012024

Bonustrack

Valentin Dessoy und Ursula Hahmann

Exnovation – Freiraum schaffen

Bedingung der Möglichkeit von Transformation – ein praktischer Zugang

Unsere Gesellschaft befindet sich in einem epochalen Umbruch. Für die Kirchen kommt hinzu, dass es ihnen kaum noch gelingt, ihre Botschaft und ihr Tun zu plausibilisieren. Sie verlieren dramatisch an Relevanz und in der Folge ihre Mitglieder und ihre finanzielle Basis. Beides, gesellschaftlicher Wandel und Verlust an Umweltreferenz, führen zunehmend zu Dissonanzen und Dysfunktionalitäten. Während der Anpassungsdruck steigt, zeigen zugleich Reformen innerhalb der bestehenden Organisationslogik keine nachhaltigen Effekte. Sie binden Ressourcen und haben lediglich kosmetischen Charakter. Die Kirchen müssten sich aber umfassend und grundlegend verändern, wenn sie sich Zukunft offenhalten wollen.

Herausforderung

Systeme können nicht maximal performen und zugleich optimal lernen – für beides muss hinreichend Raum sein; beides muss in einer guten Balance sein. Je mehr ein System seine Umweltreferenz verliert, desto höher wird das Risiko, den notwendigen Anpassungssprung nicht zu schaffen. Daher müssen die Kirchen ihre Aufmerksamkeit auf allen Ebenen sehr viel stärker als bisher auf Innovation und Transformation richten und die verbleibenden personellen und finanziellen Ressourcen – solange sie noch da sind – substanziell hierfür einsetzen.

Voraussetzung für die erfolgreiche Gestaltung nachhaltiger Innovations- und Transformationsprozesse ist jedoch, dass hierfür hinreichend Mittel zur Verfügung stehen. Kirche ist jedoch auf Stabilität programmiert. Die Bemühungen, die sich seit Jahren verstärkende Krise in den Griff zu bekommen, laufen meist nach alten Mustern ab: Sie dienen der Aufrechterhaltung der bisherigen Funktionalität, deren Output jedoch nicht mehr nachgefragt wird.

Gegenstand und Fragestellung

Doch wie kann das gehen: Ein Modell von Kirche, das volkskirchliche, das über Jahrzehnte erfolgreich war, grundlegend in allen seinen Facetten zu erneuern? Die Dinge, die man selbst als hauptberuflich oder ehrenamtlich Tätige gelernt, viele Jahre lang erfolgreich praktiziert und u. U. auch immer wieder in begrenztem Rahmen weiterentwickelt hat, durch etwas ersetzen, von dem man nicht weiß, ob es denn überhaupt funktioniert? Und sich denen zuwenden, die nicht kommen?

Die Ausrichtung derjenigen, die über Jahrzehnte auf die bewährte Weise ihren Dienst geleistet haben, lässt sich nicht mit einem Schalter aus- oder umdrehen. Das Arrangement aller Beteiligten, es noch eine kurze Strecke auf den alten Pfaden zu versuchen, ist überstark. Die Minderheit derjenigen, für die Veränderungen in der Kirche den Untergang des Abendlandes bedeutet, ist schrill und findet katholischerseits oftmals Gehör in Rom.

Auf diesem Hintergrund erscheint vielen eine additive Lösung die einzig mögliche zu sein: Weitermachen wie bisher, also v. a. performen, und zugleich Neues ausprobieren. Das gelingt aber nicht. Entweder geht diese Lösung auf die Gesundheit der Beteiligten oder der Einsatz für Neues erfolgt halbherzig und kann nicht erfolgreich sein. So wird Innovation nicht systemrelevant. Sie bleibt Alibi.

Wenn in der aktuellen Situation der Kirchen Innovation systemrelevant und Transformation nachhaltig werden soll, ist die zentrale Frage, wie in einem komplexen System wie dem kirchlichen in verantwortlicher Weise Freiraum geschaffen werden kann, um die notwendigen Lern- und Veränderungsprozesse gestalten zu können und v. a. Neues zu kreieren. Das erfordert in erster Linie transparente und begründete Entscheidungen.

Begriffsklärungen

Der notwendige Prozess des Abschaffens wird – je nach Kontext – als Exnovation, Produkteliminierung oder Produktabkündigung bezeichnet.

