012022

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Praxis

Lukas Dessoy

gASTWERKe und Nachhaltigkeit

Unweit von Kassel, zwischen Nordhessen und Südniedersachsen, leben 50 Menschen zwischen unter einem und 75 Jahren in einer Lebensgemeinschaft zusammen. Die Gemeinschaft ist bei Weitem kein Abbild der Gesellschaft, aber ein Mikrokosmos, in dem unterschiedliche Menschen in Kontakt sind, sich intensiv aufeinander beziehen und ihren Lebensalltag miteinander abstimmen. Hier wohnen und arbeiten Menschen unterschiedlicher Herkunft, mit unterschiedlichen Bildungsbiographien und Lebensentwürfen. Wir erproben und erforschen in unserer Gemeinschaft ein nachhaltiges Zusammenleben, das über den Bau von Niedrigenergiehäuser, die Nutzung von Solaranlagen und Carsharing hinausgeht.

Auch in den gASTWERKen, wie sich unsere Lebensgemeinschaft nennt, praktizieren wir auch diese wichtigen Maßnahmen ökologischer Nachhaltigkeit. Die Transformation zu einer zukunftsfähigen, also nachhaltigen Lebensweise erfordert jedoch mehr. Um als Weltgesellschaft in Zukunft miteinander auf diesem Planeten leben zu können, braucht es ein Umdenken und Einüben von neuen Praktiken und Handlungsweisen in allen vier Dimensionen der Nachhaltigkeit: Ökologie, Soziales, Kultur und Ökonomie.1

Abb. 1: Nachhaltigkeitsdimensionen (Stoltenberg 2009, Stoltenberg, Michelsen 1999).

Um als Weltgesellschaft in Zukunft miteinander auf diesem Planeten leben zu können, braucht es ein Umdenken und Einüben von neuen Praktiken und Handlungsweisen in allen vier Dimensionen der Nachhaltigkeit: Ökologie, Soziales, Kultur und Ökonomie.

Während der Fokus von “Fridays for Future”, “Ende Gelände”, den Grünen, anderen Parteien und Initiativen auf dem ökologischen Aspekt von Nachhaltigkeit liegt, ist die größte Herausforderung in der Lebensgemeinschaft der gASTWERKe der soziale Zusammenhalt. Dies wird seit zwei Jahren noch stärker deutlich, in denen auch in den gASTWERKen dieser Zusammenhalt durch die Pandemie und ihre Folgen auf die Probe gestellt wird.

Die Frage, die sich als zentral herauskristallisiert, lautet: Wie können wir in den gASTWERKen unser Zusammenleben so gestalten, dass es trotz unterschiedlicher, ja manchmal konträrer Meinungen und Werte langfristig nicht zu mehr Trennung, sondern zu mehr Verbindung führt? Denn eins ist klar: Eine nachhaltige Lebensweise, das gute Leben für alle, kann nur miteinander funktionieren. Wir erproben im Sinne eines Reallabors ein Miteinander, das nicht nur uns als Gemeinschaft zusammenhält, sondern im Prinzip auch von anderen Gruppen praktiziert werden kann. Darüber hinaus kann es eine Inspiration für Fragen des gesamtgesellschaftlichen Miteinanders sein.

Es gibt keine einfache und erst recht keine allgemeingültige Antwort auf  die Frage eines guten Zusammenlebens in zunehmender Unterschiedlichkeit. Es ist überhaupt keine Frage, auf die es eine klare oder endgültige Antwort gibt. Vielmehr ist es ein Forschungsfeld, welches beim Erkunden immer wieder neue Erkenntnisse bereithält. Beim Gehen zeigen sich Grundzüge einer neuen Gestalt nachhaltigen Zusammenlebens. In den letzten 15 Jahren seit der Gründung der gASTWERKe haben wir vier Prinzipien entdeckt, die uns auf dem Weg zu mehr Verbindung relevant und zielführend erscheinen und die wir in der Beratung von Gruppen, die gemeinsam leben, arbeiten und wirken möchten, vermitteln und weitergeben.

