022013

Foto: arianta: Ferris Wheel.III (CC BY-NC 2.0), Bildausschnitt

Konzept

Barbara Schmitz

Offenbarung und Entscheidung – eine biblische Erzählung (1 Kön 22)

Nicht nur die prophetischen Texte der Hebräischen Bibel, sondern auch Erzählungen wie das Buch Exodus oder Gebetstexte wie die Psalmen gehen von der Vorstellung einer Kommunikation Gottes mit Menschen aus: Gott spricht zu den Menschen, er gibt Anweisungen, und die Menschen können dann entsprechend handeln.

Dieser Grundgedanke ist gerade für die prophetische Literatur als einer der ältesten Gattungen in der Bibel konstitutiv: Grundlage ist das direkte Sprechen Gottes zu den Propheten, die dann die Worte Gottes weitergeben, oft explizit als Gottes Worte durch die Botenformel markiert. Diese Kommunikation zwischen Gott und den Menschen ist das, was wir meist unter ‚Offenbarung’ verstehen: das von Gott gegebene und vom Menschen empfangene Wort. Dass diese Gottesworte aber nicht einfach vorliegen, weil sie vom Himmel fallen und da sind, das zeigen die biblischen Erzählungen auf vielfache Weise. Das Verstehen von Gottesworten muss vielmehr erlernt werden. So muss der Prophetenschüler Samuel, dem Gott sich mehrfach im Traum offenbart, erst von seinem Lehrer Eli die Unterscheidung zwischen Menschenworten und Gottesworten lernen; erst als er von seinem Lehrer Eli gelernt hat, das Gotteswort als solches zu erkennen und weiß, wie er reagieren und was er antworten soll, kann eine Kommunikation zwischen ihm und Gott stattfinden (vgl. 1 Sam 3).

Offenbarung braucht (menschliches) Erkennen. Und Erkennen braucht Entscheidung, sonst kann Offenbarung nicht wirksam werden. Inwiefern Offenbarung, Erkenntnis- und Entscheidungsprozesse zusammenhängen und keine einander nachgeordneten Schritte sind, sondern untrennbar zusammenhängen und reziprok aufeinander einwirken, wird bereits biblisch reflektiert. Exemplarisch hierfür soll im Folgenden eine Geschichte in den Mittelpunkt gestellt werden, die nicht nur von der Vieldeutigkeit der empfangenen und doch in sich unterschiedlichen Gottesworten erzählt (‚Offenbarung’), sondern die verdeutlicht, dass diese einem Hör- und Deuteprozess unterliegen (‚Erkenntnis’), der erst zum Handeln führt (‚Entscheidung’).

Vielfache und vieldeutige Prophetie in 1 Kön 22

Die Erzählung von 1 Kön 22 steht an exponierter Stelle in den Königsbüchern: Im mittleren Abschnitt der Königsbücher über die Geschichte der getrennten Königreiche Israel und Juda (1 Kön 12-2 Kön 17) steht zentral der Erzählzyklus über die beiden Propheten Elija und Elischa. Genau in der Mitte dieses Erzählzusammenhangs, kurz vor dem Tod Elijas (2 Kön 2) und dem Beginn des Wirkens Elischas findet sich unverbunden mit dem umgebenden Erzählkontext eine Erzählung, in der nur unbekannte Figuren und weder Elija noch Elischa auftreten. Diese Erzählung stellt aber die Frage nach der Zuverlässigkeit des prophetischen Wortes und damit die Frage nach dem Umgang mit Prophetie.

Die Erzählung von 1 Kön 22

1 Kön 22 erzählt von dem Plan des Königs von Israel, einen Krieg um die Stadt Ramot Gielad zu führen. Während einer Friedenperiode setzt die Handlung im dritten Jahr ein (1 Kön 22,1.2–14.15–28.29–38).1

Im ersten Abschnitt wird erzählt, dass der König von Israel sich der aramäischen Stadt Ramot-Gilead bemächtigen möchte und hierzu den König von Juda gewinnen möchte. Der König von Juda sichert ihm seine Solidarität zu, bittet den König von Israel aber zuvor um die Befragung von Propheten: Sollen sie um Ramot-Gilead in den Krieg ziehen oder nicht? Darauf folgt die Befragung von vierhundert Propheten durch den König von Israel. Sie sagen: »Zieh hinauf! Mein Herr wird in die Hand des Königs geben!« (1 Kön 22,6). Trotz dieser positiv klingenden Botschaft besteht Joschafat, der König von Juda, darauf, noch einen weiteren Propheten zu befragen. Daraufhin lässt der König von Israel nur widerwillig einen weiteren, ihm meist wenig wohl gesonnenen Propheten holen: Micha ben Jimla. Während ein Bote Micha holt, tritt eine neue und bislang unbekannte Figur, Zidkija ben Kenaana, mit eisernen Hörnern auf und verkündet: »So spricht JHWH: ›Mit diesen [eisernen Hörnern] wirst du Aram schlagen – bis zur Vernichtung‹!« (1 Kön 22,11).

