Entscheidung und Gehorsam
Im Frühjahr 2012 meldete sich in Österreich eine Initiative von Pfarrern mit einem „Aufruf zum Ungehorsam“ zu Wort. Mehr als 400 Pfarrer unterschrieben einen Text, in dem sie sich dazu bekannten, dass sie sich in mehreren pastoralen Fragen schon lange nicht mehr an die kirchliche Disziplin halten und auch vorhätten, sich weiterhin nicht daran zu halten: Kommunion für wiederverheiratete Geschiedene, Laienpredigt, etc. Einige Wochen später meldete sich in der Erzdiözese Freiburg eine Gruppe von ca. 200 Priestern zu Wort, die sich öffentlich zu ihrer Praxis bekannte, wiederverheirateten Geschiedenen die Kommunion zu reichen, wenn sie dies für pastoral angemessen halten. Ähnliche Initiativen bilden sich seit einiger Zeit in anderen Diözesen.
Der Römerbrief von Paulus ist ein Schlüsseltext der frühen Kirche und der gesamten Kirchengeschichte. Schon im fünften Vers des ersten Kapitels fällt ein wichtiges Wort: „Durch ihn (Christus) habe ich Gnade und Apostelamt empfangen, um in seinem Namen alle Nicht-Juden zum Gehorsam des Glaubens zu führen.“ Das griechische Wort „hypakoe pisteos“ wird seit Luther meist mit „Gehorsam des Glaubens“ oder „Glaubensgehorsam“ übersetzt. Ist der Akt des Glaubens ein Gehorsamsakt? Gehorsamsakt gegenüber wem? Sagt mir der Apostel, was ich glauben soll, und muss ich ihm dann gehorchen? Bin ich ungehorsam, wenn ich nicht glaube? Ist der Glaubensakt also eigentlich gar kein Glaubensakt, sondern ein Gehorsamsakt? Ist die Entscheidung zu glauben eigentlich eine Entscheidung zu gehorchen?
1. Der Begriff „Glaubensgehorsam“
Mit der genannten Übersetzung scheint es gar nicht anders möglich zu sein, als den Glaubensakt als einen Gehorsamsakt gegenüber der Person des Apostels, heute: gegenüber den Repräsentanten des apostolischen Lehramts zu verstehen. Damit wäre dann auch klar, wie die Kirche das Verhältnis von Lehramt und Glauben zu konstruieren hat: Das Lehramt legt mir vor, was ich glauben soll, und ich gehorche dem Lehramt, indem ich glaube, was ich glauben soll. Wenn ich nicht glaube, bin ich ungehorsam.
Doch die Formulierung von Röm 1,5 kann ein dermaßen auf Gehorsam zugespitztes Verständnis von Glauben nicht tragen. „Pistis“ (Glauben) bedeutet bei Paulus zunächst „Trauen“ oder auch „Vertrauen“, also eine Haltung gegenüber einer Person. Natürlich wird das, was mir die Person inhaltlich zu sagen hat, für mich leichter annehmbar, wenn ich der Person (oder dem apostolischen Lehramt) vertraue. Aber es ist gerade das Vertrauen in die Person des Apostels – oder meiner Mutter, meines Vaters, meines Lehrers, meiner Freundin –, welches mir ermöglicht, die Botschaft anzunehmen, und eben nicht die Unterwerfung unter den Willen einer anderen Person, schon gar nicht, wenn diese mit dem Anspruch auf mich zutritt: Gehorche mir und glaube, was ich dir sage!
Aus vielen Gründen ist es übrigens naheliegend, „hypakoe“ in Röm 1,5 nicht mit „Gehorsam“, sondern mit „Botschaft“ zu übersetzen (vgl. Gal 3,2). Das Thema des Römerbriefes ist „pistis“, nicht „hypakoe“. Die gehörte Botschaft (hypakoe) wird weiter gegeben. Sie betrifft nicht nur meinen Glaubensakt gegenüber Jesus oder Gott. „Pistis“ ist vielmehr ein Beziehungs-Prinzip, das die gesamte Kommunikation zwischen Gott und Mensch, zwischen Jesus und Gott, zwischen Menschen untereinander, auch zwischen Abraham (!) – also schon vor Christus – und Gott umfasst. Die Vorstellungswelt, die mit der Übersetzung „Glaubensgehorsam“ ausgelöst wird, reduziert hingegen die ganze Fülle des mit „pistis“ Gemeinten auf einen Gehorsamsakt gegenüber einer Autorität. Das führt in eine Sackgasse.