Der Begriff Exnovation wird v. a. in der Nachhaltigkeitsdebatte verwendet, in der sich zeigt, dass der Wandel allein durch Innovation nicht vollzogen werden kann. Es braucht zusätzlich das aktive Abschaffen als problematisch eingestufter Produkte und Technologien – etwa Glühbirnen, Stromerzeugung aus Kohle und Kühlschränke mit FCKW. In diesem Kontext wird unter Exnovation ein “gezieltes und aktives Bemühen von Akteuren, bestehende Technologien, Organisationsstrukturen oder Verhaltensweisen ‚aus der Welt zu schaffen’, weil sie ihre Lösungskraft verloren, unter veränderten Bedingungen und Erkenntnissen nicht mehr als zielführend oder gar als schädigend erkannt wurden.“ 1

Im betriebswirtschaftlichen Kontext wird der Vorgang des Abschaffens häufig als Produkteliminierung oder Produktabkündigung geführt. Verschiedene Faktoren führen dazu: Sinkende Nachfrage bzw. Rentabilität, eine veränderte strategische Ausrichtung, zu hoher Konkurrenzdruck bzw. zu große Wettbewerbsnachteile, sinkende Kundenzufriedenheit bzw. negatives Feedback aufgrund von Qualitätsproblemen, Funktionsmängeln u. a. Nicht zuletzt spielt auch der Kannibalisierungseffekt eine Rolle: Er tritt auf, wenn ein neues Produkt oder eine neue Dienstleistung eines Unternehmens die Verkäufe eines bereits bestehenden Produkts desselben Unternehmens verringert. Das kann auch umgekehrt gedacht werden: Damit das neue (i. d. R. verbesserte, ggf. teurere) Produkt sich besser am Markt durchsetzen kann, wird das ursprüngliche Produkt vom Markt genommen. Dies geschieht, um die Ressourcen auf das neue Produkt zu konzentrieren und die interne Konkurrenz zu reduzieren.

In kirchlichen Kontexten ist in letzter Zeit verstärkt der Begriff Exnovation aufgegriffen worden und in Mode gekommen. Er greift allerdings zu kurz. Es geht in den meisten Fällen nicht um Exnovation im engeren Sinne, also um die Abschaffung eines Angebots oder einer Tätigkeit. Viel häufiger steht eine Reduktion bzw. Schwerpunktsetzung an oder die Verlagerung der Verantwortung für ein Angebot oder eine Tätigkeit (z. B. von hauptberuflichen auf ehrenamtlich Tätige oder zwischen verschiedenen Ebenen kirchlichen Handelns).

Produktlebenszyklus

Hintergrund der folgenden Überlegungen ist die Idee, den Lebenszyklus eines Angebots aktiv zu gestalten. Der sog. Produktlebenszyklus umfasst alle Phasen der „Lebensdauer“ eines Angebots, vom Konzept über das Design und die Ausgestaltung, die Produkteinführung, den Echtbetrieb und die Wartung bis hin zum Rückgang der Nutzung (Degeneration) und der notwendigen Entscheidung, was mit dem Angebot bzw. den Ressourcen, die dort hineingesteckt werden, geschehen soll.

Abb. 1: Produktlebenszyklusmanagement

Wenn die Nutzung eines Angebotes signifikant zurückgeht oder Ersatzprodukte deutlich an Zuspruch gewinnen und das eigene Produkt überflügeln, gilt es zu entscheiden: Sollen die Ressourcen, die in das Produkt gesteckt werden (Zeit, Geld, …), im gleichen Feld direkt reinvestiert werden, sei es für graduelle Verbesserungen (inkrementelle Innovation) oder eine radikale Neukonzeption des Produkts (disruptive Innovation), oder werden sie freigesetzt, um Raum für ganz andere Dinge zu schaffen, die sinnvoll und notwendig erscheinen? Hier bestehen drei Optionen, wie mit dem bisherigen Angebot umgegangen werden kann: Es kann outgesourct werden, etwa indem es eine Partnerorganisation übernimmt (z. B. ein Jugendhaus, das an die Diakonie geht) oder es im Falle einer Kirchengemeinde ehrenamtlich Tätigen anvertraut wird (z. B. Beerdigungen). Es kann aber auch in dem Sinne optimiert werden, dass man Wege sucht, wie das Angebot weniger Ressourcen in Anspruch nimmt oder es reduziert wird (Downsizing). Das kann z. B. der Fall sein, wenn Gottesdienste fokussiert bzw. konzentriert (und qualitativ verbessert) werden. Schließlich besteht natürlich auch die Möglichkeit, das Angebot auslaufen zu lassen und ersatzlos aus dem Portfolio zu streichen (End of Life).