Wie können wir in den gASTWERKen unser Zusammenleben so gestalten, dass es trotz unterschiedlicher, ja manchmal konträrer Meinungen und Werte langfristig nicht zu mehr Trennung, sondern zu mehr Verbindung führt?

Prinzipien und Instrumente des Zusammenlebens

1. Verbindliche Austauschforen einrichten und pflegen

Über die Jahre hat sich gezeigt, dass für den Zusammenhalt nichts wichtiger ist, als stetige Kommunikation. Hierzu sind als Instrument verbindliche Austauschforen zu schaffen und zu pflegen. Wir haben in unserer Lebensgemeinschaft zwei Austauschräume: Wöchentlich treffen wir uns zu einem organisatorischen Treffen, auf dem vom Autokauf bis zur Debatte um vegetarisches Katzenfutter alles diskutiert und entschieden werden kann. Alle Mitglieder der Gemeinschaft können dort ihre Themen einbringen, die entweder als Information an die Gruppe gegeben werden, inhaltlich besprochen oder als konkreter Vorschlag entschieden werden.

Alle drei Wochen findet ein sozialer Austauschraum statt, in dem wir uns zu Ängsten, Nöten, Befindlichkeiten und Bedürfnissen austauschen. Dieser Raum ist von Langsamkeit und Achtsamkeit geprägt. Die Teilnahme an diesen Austauschräumen ist nicht verpflichtend, jedoch kommen die meisten Gemeinschaftsmitglieder zu den Treffen.

Für den Zusammenhalt ist nichts wichtiger als stetige Kommunikation.

2.  Verantwortung und Ressourcen teilen

Nicht alle Menschen, die in der Lebensgemeinschaft wohnen, sind befreundet. D.h. die Basis für einen regelmäßigen verbindlichen Austausch ist nicht in erster Linie die freundschaftliche Verbundenheit. Vielmehr sind die 50 Menschen, die hier am Platz wohnen, durch die wechselseitige Selbstverpflichtung miteinander verbunden, Verantwortung und Ressourcen zu teilen. Wir leben in einer solidarischen Ökonomie, das heißt wir geben unser individuelles Einkommen zu 100% in einen gemeinsamen Topf, aus dem wir unsere gesamten gemeinsamen und individuellen Ausgaben bestreiten. Die Gemeinschaftsmitglieder (nicht alle, aber doch viele) kümmern sich gemeinsam um die Betreuung und Begleitung unser 20 am Ort lebenden Kinder, wir kochen und essen größtenteils zusammen, wir wohnen in Wohngemeinschaften und besitzen Autos, Häuser, Werkzeug und vieles mehr gemeinsam. Die konkreten Verbindungen können darüber hinaus noch durch gemeinsame Erwerbsarbeit, Ehrenamt, andere Projekte oder auch Verwandtschaftsverhältnisse etc. geprägt sein.

Die Menschen, die hier wohnen, sind durch die wechselseitige Selbstverpflichtung miteinander verbunden, Verantwortung und Ressourcen zu teilen.

Commitments und daraus wachsende Verbindungen stellen sicher, dass wir uns regelmäßig austauschen, verhandeln und einigen müssen. Das kann sich im ersten Moment nach einer Bürde anhören, ist vielmehr der Motor dafür, in Kontakt zu bleiben und sich nicht von den Bedürfnissen und Meinungen der anderen zu entfremden und in Trennung zu gehen.

3. Differenzen anerkennen und aushalten

Auch wenn es Anstrengung und Überwindung erfordert, streben wir an, in Konfliktsituationen und Auseinandersetzungen unterschiedliche, auch konträre Meinungen zu hören, anzuerkennen und nachzuvollziehen, wie es zu einer Meinung oder einem Verhalten gekommen ist. Dafür ist es wichtig, Konflikte nicht zu vermeiden oder sie zu negieren, sondern sie als Entwicklungsmöglichkeit und als Chance zu sehen und zu kultivieren, etwas Neues über andere und sich selbst zu lernen. Oft tendieren wir dazu, in Konflikten vorschnell nach Lösungen zu suchen und verpassen dabei auf das Bedürfnis der Konfliktparteien einzugehen und ihre Meinung in Ruhe anzuhören. Es hilft in vielen Situationen, die Differenzen angemessen zu würdigen und erst danach in eine Lösungsfindung gehen. Hier sind die Prinzipien gewaltfreier Kommunikation hilfreich.