2. Notwendige Asymmetrien
Hier wird nicht behauptet, dass Glauben und Gehorsam völlig beziehungslose Begriffe sind. Sonst gerät man in eine andere Falle. Jesus war kein gehorsamer Mensch. Oder anders gesagt: „Er war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz“ (Phil 2,8), aber nicht dem Willen der damaligen religiösen Autoritäten, sondern dem Willen des Vaters im Himmel. Das heißt nicht, dass Jesus die Legitimität religiöser Autoritäten seiner Zeit gar nicht anerkannt hätte. „Die Schriftgelehrten und Pharisäer haben sich auf den Stuhl des Moses gesetzt. Tut und befolgt also alles, was sie euch sagen“ (Mt 23,3), und zwar deswegen, weil sie auf dem „Stuhl des Moses“ sitzen, nicht etwa deswegen, weil sie so besonders glaubwürdige Personen sind. Im Idealfall kommen persönliche Glaubwürdigkeit und Inhabe des legitimen „Heiligen Stuhls“ zwar zusammen. Aber die Autorität des „Heiligen Stuhls“ hängt nicht einfach an der persönlichen Glaubwürdigkeit seiner Inhaber. Sie hat eine eigene, eine institutionelle Legitimität.
Dieser Aspekt des religiösen Lebens hat etwas zu tun hat mit dem Phänomen der notwendigen Asymmetrien, die auch im Evangelium anerkannt werden – Eltern-Kind, Hirte-Schaf, Lehrer-Schüler, Arzt-Patient. In solchen Beziehungen waltet ein Machtgefälle, das nicht auflösbar ist. Das ist auch für das Thema Vertrauen ein wichtiger Punkt: Missbrauch von Vertrauen hat oft etwas damit zu tun, dass diese Sorte von Asymmetrien geleugnet wird, um Nähe herzustellen. Der Chef gibt sich gegenüber den Angestellten jovial, der Pater gibt sich als Kumpel des Messdieners, die Mutter als Freundin der Tochter, der Lehrer als Freund seiner Schüler. Distanzen werden aufgelöst, sogar programmatisch. Asymmetrien werden grundsätzlich ablehnt. Der Missbrauch besteht dann darin, dass der Täter dem Opfer vorgaukelt, die Asymmetrie bestünde nicht, obwohl sie ja nach wie vor besteht. Die Opfer werden in eine Pseudo-Egalität hineingelockt, in die sie sich gerade deswegen hineinlocken lassen, weil sie dem lockenden Täter auf Grund seiner Autorität als Chef, Pfarrer, Onkel oder Lehrer vertrauen
3. Willens- und Verstandesgehorsam
Aber wie steht es mit dem Missbrauch von Gehorsamsforderungen? „Heilige Stühle“ stehen für eine notwendige Lehrautorität im Bereich des Religiösen. In diesem Zusammenhang verlangt auch das kirchliche Lehramt von den Getauften durchaus Gehorsam: „Dieser religiöse Gehorsam des Willens und Verstandes ist in besonderer Weise dem authentischen Lehramt des Bischofs von Rom, auch wenn er nicht kraft höchster Lehrautorität spricht, zu leisten; nämlich so, dass sein oberstes Lehramt ehrfürchtig anerkannt und den ihm vorgetragenen Urteilen aufrichtige Anhänglichkeit gezollt wird, entsprechend der von ihm kundgetanen Auffassung und Absicht.“ (Lumen Gentium, 25)
Die Unterscheidung von „Willensgehorsam“ und „Verstandesgehorsam“ ist von Bedeutung für ein Gehorsamsverständnis, das weniger missbrauchsanfällig ist. „Willensgehorsam“ übersetze ich mit „Bereitwilligkeit“. Es ist von einem Katholiken zu erwarten, dass er gegenüber Äußerungen des päpstlichen Lehramtes „bereitwillig“ ist, sie als Äußerungen einer auch für ihn bedeutsamen Autorität zu hören und entsprechend mit ihnen umzugehen, d.h. offen, wohlwollend, nicht auf der Suche nach dem Haar in der Suppe. Das bedeutet aber nicht, den Verstand auszuschalten. „Verstandesgehorsam“ ist dann gegeben, wenn mein Verstand versteht, was die Autorität, der ich bereitwillig zu höre, lehrt. Dieser Gehorsam bezieht sich auf die Inhalte der Lehre. Die Unterscheidung zwischen „Willensgehorsam“ und „Verstandesgehorsam“ macht diesen Punkt deutlich: Bereitwillige Anerkennung einer Lehrautorität ist nicht identisch mit der intellektuellen Zustimmung zu allem, was diese sagt. Wenn die Lehrautorität glaubwürdig bleiben will, sollte sie selbst auf diesen Unterschied achten. „Ein Dokument mit starken und überzeugenden Argumenten, das von einer Person mit geringer Autorität verfasst wurde, wird immer überzeugender sein als ein Dokument ohne Argumente, das von einer Person mit großer Autorität verfasst wurde“ (Geoffrey Robinson). Wenn das kirchliche Lehramt seine Autorität nicht beschädigen will, dann muss es die Unterscheidung von Willens- und Verstandesgehorsam achten. Dem Verstand kann man nicht befehlen, etwas verstehen zu sollen. Hier zählen Argumente.