Übersicht über Tools und Vorgehensweisen

Bei Fragen der Priorisierung bzw. des Freiraumschaffens geht es im Kern um Entscheidungen, die in aller Regel in einer Gruppe oder einem Gremium zu treffen sind. Der Prozess der Entscheidungsfindung kann auf unterschiedliche Weise erfolgen. Folgende Verfahren bzw. Tools werden hier vorgestellt:2

  • (Einzel-)Entscheidung nach dem Mehrheitsprinzip
  • Clusterverfahren zur inversen Priorisierung
  • Fokusfinder (multipler Paarvergleich)
  • Ratingboard (Zustimmungsrating)
  • Systemisches Konsensieren (Widerstandsrating)
  • Cockpit Freiraum schaffen (kriteriengeleitete Entscheidung)

Das gewählte Verfahren beeinflusst stets auch die Gruppenkohäsion und -dynamik auf der einen und die individuelle Bereitschaft, das Ergebnis mitzutragen (Commitment), auf der anderen Seite. Daher ist die Frage der Verfahrenswahl bzw. nach dem “besten” Tool stets mit einer systemischen Betrachtung und Bewertung von Risiken verbunden.

Entscheidung nach dem Mehrheitsprinzip

Die Frage, ob ein Angebot reduziert, ausgelagert oder abgeschafft werden soll, kann selbstverständlich nach dem Mehrheitsprinzip entschieden werden. Einfache Mehrheiten setzen die Zustimmung von mindestens der Hälfte, qualifizierte Mehrheiten von mindestens 2/3 der anwesenden Gruppenmitglieder voraus. Mehrheitsentscheidungen können i. d. R. sehr schnell herbeigeführt werden. Allerdings führen sie oftmals zu Polarisierungen (z. B. bei 55 % ja vs. 45 % nein). Sie produzieren Gewinner:innen und Verlierer:innen. Dies wirkt sich stark auf die Identifikation mit Entscheidungen aus. Gerade bei knappen Entscheidungen findet sich u. U. nahezu die Hälfte der Personen nicht im Ergebnis wieder. Hinzu kommt, dass bei solchen Entscheidungen die einzelnen Angebote isoliert und nicht in Relation zu anderen Angeboten betrachtet werden. Im Blick auf die Fragestellung ist das eher unterkomplex.

Clusterverfahren zur inversen Priorisierung

Ein einfaches Verfahren selbstgesteuerter Priorisierung von Tätigkeiten, Angeboten oder benötigter Ressourcen ist das Clusterverfahren zur inversen Priorisierung. Zielsetzung dieses Verfahrens ist es, ausgehend von einem gesamtorganisatorisch definierten Zielrahmen für notwendige Einsparungen den jeweils Verantwortlichen für Tätigkeits- oder Produktbereiche ein Instrumentarium an die Hand zu geben, um in Eigenregie zu entscheiden, was im eigenen Zuständigkeitsbereich zukünftig ganz weggelassen oder im Umfang reduziert werden soll. Der Clou ist dabei, dass man das Ganze im Blick behält und invers, also von hinten her priorisiert. D. h. man überlegt, was – im Vergleich zum jeweiligen Rest – als nächstes am ehesten gestrichen werden kann.

Das Verfahren geht von der Hypothese aus, dass die Verantwortlichen für ihren jeweiligen Verantwortungsbereich ein klares inneres Bild der Rangfolge von Tätigkeiten, Angeboten oder benötigter Ressourcen haben und genau sagen können, was sie – falls erforderlich – von hinten beginnend schrittweise aufgeben oder reduzieren würden.