Es ist wichtig, Konflikte nicht zu vermeiden oder sie zu negieren, sondern sie als Entwicklungsmöglichkeit und als Chance zu sehen und zu kultivieren, etwas Neues über andere und sich selbst zu lernen.

4. Entscheidungen treffen ohne Minderheiten abzuhängen

In den gASTWERKen werden Entscheidungen im Konsentverfahren getroffen, das aus der Soziokratie bekannt ist. Es bedeutet kurz gesagt, dass Entscheidungen nur dann getroffen und umgesetzt werden, wenn keine Person schwerwiegende Bedenken hat. Dieses Prinzip soll sicherstellen, dass eine einzelne Person nicht durch Gruppenentscheidungen in existenzielle Nöte geraten kann bzw. das Gefühl bekommt, übergangen zu werden – und deshalb vielleicht die Gemeinschaft verlassen müsste. Die Erfahrung bei uns ist, dass dieser Grundsatz nicht in Stillstand und Blockaden mündet. Vielmehr führt er tendenziell dazu, dass im Vorfeld einer Entscheidung viele Klärungen stattfinden, die Bedürfnisse aller Gehör finden und von der Person oder der Gruppe, die etwas umsetzen möchte, ein Weg gesucht wird, bei dem möglichst alle mitgehen können.

Aus diesen vier Prinzipien und den zugehörigen Instrumenten folgt ein großes Wohlwollen in inhaltlichen Fragen, eine hohe Nachsichtigkeit bei Konflikten und Missverständnissen und ein starkes Vertrauen, dass jede:r als Individuum einen Platz in der Gruppe haben darf, bei allen Interessensunterschieden, Meinungsverschiedenheiten und Konflikten, die es gibt. Insgesamt mündet es in einem Wir-Gefühl im Guten wie im Schlechten, einer Zugehörigkeit über einzelne Fragen und Konflikte hinaus.

Entscheidungen werden nur dann getroffen und umgesetzt, wenn keine Person schwerwiegende Bedenken hat.

Die Attraktivität, die durch dieser Art des Zusammenlebens entsteht, ist der entscheidende Punkt zu dieser Gruppe oder besser zu dieser Gemeinschaft dazugehören zu wollen. Daraus wächst ein starker Zusammenhalt in der Gemeinschaft. Die Erfahrungen in Gruppen wie den gASTWERKen, die innovative Formen des Zusammenlebens erproben, können Hinweise darauf geben, wie eine veränderte, nachhaltige Kultur  gesellschaftlichen Zusammenlebensaussehen könnte.

Praxis unter verschärften Rahmenbedingungen

In den letzten beiden Pandemie-Jahren sind die Kommunikation und der Zusammenhalt in der Gemeinschaft verstärkt auf die Probe gestellt worden. Wir haben auch die Grenzen von Inklusion und Zusammenhalt erlebt. Wie in der Gesamtgesellschaft gab es auch zur Covid-19-Pandemie, den damit verbundenen Maßnahmen und Einschränkungen sowie dem Umgang damit sehr unterschiedliche Positionen. In der Gemeinschaft gab es Menschen, die aus Angst vor Ansteckung in freiwillige Selbstisolation gegangen sind. Es gab auch Menschen, die sich aus Überzeugung und Solidarität über die staatlichen Vorgaben hinaus eingeschränkt haben. Andere wiederum standen den Maßnahmen kritisch gegenüber, befolgten sie aber. Manche hatten einen sehr lockeren Umgang mit den Maßnahmen und Einzelne zweifelten an der Existenz des Virus. Gleichzeitig bestand die Notwendigkeit, sich aufgrund der gemeinsamen Räumlichkeiten und des eng miteinander verwobenen Alltags auf einen gemeinsamen Umgang zu einigen.

