Gesellschaft der Spannungs-Pole
Download | Sprecher: Uli Keip
Was mich hoffen lässt – und was mich bange macht
Zunächst möchte ich meine Beobachtungen unserer gesellschaftlichen Situation in Deutschland umreißen und dazu einige Wahrnehmungen zusammentragen, bevor ich dann, davon ausgehend, mein eigenes Hoffen und Bangen beschreibe.
Wir sind im Begriff, eine Diversitäts-sensible Gesellschaft zu werden
Wir befinden uns, angestoßen durch die Klimakrise, gesellschaftlich in der Situation einer gewaltigen sozial-ökologischen Transformation, und gleichzeitig leben wir, vielleicht durch die Beschränkungen der Corona-Pandemie kurz unterbrochen, an ganz vielen Stellen mit unseren eingeübten Inkonsistenzen wie gewohnt weiter. Als – zugegebenermaßen stereotypes – Beispiel mag das Einkaufen von Bio-Produkten auf dem örtlichen Markt, zu dem man jedoch mit dem SUV fährt, genügen.
Wir sind längst zu einer Einwanderungs-Gesellschaft geworden und können viele Dienstleistungen (z.B. in Pflege, Reinigung, Land- und Hauswirtschaft etc.) nur durch Zuzug von Arbeitskräften gewährleisten, zugleich aber spaltet uns das Thema Migration, insofern es viele – auch politisch geschürte – (Verlust-)Ängste bei den schon lange hier Lebenden oder vor langer Zeit Zugezogenen hervorruft, Ängste vor Überfremdung, sozialem Abstieg, steigender Kriminalität.
Wir leben in einer zunehmend digital entgrenzten und global vernetzten Welt
Wir sind im Begriff, eine Diversitäts-sensible Gesellschaft zu werden, unterschiedliche sexuelle Orientierungen zu achten, mit religiöser, kultureller und ethnischer Pluralität respektvoll umzugehen, parallel hierzu ist aber ein ideologischer Kampf um Identitätspolitik entstanden; es wird darum gefightet, wer welche Normen für das Miteinander-Leben vorgibt und vorgeben darf.
Wir leben in einer zunehmend digital entgrenzten und global vernetzten Welt, auch wenn der Netzausbau auf dem Land oder in unseren Schulen zum Teil mühsam vorangeht, gleichzeitig bewegen wir uns zunehmend in begrenzten Informations- und Kommunikations-Blasen (sei es in den social media, in Sprach- und Kulturkreisen, aber auch in den klassischen Medien) und scheuen uns davor, in der öffentlichen Debatte unsere eigenen Positionen zur Diskussion zu stellen.
Spannungen in einer demokratischen Gesellschaft sind nicht nur nichts Ungewöhnliches, sondern Zeichen für Offenheit
Wir leben in einem Rechtsstaat, in einer seit Jahrzehnten bewährten Demokratie, in wirtschaftlich gesicherten und politisch stabilen Verhältnissen, und doch verlieren nicht wenige Menschen ihr Vertrauen in die Politik, in diesen Staat und seine Institutionen, in die klassischen Medien, glauben, sich gegen eine heraufziehende (Meinungs-)Diktatur zur Wehr setzen, querdenken und Widerstand leisten zu müssen – etwa gegen Corona-Verordnungen.
Die Liste wäre erweiterbar durch diverse Frontstellungen: Europäische Einheit contra Nationalismus, Multi- contra Uni-Lateralismus, zunehmende Säkularität und Entfremdung von Religion auf der einen, Islamophobie auf der anderen Seite, Pro und Contra Corona-Maßnahmen etc. In all diesen Beispielen kommen meines Erachtens tiefe Spannungen, zum Teil aber auch unversöhnliche Gegensätze zum Ausdruck, die unsere gesellschaftliche Situation kennzeichnen und ihre Stabilität gefährden.
Spannungen in einer demokratischen Gesellschaft sind nicht nur nichts Ungewöhnliches, sondern Zeichen für Offenheit. Unterschiedliche Positionen und Haltungen zeichnen eine plurale Demokratie geradezu aus. Eine Bewegung in eine Richtung ruft nach dem Gesetz der Dialektik eine Gegenbewegung in die andere Richtung hervor. Die Frage ist aber jeweils, ob es gelingt, These und Antithese zu einer neuen Synthese zusammenzubringen. Oder anders formuliert, ob es gelingt, unterschiedliche Positionen miteinander im Diskurs und damit in einer konstruktiven Spannung zu halten, oder ob sich die Kluft zwischen den Polen vertieft, unüberbrückbar wird und dann eine Gesellschaft zu zerreißen droht. Letzteres fürchte ich bei den Themen Klima, Migration, Identität und Vertrauen in den Staat. Wir leben zwar nicht in amerikanischen Verhältnissen, wo sich zwei in etwa gleich große Lager unversöhnlich gegenüberzustehen scheinen. In Deutschland gibt es, je nach Thema, große Mehrheiten, die für die sozial-ökologische Transformation, für humanitäre Flüchtlingspolitik und wirtschaftlich orientierte Einwanderungspolitik, für Respekt vor der Andersartigkeit des Anderen eintreten, aber es gibt auch klare, lautstarke, in ihren Positionen verfestigte und gut organisierte Minderheiten, die konträre Haltungen vertreten. Gesellschaftliche Dialoge, in denen die unterschiedlichen Positionen einander zuhören und gemeinsam nach Lösung suchen, finden kaum statt.