Für die Durchführung des Verfahrens liegt als Tool ein DIN-A4-Arbeitsblatt und für komplexere Zusammenhänge eine Excel-Tabelle vor, in die Festlegungen und erarbeitete Ergebnisse schrittweise eingetra­gen werden. Wenn innerhalb des jeweiligen Verantwortungsbereichs mehrere Personen an der Entscheidung beteiligt sind, können die erforderlichen Festlegungen diskursiv erfolgen.

Die Bearbeitung des Clusterverfahrens zur inversen Priorisierung beginnt mit übergeordneten Vorklärungen in der Gesamtorganisation, die dann die Arbeitsgrundlage für die Einzelklärungen in den Verantwortungsbereichen sind. Dazu gehört u. a. die Frage, was Gegenstand der Betrachtung ist (Objekte: Tätigkeiten, Angebote, …), welche Organisationseinheiten bzw. Verantwortungsbereiche mit einbezogen werden, was anteilige Einsparziele sind und bis wann sie zu erreichen sind.

Auf dieser Basis wird in den jeweiligen Verantwortungsbereichen autonom weitergearbeitet. Das Vorgehen gliedert sich in mehrere Schritte, deren Ergebnisse im Arbeitsblatt „Inverse Priorisierung“ festgehalten werden.

Kern des Verfahrens ist die schrittweise Festlegung der Objekte (Tätigkeiten, Angebote), die abgeschafft oder reduziert werden sollen, um die Einsparziele zu erreichen. Die Leitfrage hierfür ist: Was von dem, was jeweils noch im Portfolio vorhanden ist, kann am ehesten weggelassen oder in seinem Umfang reduziert werden? Für das identifizierte Objekt wird die mögliche Einsparung festgelegt. Das kumulierte Einsparvolumen bis zum jeweiligen Eintrag gibt Auskunft darüber, ob das Einsparziel erreicht oder weitere Objekte herangezogen werden müssen.

Abb. 2: Inverse Priorisierung

In der Regel geht man bei diesem Verfahren diskursiv vor. Es bietet sich an, notwendige Entscheidungen nach dem Konsentprinzip3 zu fällen. Ist die diskursive Form der Priorisierung jedoch nicht zielführend, weil z. B. Eigeninteressen eine Konsensbildung erschweren, bieten sich spezifische Entscheidungsverfahren als Zwischenschritt an, insbesondere Ra­ting­verfahren, systemisches Konsensieren oder multipler Paarvergleich (Fokusfinder), die im weiteren Verlauf gesondert beschrieben werden.

Beim Nachdenken über Einsparmöglichkeiten und -prioritäten ist immer darauf zu achten, dass es zwischen Tätigkeiten oder auch Angeboten Wechselwirkungen geben kann, die nicht zu vernachlässigen sind und ggf. die Einsparreihenfolge oder auch das jeweils ins Auge gefasste Einsparvolumen beeinflussen können.

Die Ergebnisse der unterschiedlichen Verantwortungsbereiche müssen dann zusammengeführt und auf Diskontinuitäten bzw. Wechselwirkungen hin überprüft werden. Hier kann es noch zu einzelnen Verschiebungen kommen. Sie haben i. d. R. übergreifende Bedeutung und müssen daher gemeinsam entschieden und getragen werden. Abschließend ist zu überlegen, wie die Kommunikation zu gestalten ist, also wer, wie, wann und auf welchem Weg informiert wird.

Arbeit mit dem Fokusfinder – multipler Paarvergleich

Das Tool Fokusfinder basiert auf dem Prinzip des multiplen Paarvergleichs. Auch hier handelt es sich um ein Verfahren, das in besonderer Weise zur Priorisierung in Gruppen geeignet ist. Der Fokusfinder wird in mehreren Schritten durchlaufen.

Zu Beginn legt man fest, was betrachtet und ggf. reduziert oder abgeschafft werden soll (z. B. Angebote oder Tätigkeitsfelder) und wie die Reduktion bzw. das Abschaffen gemessen werden soll (z. B. über Zeitressourcen, die eingesetzt werden).

Dann werden alle infrage kommenden Objekte (z. B. die Angebote einer Kirchengemeinde) aufgelistet, die potenziell reduziert oder abgeschafft werden könnten.

