012021

Foto: Dominik Scythe/Unsplash

Statements

Helmut Jansen

Fragmentarität auf Augenhöhe

Der gegenwärtige Bedeutungsverlust der Kirche erodiert. Und es scheint gerade die kirchliche Ordnung zu sein, die entgegengesetzt ihrer Intention nicht Stabilität sondern Substanzverlust bewirkt. Der Skandal des sexuellen Missbrauchs hat das Fass vermutlich „nur“ zum Überlaufen gebracht. Und er hat indirekt den Blick auf den ebenfalls vorhandenen geistigen Missbrauch freigelegt, der seine Wurzeln in einem ganz anderen, viel zu wenig aufgearbeiteten Problemfeld hat: Vor allem die katholische Kirche hat sich bis heute unzureichend mit der Neuzeit und ihrem Freiheitsdenken auseinandergesetzt.

Kirche wäre vor allem dann ein Sinn gebendes Orientierungssystem, wenn sie Menschen auf ihre Fähigkeit zu Freiheit und Selbstverantwortung hin anspricht, ohne ihnen dabei die Illusion unbedingter Selbstbehauptung und abgeschlossener Identität einzureden.

In der Konsequenz zeigte sich ein zunehmend einseitiger, deutungshoheitlicher Anspruch, der sich lange noch als Autorität der Gesellschaft behauptete und sich später dann zumindest als (das „einzig wahre“) Parallel-Angebot zur postmodernen Multioptionalität verstand. Innerhalb dieser Ordnung jedoch blieb der Umgang mit Freiheit und Selbstbestimmung schwierig und unaufgearbeitet – vermutlich nicht zuletzt auch aufgrund der Befürchtung, dass eine emanzipative Freiheit die „gottgegebene“ Ordnung der Kirche zerstören könnte. Dass viel zu häufig die Ordnung der Institution über einzelne gestellt wurde, haben die Fälle des Machtmissbrauchs offenkundig gemacht. Aber – so könnte man fragen – wäre nicht angesichts der viele Menschen überfordernden Optionsvielfalt ein Orientierung gebendes Bezugssystem gleichsam entlastend und hilfreich?

Meine These geht in die umgekehrte Richtung: Kirche wäre vor allem dann ein Sinn gebendes Orientierungssystem, wenn sie Menschen auf ihre Fähigkeit zu Freiheit und Selbstverantwortung hin anspricht, ohne ihnen dabei die Illusion unbedingter Selbstbehauptung und abgeschlossener Identität einzureden. Es ist das Eingeständnis, dass Identitätsfindung kaum mehr über das Fragmentarische hinaus gelingen kann. Umso mehr kann es aber zur Aufgabe von Pastoral werden, Menschen darin zu ermutigen, selbstbestimmt „als Fragment zu leben und leben zu können.“ 1

Aporie der Freiheit

Es lohnt sich, die Begriffe Freiheit und Ordnung in ihrer Relation genauer zu bestimmen. Mit Verweis auf Herrmann Krings lässt sich Freiheit transzendentalphilosophisch „als Voraussetzung, Mittelpunkt und Sinn“2 von Systemen behaupten (begrifflich kann hier ein System strenger gefasst werden als der Terminus Ordnung, der – nach Hegel – „als Bezeichnung für einen lockeren Zusammenhang, für ein »Aggregat«“3 steht). Zu fragen wäre deshalb weniger, wie Freiheit innerhalb eines Systems, einer Ordnung, integriert oder gewährleistet werden kann; oder gar: wie viele Nischen für Freiheit geschaffen werden müssten.

Auch wenn Freiheit transzendentallogisch als unbedingte Bedingung jeglicher Systeme gedacht wird, also als das Setzen einer Setzung, so ist sie – wenn sie nicht abstrakt und leer bleiben soll – sich doch darin selbst verpflichtet, konkret zu werden und sich zu realisieren. Damit unterwirft sie sich allerdings (selbstbestimmt) den Bedingungen der Realität. „Das Unbedingte löst diesen Widerspruch dadurch, dass es die Bedingungen seiner Existenz selbst setzt. Kantisch gesprochen: die Freiheit bedarf des Gesetzes; aber das Gesetz ist nicht vorgegeben, sondern selbstgegeben.“4 Dadurch jedoch insistiert Freiheit bleibend auf ihre Unbedingtheit als Fundament ihrer bedingten Setzung.

Wenn Gott selbst im freien Entschluss für die Menschen sein Versprechen unbedingter Liebe und Anerkennung in seiner Menschwerdung real gemacht hat … dann ist mit diesem Offenbarungsereignis die Bedeutung der Möglichkeit, Freiheit zu wagen, aufgezeigt.

