022022

Foto: EKHN

Bonustrack

Melanie Beiner

Evangelische Kirche in Hessen und Nassau

In der Tat sehen wir, dass die Entwicklungen in Gesellschaft und Kirche radikale Auswirkungen haben. Die deutlich zunehmenden Kirchenaustritte, das Thema des sexuellen Missbrauchs, das die Vertrauenswürdigkeit der Kirche grundlegend infrage stellt, das Auseinanderdriften von individuell gelebter Religiosität oder gelebtem Wertebewusstsein und der Praxis des christlichen Glaubens in der Organisation der Kirche und der Nachwuchsmangel stellen uns vor große Herausforderungen.

Beschäftigen Sie sich in Ihrer Landeskirche mit dem Szenario einer disruptiven Entwicklung bzw. eines Zusammenbruchs der bisherigen Gestalt?

In unserem seit 2019 laufenden Kirchenentwicklungsprozess haben die o. g. Themen immer mehr Raum eingenommen. Wir sind mit Veränderungen des Bestehenden gestartet und befinden uns mittlerweile in einem umfassenden Transformationsprozess, der keinen Bereich kirchlichen Handelns außen vorlässt. Dabei gibt es — wie vermutlich in jeder „basisdemokratisch“ aufgestellten Großorganisation — zum jetzigen Zeitpunkt unterschiedliche Einschätzungen dazu, wie radikal die Entwicklung ist und ob ein Übergang gestaltet werden kann oder von einem Zusammenbruch der bisherigen Gestalt gesprochen werden muss.

Die radikalen Entwicklungen werden durch den umfassenden Reformprozess, in dem wir uns befinden, derzeit auf allen Ebenen der Kirche besprochen. Dies ist auch deshalb so, weil wir bereits synodale Beschlüsse zu einem deutlichen Abbau von Gebäuden, zu einer Umstrukturierung von Gemeinden und einer neuen Form des Verkündigungsdienstes gefasst haben oder derzeit herbeiführen möchten. Die sich daraus ergebenden Veränderungen betreffen alle Ebenen der Kirche. Dass wir „nicht weitermachen können wie bisher“ scheint mir dabei ein von vielen geteilter Konsens zu sein.

Ausdruck dieser grundlegenden Veränderung, die bisherige Organisationsformen infrage stellen, ist es, dass die in den o. g. Bereichen beschlossenen strukturellen Veränderungen in deutlich kürzeren Fristen und mit höherer Verbindlichkeit für alle Ebenen erfolgen müssen als dies bei vorherigen Veränderungsprozessen der Fall war. Daraus folgen Veränderungen z.B. in der Bedeutung der Parochie als dem bislang tragenden Prinzip kirchlichen Handelns vor Ort oder dem Selbstverständnis des Pfarrberufes.

Wir haben auch Themen der Nachhaltigkeit und Digitalisierung schon zu Beginn als wichtige Herausforderungen identifiziert; durch die Coronakrise und die Klimakrise überholt uns die Dynamik jedoch und wir müssen diese Themen nun mit größerer Dringlichkeit aufnehmen.

Allerdings ist es auch so, dass die Transformationsprozesse in den Leitungsgremien nicht übereinstimmend als Strategie zum Umgang mit einem Zusammenbruch verstanden werden, so dass wir die radikalen Veränderungen nicht unter dieser „Überschrift“ thematisieren.

Wo bzw. mit wem wird das Thema systematisch diskutiert und bearbeitet?

Systematisch im Sinne eines bevorstehenden Zusammenbruchs wird das Thema nicht diskutiert. Aus meiner Sicht müsste auch unterschieden werden zwischen einer Disruption, bei der etwas Neues das Alte „aushebelt“ und einem Zusammenbruch, bei dem dann zu fragen wäre, welche Parameter für diese Diagnose angelegt werden. Finanziell wird es wohl zunächst nicht zu einem Zusammenbruch kommen, da die Finanzplanung Maßnahmen vorsehen kann, wenn sich ungeahnte Finanzierungslücken von einem Jahr auf das andere einstellen, weil es weitere Absicherungsmechanismen gibt und entsprechend der wirtschaftlichen Prognosen finanztechnisch vorsichtig geplant wird. Gleichwohl sind die rasch sinkenden Mitgliederzahlen natürlich ein Alarmzeichen. Am ehesten scheint mir aber die rasch abnehmende Anzahl von Pfarrer*innen in den nächsten Jahren durch Ruhestandsversetzungen einer Disruption vergleichbar zu sein. Dieses Thema wird breit diskutiert, auf allen Ebenen der Kirche.

Wie bereiten Sie Ihre Landeskirche kommunikativ auf dieses Szenario vor?