Wir haben auch die Grenzen von Inklusion und Zusammenhalt erlebt.

Covid-19 und der Umgang mit der Pandemie und den verbundenen Maßnahmen war Thema in vielen Austauschräumen. Wir haben in der großen Runde und in kleineren Gruppen dazu geredet und versucht, uns auf einen Weg zu einigen, den wir gemeinsam gehen können. Das war mit vielen Meinungsverschiedenheiten, wechselseitigem Unverständnis und auch Vorwürfen verbunden. Das ist verständlich und konnte in unseren Strukturen weitgehend aufgefangen werden. Das änderte sich allerdings, als Menschen mit extremen Meinungen nicht mehr zu den Austauschräumen kamen und es somit keine Möglichkeit mehr gab, sich als Gruppe auszutauschen und anzunähern. Die Dynamik der Entfremdung spitzte sich immer weiter zu, bis wir irgendwann an dem Punkt ankamen, an dem sich die unterschiedlichen Überzeugungen und vor allem das unterschiedliche Handeln nicht mehr vereinbaren ließen. Zwei Menschen, Gründungsmitglieder der Gemeinschaft, fühlten sich nicht mehr verstanden und brachten ihre Bedenken und Meinungen nicht mehr in die Entscheidungsprozesse mit ein. Schließlich beschlossen sie, auszuziehen. Dadurch wurde das Spektrum der Meinungen kleiner und der weitere Umgang mit der Pandemie leichter. Aber es bleibt eine Unzufriedenheit mit der Entwicklung der Situation und insbesondere dem Misslingen von Inklusion.

Gesellschaftlich ist Exklusion keine Lösung

In unserem Falle mag es teilweise ein probater Lösungsweg gewesen sein, dass ein extremer Teil die Gruppe verlässt und in der verbleibenden Gruppe dadurch wieder ein gemeinsames Handeln möglich wird. Aber für uns als Gesellschaft ist das keine Option. Vielmehr ist es unsere Aufgabe, immer wieder Austauschräume zu schaffen, zu denen sich alle eingeladen und bei denen sich alle sicher fühlen können, sich in ihren Zweifeln zu zeigen. Und es ist unsere Aufgabe, uns der Herausforderung zu stellen, konsequent Differenzen auszuhalten und anzuerkennen, auch wenn es Anstrengung erfordert.

Es ist unsere Aufgabe, uns der Herausforderung zu stellen, konsequent Differenzen auszuhalten und anzuerkennen, auch wenn es Anstrengung erfordert.

Wir als Lebensgemeinschaft gASTWERKe möchten die Auseinandersetzung rund um den Umgang mit der Pandemie dafür nutzen, unsere Kommunikationsräume und -formen weiterzuentwickeln, damit wir es in kommenden Krisen noch besser schaffen, Konflikte als verbindendes statt als trennendes Element wahrzunehmen und zu nutzen.

  1. U. Stoltenberg, Kultur als Dimension eines Bildungskonzepts für eine nachhaltige Entwicklung, in: KULTURELLE BILDUNG ONLINE (URL: https://www.kubi-online.de/artikel/kultur-dimension-eines-bildungskonzepts-nachhaltige-entwicklung, 06.07.2022); Vgl. U. Stoltenberg, Mensch und Wald. Theorie und Praxis einer Bildung für eine nachhaltige Entwicklung am Beispiel des Themenfelds Wald, München 2009; U. Stoltenberg, G. Michelsen, Lernen nach der Agenda 21. Überlegungen zu einem Bildungskonzept für eine nachhaltige Entwicklung, in: Stoltenberg, U., Michelsen, G., Schreiner, J. (Hrsg.), Umweltbildung – den Möglichkeitssinn wecken. NNA-Berichte – Alfred Toepfer Akademie für Naturschutz, Jg. 12 (1999), H. 1, 45-54.

Kontakt:

gASTWERKe e.V.: www.gastwerke-akademie.de, www.gastwerke.de,

Lebensgemeinschaften und Kommunen in Deutschland und weltweit: www.gen-deutschland.de, www.kommuja.de und www.gen-world.com

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