Freude und Hoffnung – Trauer und Angst
Ein Jahr Corona – und von unseren bisherigen Vorstellungen von „Freiheit und Ordnung“ im 21. Jahrhundert scheint nicht mehr viel übrig geblieben zu sein. Oder hätten wir je geglaubt, dass wir eine Maskenpflicht im öffentlichen Raum akzeptieren, nachdem wir die letzten Jahre so um Kopftuchverbot und Verschleierung gerungen haben? Dass wir anordnen, wie weit der Abstand zum Nächsten sein muss? Uns die Freiheit nehmen lassen zu entscheiden, wie viele Gäste aus welchen Familien bei uns zuhause am Küchentisch sitzen? Bei der Impfkampagne schimpfen wir über dauerbesetzte Telefon-Hotlines, idiotische Software und schlechte Planung, aber wir regen uns – zum Glück – auch über alle auf, die ihre Position ausnutzen wollten, um schneller geimpft zu werden. Ist eigentlich klar, wie wenig selbstverständlich es ist, dass wir uns miteinander darauf einigen konnten, nicht diejenigen zuerst zu bedienen, die am meisten bezahlen konnten oder den größten Einfluss haben? Im Rückblick sind wir schlauer und wissen, was wir wann als Gesellschaft und Staat besser hätten „ordnen“ müssen, um mit dem Virus fertig zu werden. Doch ich bin dankbar für alle, die bereit waren zum Schutz der Schwächeren massive Einschränkungen der eigenen Freiheit in Kauf zu nehmen. Wir können stolz auf diese Ordnung sein, die die Nöte anderer an erste Stelle setzt.
Immer wieder beklagen wir, wie prekär unsere Lebensgewohnheiten und wie rasant Veränderungen geworden sind, ja, was uns alles an Unsicherheit abverlangt würde. Tut mir leid. Haben wir eine Idee davon, dass noch im 19. Jahrhundert Menschen in Deutschland durch Hungersnöte nach Missernten bedroht waren, und wie viele Arme weltweit das heute noch sind? Kennen wir die brutalen Verhältnisse, aus denen Menschen nach langer gefährlicher Reise, selbst noch über das Mittelmeer, es zu uns schaffen, und denen wir schnell das Etikett „Wirtschaftsflüchtling“ anheften? Weder im historischen noch im globalen Vergleich haben die meisten von uns Grund, sich zu beklagen.
Uns stehen wissenschaftliche Forschungsmethoden zur Verfügung, von denen frühere Generationen keine Vorstellung hatten. Wir sind frei, sie anzuwenden oder nicht.
Jede neue Erkenntnis zum Klimawandel wird ebenso regelmäßig als Fake-News abgelehnt, wie Querdenker die Existenz von Covid-19 leugnen bis sie selbst auf der Intensivstation liegen. Aber das in weniger als einem Jahr die ersten Impfstoffe gefunden wurden halten wir für „das mindeste, was man erwarten kann“. Dabei stehen uns wissenschaftliche Forschungsmethoden zur Verfügung, von denen frühere Generationen keine Vorstellung hatten. Wir sind frei, sie anzuwenden oder nicht.
Was ist meine Botschaft? Freiheit und Ordnung sind nicht gefährdeter und die Bedrohung unseres privilegierten Lebensstandards nicht größer als früher. Ein wichtiger Unterschied mag aber sein: Wir erfahren mehr und können im Internet mehr Nachrichten mitverfolgen. Wenn in China der berühmte Sack Reis umfiel, hat man zu Zeiten von Marco Polo in Europa bestenfalls davon erfahren, wenn dabei der Kaiser erschlagen wurde. Heute twittert schon jemand den genauen Inhalt des Sacks, die Windstärke und den Fallwinkel bevor er ganz umgefallen ist. Aber wollen wir das dann auch wissen? Viel zu viele Fakten, News und Stories rauschen an uns vorbei. Damit sie relevant sind, brauchen wir ein Framing, einen Bezug. Haben wir Mitleid mit den Betroffenen? „Compassion“ (J.B.Metz)? Haben wir Freunde unter den Armen dieser Welt, an deren Schicksal wir Anteil nehmen? Wie gesagt an digitalen Infos mangelt es nicht, aber sind wir bereit, auch ganz existenziell unser Leben mit den an den Rand Gedrängten zu teilen?
Viel zu viele Fakten, News und Stories rauschen an uns vorbei. Damit sie relevant sind, brauchen wir ein Framing, einen Bezug. Haben wir Mitleid mit den Betroffenen?
Die katholische Kirche ist eine Institution, die eigentlich genau für diese Botschaft einstehen sollte: Menschen überall auf der Welt sind unsere Geschwister, haben gleiche Rechte, gleiche Würde und erwarten, dass wir ihre Sorgen, ihre Ängste und ihre Hoffnungen mit ihnen teilen – nicht nur auf dem Papier oder laut Konzilstexten, sondern in „echt“. Zur Zeit macht unserer Kirche leider eher durch bad news von sich reden. Es ist gut, dass sich nichts mehr auf Dauer vertuschen lässt. Ich hoffe, wir Katholik*innen können aber auch bald wieder zeigen, dass wir unsere Freiheit und die möglichen Ordnungen dieser Zeit nutzen, um zu fragen: „Was tut Not?“ Wie können wir unser Leben mit den Menschen dieser Welt teilen? Denn „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger*innen Christi.“1