazu bei, Abhängigkeiten zu stabilisieren, statt sie aufzulösen und auf Augenhöhe zu kommunizieren. Auch wir (kirchlichen) Hilfswerke lernen gerade mühsam, was es für unsere Arbeit bedeutet, nach wie vor existierende koloniale Denkmuster aufzudecken und Raum für Diversität zu schaffen – in unseren Köpfen, Herzen und bei unserer alltäglichen Arbeit, international und in Deutschland.

Sinne schärfen

In dieser hochkomplexen Situation hilft es – in Anlehnung an den Grundsatz ganzheitlicher Bildung von Johann Heinrich Pestalozzi (Lernen mit Kopf, Hand und Herz) – unsere Sinne zu schärfen:

  • Wir brauchen gute Augen, um genau hinzusehen, uns ein eigenes Bild zu machen, um uns auf Augenhöhe begeben und begegnen zu können.2
  • Wir brauchen gute Ohren, um still zu werden, aufeinander zu hören, um aufnehmen und empfangen zu können.
  • Wir brauchen offene Hände, um in Beziehung zu treten, zu berühren und uns berühren zu lassen.
  • Wir brauchen Sensibilität für unsere Sprache, um aus unserer individuellen Sicht in einen offenen Dialog eintreten zu können.
  • Wir brauchen ein weites Herz, um Vielfalt als Bereicherung wahrnehmen zu können.

Wenn wir unsere Sinne bewusst schulen und einsetzen, verändert sich auch unsere Perspektive darauf, wie ein gutes Leben für alle Menschen realisiert werden kann. Wir bekommen Abstand von unseren westeuropäisch geprägten Denkmustern und Lösungsansätzen und tauchen ein in Denkmuster und Lösungsansätze von Menschen anderer Länder und Kulturen, bspw. von indigenen Gemeinschaften, die in enger Verbundenheit mit der Natur ihr Leben gestalten.

Wenn wir unsere Sinne bewusst schulen und einsetzen, verändert sich auch unsere Perspektive darauf, wie ein gutes Leben für alle Menschen realisiert werden kann.

Diese Sensibilisierung ist aber nicht allein in globalen Kontexten wirksam und anwendbar. Wer hat schon regelmäßig die Chance, im internationalen Austausch zu stehen? Nein, sie kann auch vor unserer eigenen Haustür dazu beitragen, gegenseitiges Verständnis zu schaffen, z. B. kulturelle und religiöse Vielfalt und Diversität in Deutschland als Potential und Bereicherung des Zusammenlebens wahrzunehmen und nicht als Bedrohung der eigenen Identität. Ja, jede und jeder kann an der Stelle, wo sie/er steht, dazu einen Beitrag leisten.

Wenn wir in dieser Weise an unserer Haltung arbeiten, werden wir feststellen, dass unsere Weltgemeinschaft nicht allein mit unserem Verständnis der Welt, unseren Werten und Haltungen zukunftsfähig gestaltet werden kann. Wir sind auf die Erfahrung und Intelligenz möglichst vieler Menschen aus unterschiedlichen Ländern, Kulturen und Religionen im globalen Süden wie im globalen Norden angewiesen. Diese Perspektive macht uns in einem gesunden Maß bescheidener. Wir werden uns bewusst, dass die von uns erdachten Lösungen nicht auf andere Kontexte übertragbar sind und dass es in jeder Region unserer Welt Menschen gibt, die die Kompetenz haben, selbst Lösungen für ihre Situation zu entwickeln. Es gibt ein großes Potential, voneinander zu lernen.

Bescheidenheit lernen

Bescheidenheit lernen heißt, unsere eigenen Denkmuster und Handlungsweisen zu hinterfragen. War es politisch in den letzten Jahren undenkbar, von Verzicht zu sprechen, ohne massiv Wählerstimmen zu verlieren, sehen wir heute, dass der Krieg in der Ukraine die öffentliche Meinung gewandelt hat. Energie sparen, das Auto häufiger mal stehen lassen, die Heizung um einige Grad herunterdrehen. Diese Themen werden aktuell öffentlich kommuniziert und finden in vielen Interviews, die man in den Medien verfolgen kann, Anklang und Akzeptanz in der Bevölkerung. Es stellt sich die Frage, warum wir erst in eine solche Krise und eine Steigerung der Lebenshaltungskosten geraten müssen, um eine positivere Haltung zum Verzicht zu entwickeln.

Das Christentum, aber auch andere Religionen, kennen das Fasten als eine Praxis des Verzichts. Vielfach ist uns diese Tradition jedoch verloren gegangen oder von kommerziellen Anbietern von Fastenkuren und Diäten aus der Hand genommen worden.

Fasten und Verzicht haben in der christlichen Tradition eine tiefere Bedeutung. Das Fasten soll uns frei machen, unsere Beziehungen zu unserer Mitwelt und zu Gott neu auszurichten. Fasten kann uns helfen, mit Blick auf den Reichtum und die Vielfalt der Welt unsere Begrenztheit anzuerkennen, Bescheidenheit zu lernen und am Ende bereichert und beschenkt daraus hervorzugehen.

