022022

Foto: Ursuka Hahmann

Bonustrack

Sascha-Philipp Geißler

Erzbistum Hamburg

Beschäftigen Sie sich in Ihrer Diözese mit dem Szenario einer disruptiven Entwicklung bzw. eines Zusammenbruchs der bisherigen Gestalt?

Das Erzbistum Hamburg hat im Jahr 2016 einen Erneuerungsprozess begonnen, in dem ein pastoraler Orientierungsrahmen zur Gestaltung der Zukunft im Erzbistum erarbeitet worden ist. Die Vermögens- und Immobilienreform hat das Ziel, den Einsatz wirtschaftlicher Ressourcen auf das Wesentliche zu konzentrieren und große Teile des Diözesanhaushaltes nachhaltiger zu gestalten. Sie ist somit eine direkte (ökonomische) Konsequenz des Erneuerungsprozesses. Dazu gehört, dass das System auf die in Zukunft verfügbaren Ressourcen angepasst wird. All dies geschieht in Verantwortung für die nächste Generation von Katholik_innen und die Beständigkeit der Glaubensvermittlung.

Ein weiteres Projekt „missionarisch weiter gehen – Personalstrategie 2030“ versucht, Reaktionen auf eine disruptive Entwicklung unserer Personalstruktur zu antizipieren. Denn die Personaldecke wird sich mit der Verrentung der geburtenstarken Jahrgänge massiv verkleinern. Parallel dazu gibt es kaum Studierende für die Berufsgruppen und die Anzahl der Katholik_innen nimmt ab. Bis Mitte der 2020er Jahre wird mit neuen Stellenformaten experimentiert, aus deren Evaluation heraus neue Ansätze für den Personaleinsatz in der Pastoral strategisch grundgelegt werden können. Unser Motto ist ein biblisches: „Prüft alles und behaltet das Gute“ (1 Thess 5,21). Dieser Rat des Apostels Paulus gilt natürlich nicht nur für dieses Projekt, sondern auch grundsätzlich für unsere Diözese. Das heißt, dass für uns im Erzbistum Hamburg schon jetzt die Freude am Neuen („Prüft alles“) und die kluge Unterscheidung („…und behaltet das Gute“) besonders wichtig sind. Gerade deshalb haben wir in unserem Pastoralen Orientierungsrahmen für uns als Diözese formuliert, dass wir unter anderem ein aufbrechendes Erzbistum Hamburg sein wollen (so heißt es in unserem Pastoralen Orientierungsrahmen).

Also: Ja, das Erzbistum Hamburg beschäftigt sich intensiv mit einem Gestaltwandel der kirchlichen Sozialformen.

Wo bzw. mit wem wird das Thema systematisch diskutiert und bearbeitet?

Wir haben eine Pastoralkonferenz (PaKo) im März diesen Jahres eingerichtet, die agil versucht, strategische Themen des Gestaltwandels zu bearbeiten. Diese Konferenz versucht, strategische Themen zu erfassen, zu analysieren und in Prozesse ausgehend vom Generalvikariat zu übersetzen. Daneben befassen sich im Grunde genommen fast alle Gremien unseres Bistums in unterschiedlichen Facetten mit der Zukunft unseres kirchlichen Lebens und Handelns. Zum Beispiel im Wirtschaftsrat und Diözesanpastoralrat sind diese regelmäßig Thema; ich gehe aber auch davon aus, dass zum Beispiel unsere Berufsgruppen sich intensiv mit Zukunftsfragen auseinandersetzen.

Aktuell arbeiten wir daran, Innovation systematisch in unserer Diözese zu verorten, indem wir einen Innovationsfonds eingerichtet haben und jetzt zur Umsetzung bringen. Konkret bedeutet das, dass alle Katholikinnen und Katholiken im Erzbistum Hamburg die Möglichkeit haben werden, Mittel und Zuschüsse für innovative pastorale Projekte aus diesem Fonds zu beantragen. Dabei ist auch im Blick, dass dies nicht zuerst und zuletzt dem kirchlichen Selbsterhalt dient, sondern unserem Beitrag als Christinnen und Christen in der Gesellschaft. Für mich ist die damit eröffnete Diskussion ein Ort, an dem wir das Thema „Gestaltwandel des Kirchlichen“ ganz praktisch sowie systematisch bearbeiten.

Wie bereiten Sie Ihre Diözese kommunikativ auf dieses Szenario vor?