Ausgehend von einer definierenden Fragestellung (z. B. Was ist (uns) wichtiger?) werden die Objekte paarweise miteinander verglichen. Auf Basis aller Paarvergleiche wird die Rangfolge der Objekte gebildet und mit weiteren Informationen angereichert: Der aktuelle Ressourcenverbrauch und die mögliche Einsparsumme werden eingetragen. Die kumulierte Einsparsumme zeigt an, ob bzw. inwieweit das insgesamt angestrebte Einsparziel erreicht ist oder weitere Objekte in die Berechnung einbezogen werden müssen.

Abb. 3: Fokusfinder

Auch hier werden die Ergebnisse sprachlich zusammengefasst und eine finale Entscheidung über die Reduzierung oder gänzliche Abschaffung der Angebote bzw. Objekte formuliert, die dann sorgfältig und differenziert zu kommunizieren ist.

Arbeit mit dem Ratingboard – Zustimmungsrating

Beim Freiraumschaffen mit Hilfe des Tools Ratingboard wird der Grad der Zustimmung zur Abschaffung bzw. substanziellen Reduktion eines Angebotes abgefragt. Hierbei handelt es sich um intervallskalierte Einschätzungen.

Zunächst wird ähnlich wie beim Fokusfinder definiert, was betrachtet und ggf. reduziert oder abgeschafft werden soll, z. B. Angebote, Tätigkeitsfelder, Immobilien etc. Ebenso wird die Größe bestimmt, in der die Reduktion bzw. das Abschaffen gemessen werden soll.

Alle infrage kommenden Objekte, die zur Disposition stehen, werden in der Matrix aufgeführt und die Einzelbewertungen der Teilnehmer:innen eingetragen. Diese sollen das Ausmaß ihrer Zustimmung angeben, ein Objekt abzuschaffen bzw. es substanziell zu reduzieren. Basierend auf den Durchschnittsbewertungen werden die Objekte in eine Rangfolge gebracht. Zusätzlich wird in diesem Schritt wie beim Fokusfinder der aktuelle Ressourceneinsatz bestimmt und je Objekt überlegt, wieviel man einsparen will. Die kumulierten Einsparsummen geben Aufschluss, ob das angepeilte Einsparziel bereits erreicht ist.

Abb. 4: Ratingboard

Die Ergebnisse werden sprachlich zusammengefasst und eine finale Entscheidung über die Reduzierung oder gänzliche Abschaffung der Angebote getroffen, die entsprechend kommuniziert wird.

Systemisches Konsensieren – Widerstandsrating

Das systemische Konsensieren zur Schaffung von Freiraum ist vom Vorgehen her dem Ratingverfahren vergleichbar. Im Unterschied dazu wird bei diesem Tool nicht der Grad der Zustimmung zur Abschaffung bzw. substanziellen Reduktion eines Angebotes abgefragt, sondern umgekehrt der Widerstand dagegen. Auch hier liegen intervallskalierte Einschätzungen vor.

Abb. 5: Systemisches Konsensieren

Die Ergebnisse des systemischen Konsensierens und des Ratingverfahrens unterscheiden sich deutlich. Während beim Ratingverfahren jene Objekte im Fokus sind, deren Abschaffung bzw. Reduktion von der Mehrheit der Teilnehmenden befürwortet wird, sind es beim systemischen Konsen­sieren jene, bei denen der Widerstand gegen die Abschaffung bzw. Reduktion am geringsten ist. Daher ist vom Grundsatz her eine höhere Akzeptanz in der Breite gegeben als beim Rating.

Cockpit Freiraum schaffen – Kriterienorientierte Entscheidung

Das „Cockpit Freiraum schaffen“ ist ein Tool, das die Möglichkeit bietet, Entscheidungen über die Abschaffung bzw. Reduktion von Angeboten oder Tätigkeiten kriterienbasiert zu treffen. Das Tool wird in der Gruppe diskursiv bearbeitet, greift aber in Teilen auch auf vorhandene Daten aus Beobachtungen zurück. Die Angebote (bzw. Tätigkeiten) im Portfolio werden dabei schrittweise anhand von 8 Kriterien (Dimensionen) bewertet. Jeweils zwei Dimensionen sind zu einer Matrix zusammengefasst:

  • Relative Nachfragestärke x relative Nachfrageänderung
  • Relativer Aufwand x Nähe zum Purpose
  • Breitenwirkung x Tiefenwirkung
  • Risiko der Abschaffung (Kundenbeziehung und Stakeholderinteressen) x Chance der Beibehaltung (Marktpotenzial/-chancen)