Derselbe Paulus, dem das Wort vom „Glaubensgehorsam“ zugeschrieben wird, sagt ein paar Zeilen weiter, dass alle Menschen Kenntnis des göttlichen Gesetzes haben: „Ihr Gewissen legt Zeugnis davon ab“ (Röm 2,15). Daraus folgt, dass das Lehramt, wenn es spricht, in einen Raum hinein spricht, in dem bereits gesprochen wird. Es gibt eine Korrespondenz zwischen dem Wort, welches das Lehramt vorlegt, und dem Wort, das im Herzen der Gläubigen, in ihrem Gewissen zu hören ist. Eine totale Zuspitzung hin auf „Gehorsam“ als Akt der puren Unterwerfung gegenüber der äußeren Autorität zerstört etwas in der Kirche, ja, es zerstört die Kirche als eine Gemeinschaft von Gläubigen, die einander verstehen können und einander etwas zu sagen haben.
4. Konsequenzen
In der katholischen Kirche hat die Hierarchie in den letzten Jahren einige Gewissensfragen zu Gehorsamsfragen zugespitzt. Aus vielen Beispielen ragen in jüngster Zeit zwei heraus. Zum einen der Versuch, die Diskussion über die Frage nach der Zulassung von Frauen zur Priesterweihe durch ein Machtwort zu beenden: „Damit also jeder Zweifel bezüglich der bedeutenden Angelegenheit, welche die göttliche Verfassung der Kirche selbst betrifft, beseitigt wird, erkläre ich kraft meines Amtes die Brüder zu stärken, dass die Kirche keinerlei Vollmacht hat, Frauen die Priesterweihe zu spenden, und dass sich alle Gläubigen der Kirche endgültig an diese Entscheidung zu halten haben“ (Ordinatio Sacerdotalis, 22.5.1995). Hier wird ultimativ Gehorsam gegenüber einer lehramtlichen Aussage verlangt. Damit sind aber alle inhaltlichen Einwände und Verstehensprobleme, sobald man sie laut äußert, Akte des Ungehorsams. Die Unterscheidung zwischen Willens- und Verstandesgehorsam ist aufgehoben. Doch das bedeutet in der Konsequenz nur, dass die Diskussion im Untergrund weitergeht. Die Hierarchie wird das öffentliche Schweigen zu diesem Thema als Signal dafür missverstehen, dass das Volk „gehorcht“. Kirchliche Autorität und Kirchenvolk werden sich auseinander leben, mehr als sie es merken – bis sie eines Tages merken, dass sie einander nicht mehr verstehen.
Der deutsche Katholizismus steht seit einigen Jahren vor einer weiteren ultimativen Gehorsamsforderung: 1999 gründeten katholische Laien den Verein „Donum Vitae“, nachdem die Kirche aus der Mitarbeit in der staatlichen Schwangerschaftsberatung ausgestiegen war. Der Verein verblieb im staatlichen Beratungskonzept. Johannes Paul II hatte das Zeugnis der Kirche für das Leben in seiner Eindeutigkeit gefährdet gesehen, wenn katholische Schwangerschafts-Beratungsstellen nach der Beratung den Schein ausstellen, den Frauen im Falle einer Abtreibung laut Gesetz als Voraussetzung für Straffreiheit vorlegen müssen. Diesem Befehl zum Ausstieg waren nicht alle Katholiken gefolgt. Warum sollte plötzlich falsch sein, was jahrelang mit dem Segen der Bischöfe richtig gewesen war? Warum sollte es nicht möglich sein, in der Abwägung zwischen Eindeutigkeit des Zeugnisses und Rettung von Leben beide Optionen nebeneinander leben zu lassen? Leben besteht manchmal eben auch aus Widersprüchen, die sich nicht auflösen lassen. Inzwischen hat sich die Lage so sehr zugespitzt, dass treue, untadelige Katholiken wie Hans Maier und Rita Waschbüsch ausgeladen werden, wenn sie in den katholischen Akademien von Regensburg oder Augsburg sprechen wollen. So werden komplexe Fragestellungen auf ein Durchsetzungsproblem reduziert. Auch das kommt davon, wenn man Willens- und Verstandesgehorsam vermischt: Die Reduktion von inhaltlichen Fragen auf Machtfragen.