Dies geht aus meiner Sicht nur durch ein konsequentes Angehen der anstehenden Herausforderungen. Dazu gehören die Entwicklung von Szenarien und das Herbeiführen von Entscheidungen zu Einsparungen und organisationalen Veränderungen. Zu letzterem gehört, dass den Kirchengemeinden und Dekanaten Spielräume ermöglicht werden, Kirche vor Ort entsprechend der Situation und den dortigen Erfordernissen zu gestalten. Der Abbau von Genehmigungen, das Eröffnen von Freiräumen und die Ermöglichung regionaler Unterschiede sind aus meiner Sicht Möglichkeiten, Handlungsmöglichkeiten zu erhalten. Das bedeutet, dass die Steuerung auf gesamtkirchlicher Ebene im Blick auf das, was vor Ort geschieht oder geschehen soll, verringert wird; gleichzeitig bleibt die Steuerung im Blick auf die Rahmenbedingungen bzw. Ressourcen wichtig. Die „Erlaubnis“, Neues auszuprobieren erscheint mir ebenfalls ein wichtiger Punkt zu sein, um Handlungsfähigkeit vor Ort zu erhalten und dabei nicht nur reaktiv, sondern proaktiv zu agieren.

Wie wollen Sie die Handlungs- und Steuerungsmöglichkeit Ihrer Landeskirche erhalten? Welche Überlegungen gibt es, in diesem Szenario den Übergang zu gestalten?

Die Frage ist ja: Den Übergang wohin? Die oben angegebenen Aspekte der Transformation werden bereits angegangen. Gemeinden und Dekanate werden bei organisationalen Veränderungen begleitet. Aus meiner Sicht ist es auch ein Kennzeichen einer Disruption, dass kein einfacher Fahrplan vorliegt und ein neues Ziel nicht einfach angesteuert werden kann, sondern deutlich werden muss, dass noch nicht klar ist, was wofür eine Lösung sein kann. Aus meiner Sicht ist es eher ein Schritt-für-Schritt-Denken und -Handeln, das dann beim Ausprobieren zeigt, was sinnvoll zu tun und anzustreben sein kann. Personalgewinnung, alternative Modelle der Mitgliedschaft und die Verringerung von Verwaltungstätigkeit durch Aufgabenkritik sind aus meiner Sicht wichtige Themen, um die Organisation angesichts der derzeitigen Umbrüche zu verändern. Gleichzeitig müssen wir aushalten, dass wir — insbesondere in den Leitungsebenen – nicht schon die Antwort haben, sondern die Entwicklung gut beobachten und wahrnehmen, riskieren, loslassen, wie es auf allen Ebenen geschieht. Die Coronakrise war ja eigentlich eine Disruption, bei der wir allerdings auch gemerkt haben, wie schnell und aktiv sich viele auf die neue Situation eingestellt haben. Die Entwicklung digitaler Praxis im kirchlichen Handeln hat die religiöse Kommunikation befördert und viele Möglichkeiten eröffnet (z. B. auch die Möglichkeit digitaler Kongresse :-). Diese Disruption in einem positiven Sinne zu befördern hieße, die neuen Möglichkeiten zuzulassen und bei einer gelingenden Umsetzung so gut es geht zu unterstützen, auf keinen Fall aber an Vorgaben aus Zeiten vor Corona einfach festzuhalten oder abzuwarten „bis die Krise wieder vorbei ist“. Meine Erfahrung in dieser Zeit war/ist auch, dass wir auf allen Ebenen dieselben Prozesse der Verständigung, der Diskussion, des Aushaltens von Unterschieden und der Suche nach gemeinsamen Lösungen durchlaufen. Es gibt nicht die eine Leitungsebene, die weiß, was zu tun ist, und anderen sagen kann, wie es geht. Darum ist das Eingeständnis in die gemeinsam erlebte Suche, der Austausch miteinander und auch mit anderen Akteuren außerhalb der Kirche für mich ein wichtiges Element bei dem Umgang mit einer disruptiven Entwicklung. Dies führt allerdings auch zu einer Verunsicherung, denn die Erwartung an „klare Vorgaben“ und „Lösungen“ waren und sind auch da. Eine Disruption kann für mich dann gut genutzt werden, wenn dabei auch die Eigenständigkeit der Akteure zugelassen und befördert wird.

Gleichzeitig ist meine Erfahrung auch, dass sich damit keinesfalls nur negative Erfahrungen verbinden. Es sind ja ungeahnte Möglichkeiten entstanden, Lernerfahrungen wurden gemacht. Alle standen vor der gleichen neuen Situation, das war einerseits konflikthaft, hat andererseits aber auch ehrliche und offene Diskurse befördert.