Abb. 6: Cockpit Freiraum schaffen

Die Angebote werden entsprechend ihrer Position auf den jeweiligen Dimensionen in den Matrizen eingetragen. Anhand des Gesamtüberblicks lassen sich die Angebote dann anhand von Plausibilitätsüberlegungen in eine Rangfolge bringen, die Auskunft darüber gibt, welche Angebote am ehesten redu­ziert, outgesourct oder aufgegeben werden können. Es empfiehlt sich, notwendige Entscheidungen nach dem Konsentprinzip zu treffen (vgl. Fußnote 2). Angebote werden schließlich entsprechend ihrer Rangordnung inkl. der damit freiwerdenden Ressourcen in das Ergebnisfeld übertragen. Nächste Schritte können im Anschluss geplant und festgehalten werden.

Das Verfahren kann auf zwei verschiedene Art und Weisen durchgeführt werden. Es kann in Gänze diskursiv auf der Basis aktueller Erfahrungen und Einschätzungen der Teilnehmenden eines Workshops bearbeitet werden. Damit hat das Verfahren einen Screening-Charakter, da etwa Größen wie Nachfrage und Nachfrageänderung auf subjektiven Eindrücken der Beteiligten basieren. Das Verfahren kann aber auch differenzierter und datenbasiert durchgeführt werden, indem ein Teil der Kenngrößen (wie Nachfrage oder Aufwand) mit echten (also empirischen) Daten hinterlegt wird. Der Aufwand für diese Vorgehensweise ist entsprechend höher, weil die Daten beschafft und notwendige Berechnungen erstellt werden müssen.

Kriterienbasierte Analyse der Angebote

Relative Nachfrage x relative Nachfrageänderung
Im ersten Analyseschritt wird die Nachfrage und deren Änderung über die Zeit betrachtet, um daraus Informationen für die Weiterentwicklung des Angebotsportfolios zu gewinnen. Sie kann – wie zuvor erwähnt – intuitiv als Screeningverfahren oder systematisch als empirisch fundiertes Analyseverfahren eingesetzt werden.

Aufwand x Purpose
Im zweiten Schritt wird die Relevanz des Angebots für die Organisation, definiert als Nähe zum Purpose (Sinn & Zweck der Organisation), mit dem Aufwand in Beziehung gesetzt, der notwendig ist, das Angebot vorzuhalten bzw. zu erbringen.

Breitenwirkung x Tiefenwirkung
Es folgt die Analyse bzw. Einschätzung des Angebots hinsichtlich seiner Breiten- und Tiefenwirkung. Unter Breitenwirkung wird verstanden, wie groß die Bandbreite bzw. das Spektrum der Adressat:innen ist, das mit einem Angebot erreicht wird. Mit Tiefenwirkung ist gemeint, in welchem Ausmaß ein Angebot die Auseinandersetzung und Mitwirkung des:der Adressat:in erfordert, in welcher Intensität es Erfahrungen ermöglicht und wie nachhaltig es in seiner Wirkung ist.

Risiko x Chance
Abschließend wird das Angebot dahingehend untersucht, wie hoch das Risiko einer Reduktion, eines Outsourcings oder der Abschaffung des Angebots ist und in welchem Maße die Beibehaltung des Angebots (in bisheriger Form) neue Marktchancen, also Potenziale eröffnet, neue Adressatengruppen anzusprechen.

Darstellung im Kriterienraum

Durch die Bearbeitung erhält man ein anschauliches Bild, wie die Angebote im Kriterienraum positioniert sind. Aus der Position in der jeweiligen Matrix und über die Matrizen hinweg ergeben sich konkrete Hinweise darauf, wie mit den Produkten weiter zu verfahren ist.

Die Dimensionen in allen Matrizen sind so gepolt, dass im linken unteren Quadranten („roter Bereich“) diejenigen Angebote liegen, die – aus Sicht derjenigen, die das Board bearbeitet haben – bezogen auf die jeweils betrachteten Kriterien eher schlecht abschneiden. Angebote, die oben rechts im „grünen“ Bereich liegen, werden positiv eingeschätzt.