Ich bestreite nicht, dass es Situationen gibt, in denen Machtfragen geklärt werde müssen. Lehrer müssen sich disziplinarisch gegen Gewalt in der Schule durchsetzen müssen. Politiker müssen dem Rechtsbruch nicht bloß Worte, sondern auch Taten entgegensetzen. Die Berufung auf „das Gewissen“ kann missbraucht werden, um sich dem Diskurs, der Mühe der Begründung zu entziehen. Und schließlich können nicht alle Differenzen im „gewaltfreien Diskurs“ gelöst werden, weil es Beiträge zum Diskurs gibt, die selbst ein Gewaltakt sind: Beleidigungen, Diskriminierungen, Verleumdungen. Beispiel: Auf einer talk-show in New York diskutierten in einer Runde unter anderen auch ein schwarzer Bürgerrechtlicher und ein weißer Mann, ersterer ein alter Kampfgefährte von Martin Luther King, letzterer Mitglied des Ku-Klux-Klans. Der weiße Mann behauptete in der Diskussion, dass sein schwarzer Gesprächspartner kein richtiger Mensch sei, sondern nur ein höher entwickelter Affe. Spätestens hier hätte der Moderator einschreiten und den Mann aus dem Raum werfen müssen. Stattdessen ließ er über die Position diskutieren, nach dem Motto: „Hier darf jeder sagen, was er denkt.“ Schließlich tat der Bürgerrechtler das einzig angemessene: Er stand auf, gab dem bleichgesichtigen jungen Mann eine Ohrfeige und verließ den Raum.
Macht hat eine Schutzfunktion. Sie hat aber nicht die Funktion, Überzeugungen und Erkenntnisse über Gehorsamsforderungen durchzusetzen. Das Problem der Zuspitzung von Überzeugungsfragen auf Gehorsamsfragen besteht darin, dass die äußere Autorität in Konfliktfall den Vorrang gegenüber der inneren Autorität des Gewissens verlangt. Die Konsequenz ist: Vertrauensverlust. Das Gewissen geht in Deckung vor der Autorität. Aber es ist ja gerade das Vertrauen, dass den „Willensgehorsam“ ermöglichen soll – die Bereitwilligkeit, sich von der Autorität etwas sagen zu lassen. Kindisch wäre es in der Konfliktsituation, sich von der Autorität nun deswegen nichts mehr sagen zu lassen, weil es die Autorität es ist, die spricht. Das weiß das Gewissen auch. Mit dem Versuch, Überzeugungen zu verordnen, bringt die Autorität das Gewissen in höchste Bedrängnis.
Es ist also Aufgabe der Autorität, in einem ständigen Akt der Selbstprüfung beides zugleich zu leisten: Einerseits die nicht delegierbare Verantwortung, die mit dem Amt gegeben ist, nicht aufzugeben, und zugleich mit einer Haltung des Hörens, des Hinhorchens in den innerkirchlichen Dialog einzusteigen, und zwar nicht nur über bloß äußerliches Anhören, sondern in der Bereitschaft, sich von dem Gehörten bewegen zu lassen und es im eigenen Entscheidungsprozess ernsthaft mit zu erwägen. Der Sinn des Machtgefälles zwischen Lehramt und Einzelnem besteht darin, den Freiheitsraum des Gewissen zu schützen. Die kirchliche Gemeinschaft wird den Entscheidungen, die die Autorität trifft, dann umso mehr annehmen können, wie sie umgekehrt ihr gegenüber im Verhalten der Autorität den Respekt vor dem Gewissen, vor dem Dialog, vor der Stimme der Vernunft erlebt.