Die damit aufgezeigte Aporie, dass „das Unbedingte […] nicht unbedingt real“ sei, markiert weniger einen ärgerlichen, sondern notwendigen Widerspruch: „Wenn der Widerspruch von System und Freiheit ein struktureller Garant realer Freiheit ist, dann ist zu folgern, dass ein System, das diesen Widerspruch nicht in sich trägt, zur Realisierung von Freiheit untauglich ist. Ebenso untauglich ist eine Freiheit, die sich nicht die Bedingungen ihrer Realität formell setzt.“ 5 Übertragen auf politische Systeme nennt Krings beispielsweise die Opposition als den notwendig institutionalisierten Widerspruch zu einer Regierung in freiheitlich-politischen Systemen.

Pastorale und ekklesiologische Konsequenzen

Theologisch gesehen kann ein solches Freiheitsverständnis nicht nur ein mögliches Denkschema, sondern vielmehr ein weiterführendes Kriterium zentraler Glaubensaussagen sein6: Wenn Gott selbst im freien Entschluss für die Menschen sein Versprechen unbedingter Liebe und Anerkennung in seiner Menschwerdung real gemacht hat und sich damit selbst den Bedingungen der Welt ausgesetzt hat; wenn er in seinem Leben diesen Entschluss bedingungslos und bis ins Äußerste gelebt hat, dass er sogar vor den tödlichen Konsequenzen nicht zurückgeschreckt ist; wenn Gott diese gelebte Liebe im Zeichen der Auferweckung über den Tod hinaus als bleibend gültige bestätigt hat – dann ist mit diesem Offenbarungsereignis die Bedeutung der Möglichkeit, Freiheit zu wagen, aufgezeigt.

Kirche wäre schlecht beraten – mehr noch: sie würde ihren zentralen Glaubensaussagen widersprechen – wenn sie weiterhin ihre Ordnung lediglich als gegeben behauptet. Dabei spielt es auch keine Rolle, falls sie sich „nur“ als alternatives Ordnungssystem anbietet, solange sie Freiheit nicht als Voraussetzung und Grundlage ihrer selbst versteht. Als gefährlich muss man ein kirchliches Handeln einstufen, wenn es einfache Antworten und klare Identitätsversprechen bereit hält: Sie führen in Abhängigkeitsverhältnisse, die nicht nur unfrei machen, sondern systembedingt Missbrauch hervorbringen.

Antwort geben meint … sich der Fähigkeit der eigenen Freiheit zu vergewissern statt Ver-Antwortung abzugeben.

Aufgabe der Kirche wäre es, strukturell wie pastoral, die unauflösbare Aporie von Freiheit und System aufrecht zu erhalten. Das bedeutet, nicht nur Menschen in ihrer Fragmentarität auf Augenhöhe zu begleiten und sie zu einer fragmentarischen Lebensweise zu ermutigen, sondern als Kirche den Mut und die Hoffnung aufzubringen, sich selbst als Fragment zu verstehen und fragmentarisch Kirche zu leben.

Antwort geben meint – egal ob für die Kirche oder einzelne – sich der Fähigkeit der eigenen Freiheit zu vergewissern statt Ver-Antwortung abzugeben. Antwort geben bedeutet dann, sich zu entschließen als jemand, der oder die auch anderen genau jene Freiheit schenken möchte, aus der heraus sie selbst handelt – auch wenn alles Handeln immer fragmentarisch und in der Realität nur bedingt bleibt. Am Ende ist es der Glaube, dass ein freiheitsermöglichendes Handeln trotz allen Scheiterns dennoch Sinn macht.

  1. Luther, Henning, Identität und Fragment. Praktisch-theologische Überlegungen zur Unabschließbarkeit von Bildungsprozessen, in: Luther, H., Religion und Alltag, Stuttgart 1992, 160–182, hier: 172.
  2. Krings, Herrmann, System und Freiheit, in: ders. System und Freiheit. Beitrag zu einem ungelösten Problem, München 1980, 15-39, hier: 15
  3. Krings, Herrmann, System und Freiheit, in: ders. System und Freiheit. Beitrag zu einem ungelösten Problem, München 1980, 15-39, hier: 22
  4. Krings, Herrmann, System und Freiheit, in: ders. System und Freiheit. Beitrag zu einem ungelösten Problem, München 1980, 15-39, hier: 25
  5. Krings, Herrmann, System und Freiheit, in: ders. System und Freiheit. Beitrag zu einem ungelösten Problem, München 1980, 15-39, hier: 30
  6. vgl. Pröpper, Thomans, Erlösungsglaube und Freiheitsgeschichte. Eine Skizze zur Soteriologie, München 1988.

futur2 möglich machen

Hinter der futur2 steht ein Verein, in dem alle ehrenamtlich arbeiten.

Für nur 20 € pro Jahr machen Sie als Mitglied nicht nur die futur2 möglich, sondern werden auch Teil eines Netzwerks von Leuten, die an der Entwicklung von Kirche und Gesellschaft arbeiten.

» MEHR ERFAHREN