Über die Einzelbetrachtung hinaus ist jedoch das Gesamtbild entscheidend. Bei jenen Angeboten, die gehäuft, also zwei-, drei- oder viermal im roten Bereich liegen, ist die Plausibilität hoch, dass sie gut und einvernehmlich reduziert, outgesourct oder abgeschafft werden können.

Priorisierung der Angebote und Berechnung des Einsparpotenzials

Abb. 7: Einsparpotenzial

Ein weiterer wesentlicher Schritt besteht jetzt darin, die Angebote anhand ihrer Positionierung im Kriterienraum zu priorisieren. Diskursiv wird die Rang- und Reihenfolge festgehalten, in der man die Angebote reduzieren, anderweitig platzieren oder exnovieren will. Es gibt dabei sicher Fälle, die unstrittig sind, es gibt sicher auch Fälle, die nicht eindeutig sind. Auf jeden Fall braucht es hier klare und begründete Entscheidungen. Auch hier empfiehlt sich das Konsentverfahren (vgl. Fußnote 2). Am Ende steht die Liste der Produkte, die in der Folge schrittweise auf das darin liegende Rückbau- und Einspar­potenzial zu prüfen sind, bis man das anvisierte Limit erreicht hat.

Auch die Berechnung des Einsparpotenzials erfordert mehrere Schritte. Hierfür steht die Karte „Ein­spar­po­ten­zial“ zur Verfügung. Zu­nächst wird auf einen definierten Referenzzeitraum be­­­zogen be­rechnet, wie hoch aktuell der Aufwand für ein Angebot ist. Im zweiten Schritt werden unterschiedlichen Szenarien geprüft:

  • Optimierungsszenarien: Optionen, die auf eine Redu­ktion des Aufwands bei grundsätzlicher Beibehaltung des Angebots abzielen
  • Outsourcing- oder Verselbstständigungsszenarien: Optionen, das An­gebot in andere Hände (ggf. auch Strukturen bzw. Trägerschaften) zu übergeben
  • Eliminierungsszenario: komplette Eliminierung, also die Aufgabe des Angebots

Für jedes der Szenarien ist neben dem Einsparpotenzial der Aufwand für den Anschub der jeweiligen Änderung anzugeben und eine Risikobewertung vorzunehmen. Die Ergebnisse werden im Cockpit dokumentiert.

Abschließende Überlegungen zur Indikation: Wann welches Tool?

Die vorgestellten Tools beschreiben mehr oder weniger strukturierte Vorgehensweisen, um partizipativ zu qualifizierten und transparenten Entscheidungen zu kommen, welche Tätigkeiten oder Angebote weggelassen oder reduziert werden können, wenn Ressourcen fehlen oder in Innovation gesteckt werden sollen.

Den größten Gestaltungsspielraum für Verantwortliche von Teilbereichen der Organisation gibt das Clusterverfahren zur inversen Priorisierung. Da es in der Grundversion diskursiv angelegt ist, besteht eine höhere Anfälligkeit, sich in Diskussionen zu verstricken. Daher ist eine gut funktionierende Arbeitsbeziehung für dieses Verfahren unabdingbar.

Umgehen lässt sich das Risiko, wenn man (ggf. zusätzlich) auf die strukturierteren Verfahren zurückgreift, in denen die Entscheidung auf einer Skalierung beruht. Das einfachste Tool ist das Ratingverfahren. Es fokussiert die Zustimmung zur Frage, was abgeschafft oder reduziert werden soll. Im Ergebnis kann das bedeuten: Man hat zwar diejenigen Objekte identifiziert, die mehrheitlich eine Zustimmung finden, aber aus dem Auge verloren, dass es dabei zu einzelnen Objekten erhebliche Widerstände gegeben kann. Das Verfahren ist anwendbar, wenn es tendenziell eine hohe Übereinstimmung in der Frage des Freiraumschaffens gibt.

Ist dies nicht der Fall, insbesondere dann, wenn Polarisierungen zu erwarten sind, bietet sich das Tool Systemisches Konsensieren an. Hier wird der Widerstand gegen die Abschaffung bzw. Reduktion eines Objektes gemessen. Idealerweise führt man beide Verfahren durch und bearbeitet die Differenzen im Ergebnis diskursiv auf Basis des Konsentverfahrens.