Auch in der jetzigen Energiekrise stellen wir fest, dass Kirchengemeinden sehr schnell eigenständig agieren und Maßnahmen ergreifen, um z. B. Heizkosten und Energie zu sparen. Auch hier gilt, die Rahmenbedingungen zu klären und zu kommunizieren und vor Ort möglichst viel an Eigenverantwortung und konkret passenden Lösungen zu ermöglichen.

Ob man bei einer Disruption also einen Übergang gestalten kann oder diese tiefgreifende Veränderung nur begleiten und immer wieder sehen muss, was gerade gebraucht wird, könnte man fragen. Um letzteres zu ermöglichen, braucht es aus meiner Sicht immer wieder eine Vernetzung und das Einholen von Resonanzen über Gelingen oder Misslingen und das daran ausgerichtete Weiterdenken.

Wie kann in diesem Szenario Ihre Landeskirche der Verantwortung für die Mitarbeitenden gerecht werden?

Mitarbeitende haben Rechte, durch die sie abgesichert sind. Für Änderungen in Bezug auf die Bedingungen ihrer Arbeit gibt es verabredete Verfahren. Verantwortlich erscheint es mir in diesem Zusammenhang, Überlastungssituationen wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Verantwortlich erscheint mir in diesem Zusammenhang auch, die Veränderungsdynamik offen auszusprechen und Mitarbeitende so zu fördern, dass sie mit Veränderungen umzugehen lernen können. Das gilt aus meiner Sicht ebenso für alle, uns Leitende eingeschlossen. Insbesondere angesichts der Tatsache, dass Kirche eigentlich eine Institution ist, die auf Tradition ausgerichtet ist. Gleichzeitig ist es Teil der Verantwortung, die unterschiedlichen Wahrnehmungen zuzulassen. Was für die einen an dringenden Veränderungen ansteht, ist für andere ein schlimmer Verlust. Den Austausch so zu befördern, dass das Verständnis füreinander möglich wird und nicht in gegenseitige Abgrenzung führt, gehört für mich zu einem verantwortlichen Umgang mit haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden dazu.

Wie können Sie als Landeskirche in dieser Situation der Verantwortung für die Gesellschaft gerecht werden?

Im Prinzip gehört zur Wahrnehmung der Verantwortung in der Gesellschaft das Gleiche wie das, was für die Wahrnehmung der Verantwortung in der Kirche gilt: zusammen mit den Akteuren die Entwicklungen wahrnehmen und gemeinsam nach Handlungsstrategien suchen.

Darüber hinaus sind wir als Kirche durch die Gesellschaft gerade sehr kritisch angefragt. Dieser Kritik müssen wir uns stellen und fragen, wie wir Glaubwürdigkeit als Organisation wiedergewinnen. Auch dazu gehören für mich eine offene Wahrnehmung und die Bereitschaft sich zu verändern und infrage stellen zu lassen. Und uns in unserem Handeln dann auch tatsächlich so auszurichten, dass Glaubwürdigkeit entsteht.

Gleichzeitig sind wir als Christinnen und Christen von einem bestimmten Menschenbild und Weltbild geprägt. Fragen der Gerechtigkeit, der vorbehaltlosen Anerkennung eines jeden Menschen und der damit verbundenen Würde sind Grundthemen einer wertebasierten Organisation wie der Kirche, die Christinnen und Christen im Alltag leben und in ihre jeweiligen sozialen Bezüge einbringen.

Macht eine Disruption einer Organisation das Handeln in einer solchen Haltung schwerer oder befördert es nicht auch den Austausch und die gemeinsame Entwicklung? Ihre Frage höre ich auch als Nachfrage, wie bei einem Zusammenbruch noch Handlungsfähigkeit „nach außen“ gewährleistet werden kann. Wenn dies so intendiert ist, dann erscheint mir dies die Basisorientierung von Kirche nicht gut genug berücksichtigt zu haben. In fast allen Landeskirchen ist die Gemeinwesenorientierung ein wichtiger Aspekt der Veränderung. Darin spiegelt sich gerade das Interesse kirchliches Handeln so zu verändern, dass gesellschaftliche Akteure Raum im kirchlichen Handeln gewinnen und Kooperationen im Sozialraum für die Gestalt und das Selbstverständnis kirchlichen Handelns mehr Bedeutung gewinnen. Anders gesagt: eine disruptive Entwicklung kann die Frage der gemeinsamen Verantwortung neu stellen und anders zu bearbeiten ermöglichen als es die bisherige Unterscheidung, Abgrenzung und Eigenständigkeit von Organisationen tun konnte.

 

30.10.2022

Oberkirchenrätin Dr. Melanie Beiner, Leiterin Dezernat 1 – Kirchliche Dienste der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau

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