Auf der einen Seite versuchen wir, uns verstärkt auf die Kommunikation mit den Kirchenmitgliedern zu konzentrieren. Aufgabe und Ziel unserer Mitgliederkommunikation im Erzbistum Hamburg ist es deshalb, in Zeiten des Wandels in Beziehung mit allen Kirchenmitgliedern zu treten und zu bleiben. Dies tun wir, indem wir Transparenz herstellen, Kirche für alle erfahrbar machen und die Relevanz von Kirche auch in der heutigen Gesellschaft darstellen. Unser Mottosatz heißt: „Kirche in Beziehung“.

Kommunikativ agieren wir mit einem Mix, indem wir weiter die treuen Kirchbesucher ansprechen, aber auch unsere Reichweite in den Medien nutzen, um positive Narrative von der Reich-Gottes-Botschaft zu entwickeln (Social Media, Internet, Sendezeiten im öffentlich-rechtlichen und im privaten Rundfunk). Zukünftig wird es darauf ankommen, dass auch die digitalen Möglichkeiten (digitale Plattformlösung) professionell und kontinuierlich genutzt werden – zum Beispiel haben wir jüngst eine digitale Lernplattform entwickelt unter dem Titel s@lt: „spirit @ learning & teaching“.

Auf der anderen Seite müssen wir natürlich auch im Hinblick auf unsere Mitarbeitenden „Kirche in Beziehung“ sein und bleiben. Das tun wir, indem wir versuchen, über große strategische Prozesse transparent zu kommunizieren und diese partizipativ anzulegen. So haben wir beispielsweise die Entwicklung einer Personalstrategie 2030 so angelegt, dass sie mit einer Ideensammlung unter Mitarbeitenden und ihrer fortwährenden Beteiligung funktioniert.

Ich selbst spreche weniger von „Disruption“, sondern eher von „Transformation“ und „Gestaltwandel“ der Kirche. Denn diese Begriffe weisen darauf hin, dass sich im „Wandel“ Chancen verbergen. Der Wandel hilft uns und unserem Handeln wesentlicher zu werden: Die Botschaft vom Reich Gottes bleibt, auch wenn unsere Gestalt sich ändert.

Wie wollen Sie die Handlungs- und Steuerungsmöglichkeit Ihrer Diözese erhalten?

Wie eingangs bereits erwähnt sind wir gerade in mehreren größeren Prozessen. Mit der Vermögens- und Immobilienreform sowie der „Personalstrategie 2030 – missionarisch weiter gehen“ werden jetzt schon Steuerungsmöglichkeiten für die Zukunft antizipiert.

Aber es gilt auch, sich an dieser Stelle ehrlich zu machen: Wir haben keine große Glaskugel und wissen nicht, wie die Gestalt der Kirche in 20 oder 25 Jahren aussehen wird. Die eigentliche Herausforderung besteht doch darin, mit dieser Ungewissheit vertrauensvoll umzugehen. Unser Glaube ist die wichtigste Ressource dafür.

Welche Überlegungen gibt es, in diesem Szenario den Übergang zu gestalten?

In der Diözese ist ein Prozess der Errichtung von 28 Pfarreien im Januar 2022 abgeschlossen. Das Leben in diesen neu errichteten Pfarreien, die in Vernetzung mit „Orten kirchlichen Lebens“ und ausgerichtet auf das soziale Umfeld auch als sogenannte „Pastorale Räume“ bezeichnet werden, muss sich zum Teil noch einspielen.

Seit August 2022 wird an einer Evaluation der pfarreilichen Gremien gearbeitet, um eine veränderte Struktur für eine in Form gebrachte systematische Kommunikation der Akteure auf der lokalen Ebene neu zu gestalten. Das Design setzt auf Beteiligung von und Beziehung mit den Akteuren vor Ort. Wir suchen nach möglichen neuen Lösungen, die wiederum einer Konsultationsschleife unterzogen werden, bevor sie durch die diözesanen Räte beraten und zur Entscheidung empfohlen werden. Die Beteiligung der betroffenen Akteure, die gemeinsame Suche und Beschreibung von vielfältigen Lösungswegen, sowie eine Würdigung des Gelungenen wie auch das nüchterne Sehen des Misslungenen sind wichtige Aspekte in der Gestaltung des Übergangs. Ebenso werden neue Dinge projektweise ausprobiert und damit Erfahrungen gesammelt. Über Erkundungen (Reisen in die Weltkirche und in andere Kirchen) werden Ideen mitgebracht, an die Gegebenheiten vor Ort angepasst und umgesetzt.