Die Bischöfe haben Misereor beauftragt, mit der jährlichen Fastenaktion diese Praxis des Fastens lebendig zu halten. Misereor beschreibt den Kern der Fastenaktion so:

Fastenaktion. In sich gehen. Außer sich sein. Fasten heißt Fragen: Woraus lebe ich? Wofür setzen wir uns ein? Was können wir teilen? In der Fastenaktion finden wir Antworten und handeln gemeinsam. Gegen globale Ungerechtigkeit und die Zerstörung der Schöpfung. Mit Aktionen, Spenden und unserer politischen Stimme.3

In sich gehen. Woraus leben wir? Sinne schärfen, Bescheidenheit lernen, aus den Quellen unseres Glaubens schöpfen. Das ist die eine Bewegung des Fastens. Die andere Bewegung führt konsequenterweise nach außen: Außer sich sein. Wofür setzen wir uns ein? Was können wir teilen? Wir können uns nicht damit abfinden, wie wir mit der uns anvertrauten Schöpfung umgehen. In diesem Wechselspiel verbinden sich Spiritualität und Politik. Die Besinnung auf unsere christlichen Wurzeln fordert uns heraus, prophetisch, politisch zu handeln.

Wandel gestalten

Die Besinnung auf unsere christlichen Wurzeln fordert uns heraus, prophetisch, politisch zu handeln.

Was trägt dazu bei, uns angesichts der globalen Krisen aus dem Tal der empfundenen Machtlosigkeit herauszuführen? Was können wir tun, um den notwendigen Wandel zu gestalten? Zeichen der Zeit erkennen, Sinne schärfen und Bescheidenheit lernen. Wenn wir uns auf diesen Weg einlassen, werden wir unseren Platz und unsere Rolle im Zusammenleben in unserem gemeinsamen Haus neu wahrnehmen. Wir werden Vielfalt als Bereicherung erfahren und mit dieser neuen „Brille“ Krisen neu einordnen und Lösungen anders denken.4 Aus dieser neuen Perspektive werden sich konsequenterweise unterschiedliche Handlungsoptionen entwickeln,
  • auf der individuellen Ebene, z. B. ein bewusster Umgang mit unseren Lebensmitteln, das Zahlen von fairen Preisen, ein ressourcenschonendes Mobilitätsverhalten;
  • auf der lokalen Ebene, z. B. im Einsatz für eine nachhaltige und faire Beschaffung von Materialien und Lebensmitteln in der Pfarrei oder bei Schulveranstaltungen, indem wir unsere Stadt zu einer essbaren Stadt5 machen, indem wir uns auf dem Dorf bei den Politikerinnen und Politikern für mehr öffentlichen Nahverkehr einsetzen;
  • auf der globalen Ebene, z. B. indem wir Teil einer Bewegung oder Mitglied in einem Netzwerk werden, indem wir mit internationalen Organisationen zusammenarbeiten oder uns an internationalen Kampagnen beteiligen. Bewegungen wie Fridays for Future oder die Initiative Lieferkettengesetz6 zeigen, was wir gemeinsam bewegen können.

So können wir mit den uns eigenen Mitteln einen wirksamen Beitrag zum Wandel hin zu einem guten Leben für alle Menschen leisten.

Die Sache hat nur einen Haken: Wir können es nicht anderen überlassen, sondern die Kraft zum Wandel – hier und jetzt – können wir, im Vertrauen auf den Beistand des Heiligen Geistes, nur selbst entfalten. Und mit den beiden Leitworten den letzten Misereor Fastenaktionen bin ich überzeugt: „Es geht! anders“ und „Es geht! gerecht“.

Keine Vertröstung, aber ein Trost: Bei der Größe und Komplexität der Herausforderungen steht es nicht in unserer Macht, das Reich Gottes zu errichten. Wir bauen an ihm mit. Gott hat uns die Zusage gegeben, dass er zu seiner Zeit die Welt vollenden wird.

  1. Weitere Informationen zu den Kipppunkten: https://wiki.bildungsserver.de/klimawandel/index.php/Kipppunkte_im_Klimasystem.
  2. Vgl. dazu Hans Rosling, Factfullness. Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist, Berlin 2018.
  3. Begleitheft zur MISEREOR-Fastenaktion 2022, 2.
  4. Bildung kann hier einen bedeutsamen Beitrag leisten. Die UNESCO fordert einen neuen Gesellschaftsvertrag für Bildung: Rethinking our futures together (unesco.org).
  5. Konzept | Essbare Stadt (essbare-stadt.de).
  6. Initiative Lieferkettengesetz.

futur2 möglich machen

Hinter der futur2 steht ein Verein, in dem alle ehrenamtlich arbeiten.

Für nur 20 € pro Jahr machen Sie als Mitglied nicht nur die futur2 möglich, sondern werden auch Teil eines Netzwerks von Leuten, die an der Entwicklung von Kirche und Gesellschaft arbeiten.

» MEHR ERFAHREN