Dabei hat sich … gezeigt, dass neue gesellschaftliche Koalitionen über religiöse und weltanschauliche Grenzen hinweg entstehen können, wenn man gemeinsame Ziele verfolgt
Was lässt mich in dieser Situation trotzdem hoffen? Ich möchte zwei Beispiele aus meinem unmittelbaren Nahbereich der Katholischen Akademie Freiburg erzählen, die ich als Hoffnungsgeschichten betrachte und die pars pro toto für viele solcher Geschichten stehen mögen:
Seit etwa fünf Jahren haben wir eine hauswirtschaftliche Ausbildung für Geflüchtete in der Akademie. Inzwischen haben drei Personen die Ausbildung erfolgreich mit der staatlichen Prüfung abgeschlossen, und die beiden ersten ehemaligen Azubis haben bereits eine feste Anstellung in ihrem Beruf. Sie werden in unserer Gesellschaft gebraucht und sind stolz darauf. Wenn ich rückblickend auf ihre Entwicklung schaue, die sie in Sachen Spracherwerb, kulturelle Akklimatisierung, Zurechtfinden in unserer Gesellschaft, Einbindung in den deutschen Arbeitsmarkt gemacht haben, dann macht mich das glücklich und ich bin auch etwas stolz auf unser Haus und unsere Mitarbeiter*innen. Wir haben kräftig investiert, haben eine eigene Ausbildungs-Betreuerin als erste Ansprechpartnerin eingestellt; natürlich lief nicht alles konfliktfrei ab, aber wir haben sehr viel von den jungen Leuten zurückbekommen. Diese Ausbildung ist für mich ein hoffnungsvolles Beispiel gelungener Integration von Geflüchteten über den Arbeitsmarkt, so dass am Ende eine win-win-Situation entsteht.
Ein zweites Beispiel: Um das klimapolitische Ziel unseres Freiburger Erzbischofs „Klimaneutrale Diözese 2030“ zu befördern und zugleich auf den dringenden Handlungsbedarf aufmerksam zu machen, haben wir ein neues Format „Welterschöpfungstag, Deutschland“ entwickelt. Wir legen den Ressourcenverbrauch in Deutschland zu Grunde und veranstalten diesen Studien- und Aktionstag deshalb an dem Tag, an dem die natürlichen Ressourcen der Erde aufgebraucht wären, wenn alle Menschen so leben würden wie wir; derzeit ist das Anfang Mai der Fall. In dieser Dekade werden wir jährlich einen anderen thematischen Akzent der sozial-ökologischen Transformation setzen. Von Anfang an waren jungen Menschen in die Gestaltung des Tages eingebunden, besonders auch Vertreter*innen der „Fridays for future“. Dabei hat sich – nicht zum ersten Mal, aber für mich ein deutliches Hoffnungszeichen – gezeigt, dass neue gesellschaftliche Koalitionen über religiöse und weltanschauliche Grenzen hinweg entstehen können, wenn man gemeinsame Ziele verfolgt. Als katholische Akademie sind wir in solchen Bündnissen und gesellschaftlichen Debatten allerdings nicht gefragt, weil wir katholisch sind, sondern eher, obwohl wir katholisch sind, aber weil man uns abnimmt, dass wir etwas beizutragen haben, in diesem Fall zur klimapolitischen Diskussion, und dass wir es mit dem Dialog ernst meinen.
Mir scheint, Kirche muss erst wieder lernen, sich in der heutigen Welt und Gesellschaft theologisch substantiell zu Wort zu melden
Ein großes Problem aber sehe ich in der Rolle der Kirche, und ich beziehe mich hier ausschließlich auf meine eigene, die katholische Kirche: Sie fällt als gesellschaftlicher Akteur zunehmend aus. Durch die Skandale der letzten Jahre „entzaubert“, zu sehr mit sich selbst beschäftigt, insofern seit Jahrzehnten angemahnte Reformen immer noch ausstehen, agiert sie zu administrativ, zu zögerlich, zu ängstlich, zu sehr nach innen, zu wenig gesellschaftlich orientiert. Ihre moralische Autorität und Dignität hat sie eingebüßt und sie vermag es nicht mehr, über politische und weltanschauliche Grenzen hinweg für Zusammenhalt zu sorgen, zumal in einer säkularer werdenden Gesellschaft eine religiöse Deutung von Welt und Wirklichkeit zunehmend weniger gefragt ist. Die Corona-Krise, insbesondere im ersten Lockdown, war ein beredtes Beispiel: Was hatte die Kirche als Ganze den Menschen – abgesehen vom Aufruf zur Solidarität – in dieser Krise religiös zu sagen? Welche theologische Deutung bzw. Auseinandersetzung mit der Lage war hilfreich, ermutigend, Hoffnung stärkend?
Mir scheint, Kirche muss erst wieder lernen, sich in der heutigen Welt und Gesellschaft theologisch substantiell zu Wort zu melden, ihre religiöse Perspektive so zu formulieren und plausibel zu machen, dass Menschen diese verstehen können und dass sie sogar wieder etwas von der Botschaft des Evangeliums erwarten. Hier bleibt viel zu tun!