Wir versuchen, mit kleinen Beispielen für Gelungenes in einer neuen Gestalt das Neue attraktiv zu machen. Wichtig dafür ist es, das Bisherige zu würdigen und zugleich das Neue willkommen zu heißen. Beispielsweise haben wir gerade zwei „Gründer_innen“-Stellen ausgeschrieben, die nach den Prinzipien der Fresh-X-Bewegung versuchen, auf der lokalen Ebene Neues auszuprobieren.

Der absehbare Rückgang hauptamtlichen Personals verlangt außerdem auch nach Lösungen in Bezug auf Leitungsstrukturen. Aktuell wird in zwei Modell-Pfarreien eine neue Leitungsarchitektur ausprobiert. Es geht darum, Leitungsverantwortung zu teilen und Laien flexibel in die Leitung der Pfarrei mit hineinzunehmen und so von vorneherein mehr Perspektiven als Grundlage von Wirklichkeitswahrnehmung und Entscheidung zu setzen.

Wie kann in diesem Szenario Ihre Diözese der Verantwortung für die Mitarbeitenden gerecht werden?

Als Mitglied unserer Bistumsleitung möchte ich Veränderung als Chance für Neugestaltung begreifen und so gemeinsam mit anderen Mitarbeitenden ein positives Mindset fördern. Dazu gehört auch in der Personalentwicklung das Qualifizieren von Führungskräften, damit sie sich ihrer Verantwortung bewusst sind als die, die Orientierung geben, Veränderungskultur positiv prägen und Neues ermöglichen. Mitarbeitende müssen dabei in der Veränderung entsprechend mitgenommen und konkrete Veränderungsbedarfe erfragt werden. Es bedarf zudem einer adäquaten internen Kommunikation wie auch regelmäßiger Updates zur Situation und Projekten, die der sich verändernden Situation Rechnung tragen. Besonders positive Aufbrüche müssen als Beispiele aktiv kommuniziert werden, sodass neue Ideen entwickelt und mutig eingebracht werden. Wertschätzung gegenüber den Mitarbeitenden und Entwicklungsperspektiven tragen dazu bei. Die gemeinsame Suche nach Antworten als eigenen Anspruch zu definieren, entfaltet Dynamik und macht den gemeinsamen Weg einfacher.

Wie können Sie als Diözese in dieser Situation der Verantwortung für die Gesellschaft gerecht werden?

Mir ist eine Kultur der Ermöglichung wichtig. Das heißt, dass wir das, was wir haben, zur Verfügung stellen wollen. Und das heißt auch, zu entdecken, wie wir mit einem Blick über den Tellerrand hin zu den Glaubensgeschwistern in der Welt lernen können, wo und wie wir als Katholik_innen in unserer Diözese hilfreich sein können. Unser Erzbistum besteht zu einem Drittel aus Katholikinnen und Katholiken anderer Muttersprachen als deutsch. Unser Bistum lebt eine Vielfalt, die auch unserer Gesellschaft guttut.

Ein Beispiel für gesellschaftliche Verantwortung, die in diesem Sinne im Erzbistum Hamburg übernommen wird, ist die Aktion „WE CARE FOR U!KRAINE“. Dabei handelt es sich um eine Hilfsaktion, im Zuge derer Pakete für die vom Krieg betroffenen Regionen in der Ukraine gepackt und verschickt werden. Einerseits hilft es den Menschen vor Ort, andererseits hilft es aber auch tatsächlich uns selbst, wenn wir miteinander über das Tun ins Gespräch kommen, auch über eigene Ängste und Sorgen.

Noch immer hat die Kirche viele Ressourcen, die sie einbringen kann in die Situationen der Zeit. Beispielsweise werden aktuell kirchliche Räume werktags zu Wärmestuben, wenn Menschen nicht mehr in der Lage sind, ihre eigenen Wohnungen zu heizen. Sie können Ausgabestellen für Lebensmittel sein, sie können Orte der Begegnung werden.

Vielleicht ist ein weiterer Punkt wichtig zu benennen: Die Kirche übernimmt durch die Personen, die sich in ihr engagieren, häufig ein demokratiestabilisierendes Engagement in der Gesellschaft, das wir viel zu oft übersehen. Heute gehören Menschen zur Kirche, die in allen Teilen der Gesellschaft ein demokratisches Miteinander kennen und aktiv gutheißen. Eine große Stärke unseres kirchlichen Lebens sollte es doch zumindest sein, dass sich alle gleichermaßen mit den eigenen Ideen und Gaben einbringen können. Das ist unser großes Potenzial.

 

Hamburg, 10.10.2022

P. Sascha-Philipp Geißler SAC, Generalvikar Erzbistum Hamburg

in Zusammenarbeit mit Mitarbeitenden im Erzbischöflichen Generalvikariat Hamburg

 

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