Das Tool Fokusfinder integriert wesentlich mehr Informationen und ist daher etwas aufwändiger. Im Blick auf die Fragestellung (z. B. Was ist wichtiger?) wird jedes einzelne Objekt mit jedem anderen Objekt verglichen. Dadurch wird die Entscheidung sehr valide. Auch dieses Verfahren lässt sich mit den beiden zuvor genannten kombinieren, um die Unterschiede wahrzunehmen und diskursiv auszuhandeln. Benutzt man alle drei Verfahren, ist das Ergebnis äußerst zuverlässig.

Die drei bisher genannten Skalierungsverfahren setzen darauf, dass die Optionen der beteiligten Akteur:innen Gültigkeit haben und mit gleichem Gewicht in das Ergebnis einfließen, losgelöst von den jeweiligen Kriterien, die den einzelnen Optionen zugrundliegen. Das „Cockpit Freiraum schaffen“ bietet im Unterschied dazu acht paarweise kombinierte Kriterien, die für die Bewertung von Angeboten relevant sind. Die Einschätzung der Objekte, bezogen auf die Kriterien, geschieht diskursiv oder auch z. T. anhand empirischer Daten. Das Ergebnis ist eine anschauliche Positionierung der Objekte im Kriterienraum, die entscheidende Hinweise für die Erstellung der Objektrangfolge liefert. Dieses Verfahren ist am aufwändigsten, integriert empirische Daten, sorgt für die Anwendung der gleichen Kriterien auf alle Objekte und plausibilisiert die Entscheidung der Kriterien. Voraussetzung ist, dass die Beteiligten den Kriterien folgen und ihre Plausibilität anerkennen können.

Fazit: Strategische Exnovation als Wegbereiter für kirchliche Transformation

In einer Zeit, die von rapiden gesellschaftlichen, technologischen und ökologischen Veränderungen geprägt ist, stehen die Kirchen vor einer ihrer größten Herausforderungen: der Notwendigkeit einer tiefgreifenden Transformation. Diese resultiert nicht nur aus abnehmender Umweltreferenz und sinkenden Mitgliederzahlen, sondern auch aus dem Bedarf, eine relevante und resonante Präsenz in der postmodernen Gesellschaft herzustellen.

Kirche und kirchliche Einrichtungen müssen lernen, das Gleichgewicht zwischen Bewahren und Erneuerung neu zu justieren. Dies erfordert mutige und entschlossene Schritte in Richtung einer strategischen Exnovation. Die vorgestellten Tools bieten konkrete Ansätze, wie Entscheidungen über die Reduzierung oder Beendigung von Angeboten bzw. Tätigkeiten strukturiert und partizipativ getroffen werden können. Sie ermöglichen es den Kirchen, ihre Ressourcen strategisch auf innovative und transformative Aktivitäten zu konzentrieren, die einen wirklichen Unterschied machen. Für die Kirchen wird es entscheidend sein, eine Umgebung zu schaffen, in der das Lernen und Experimentieren mit neuen Formen des kirchlichen Lebens nicht nur möglich, sondern zur neuen Norm wird.

  1. Fichter, K., Nachhaltigkeit: Motor für schöpferische Zerstörung?, in: Howaldt, J., Jacobsen, H. (Hrsg.), Soziale Innovation. Auf dem Weg zu einem postindustriellen Innovationsparadigma, Wiesbaden 2010.
  2. Hinweis: Die abgebildeten Tools sind urheberrechtlich geschützt. Mehr Informationen: www.h-d.tools
  3. Die Moderation von Entscheidungsprozessen nach dem Konsent-Prinzip kommt ohne Abstimmung aus. Alle für die Entscheidung relevanten Aspekte werden nach einem bestimmten Verfahren – der Kreismoderation – im Diskurs erörtert. Die Moderation stellt sicher, dass alle Beteiligten ihre Sichtweisen und Argumente einbringen können (Meinungsbildung). Am Ende steht die Beschlussfassung, die mit der Formulierung eines Lösungsvorschlags beginnt, der alle zuvor gehörten Argumente berücksichtigt. Der Vorschlag wird angenommen, sofern es keinen „schwerwiegenden Einwand“ gibt. Dieser Einwand muss argumentativ begründet sein und einen integrativen Vorschlag zur Verbesserung der gemeinsamen Lösung beinhalten.

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