Im zweiten Abschnitt (1 Kön 22,15–28) wird geschildert, wie der her­beigeholte Micha vor den beiden Königen und den Propheten auftritt. Auf die Frage des Königs von Israel gibt Micha drei verschiedene Antworten: Die erste Antwort Michas (1 Kön 22,15) ist die gleiche Antwort wie die der vierhundert Propheten zuvor (vgl. 1 Kön 22,6). Statt sich über die Bestätigung der ersten Botschaft zu freuen, protestiert der König. Daraufhin schildert Micha zwei Visionen. In einer ersten berichtet Micha, dass er Israel wie Schafe auf den Bergen zerstreut gesehen habe (1 Kön 22,17). In einer zweiten berichtet Micha von einem von ihm »gesehenen« Dialog zwischen JHWH und seinem Hofstaat, insbesondere einem Geist (1 Kön 22,19‑23): JHWH habe die Seinen aufgefordert, Ahab und die Propheten zu betören; ein Geist habe sich bereit erklärt, zum Lügengeist zu werden und die Worte der Propheten zu beeinflussen. Auf diese Antworten erntet Micha den scharfen Protest Zidkijas und des Königs von Israel.

Der dritte Abschnitt (1 Kön 22,29–38) schildert den Kriegszug ge­gen Aram und endet, mit einer gescheiterten Verkleidungsszene, unfreiwillig mit dem Tod des Königs von Israel.

Der Konflikt unter den Propheten

Obwohl der Anlass für die Prophetenbefragung der geplante Kriegszug des Königs von Israel gegen Aram ist, entsteht der zentrale Konflikt der Erzählung durch die verschiedenen Antworten, die die Propheten auf seine Frage geben, ob der König um Ra­mot-Gilead in den Krieg ziehen soll oder nicht.

1. Die Befragung der vierhundert Propheten (1 Kön 22,6–9)

Über die vierhundert Propheten erfahren die Leserinnen und Leser nicht viel, außer, dass sie dem König von Israel sofort zur Verfügung steht. Ihre Antwort klingt zunächst sehr positiv: »Zieh hinauf! Mein Herr wird in die Hand des Königs geben!« (1 Kön 22,6 vgl. 22,12). Es scheint, als ob die vierhundert Propheten ihrem ›Herrn‹ einmütig einen Sieg verheißen. Bei näherem Hinsehen jedoch wird deutlich, dass ihre Antwort höchst mehrdeutig sind: Der Ausdruck »mein Herr« kann sich sowohl auf Gott als auch auf einen anderen Herrn, z.B. den König von Israel, beziehen. Zweitens kann der in der Antwort der Propheten genannte »König« den König von Israel oder den König von Aram meinen. Dadurch ist offen, in wessen »Hand« wer oder was gegeben wird. Drittens fehlt in diesem Satz das Objekt, das an­zeigen würde, was in wessen Hand gegeben wird, wie dies sonst in der Übergabeformel üblich ist (vgl. 1 Sam 23,4). Auf diese Weise kann der Satz »Mein Herr wird in die Hand des Königs geben« mindestens drei unterschiedliche Weisen gelesen werden:

1. Gott gibt etwas in die Hand des Königs von Israel.

2. Gott gibt etwas in die Hand des Königs von Aram.

Bei diesen beiden Verstehensmöglichkeiten stellt sich die Frage, wer oder was in die Hand des Königs von Israel bzw. von Aram gegeben wird. Die dritte Möglichkeit lautet:

3. Er, Gott, gibt meinen Herrn, den König von Israel, in die Hand des Königs von Aram.

Angesichts dieser drei Lektüremöglichkeiten ist offen, ob die Propheten dem König einen Sieg oder eine Niederlage ankündigen.2 Damit müssen sich die szeneninternen Figuren ebenso wie die Leserinnen und Leser entscheiden: Die Antwort, die sie hören, hängt davon ab, mit welcher Hörbereitschaft sie den Worten begegnen, wie sie die Worte dekodieren und wie sie die Worte gefüllt sehen möchten.

2. Zidkija ben Kenaana (1 Kön 22,11–12)

Mit Zidkija ben Kenaana betritt eine unbekannte Figur die Bühne der Handlung, während der Bote aufgebrochen ist, um Micha zu holen. Anders als die vierhundert Propheten zuvor und Micha später tritt Zidkija ungebeten und ungefragt auf.

Zidkija hebt sich mit einem eigenen Profil von den vierhundert Propheten zuvor ab: Er beginnt mit einer Zeichenhandlung und tritt mit eisernen Hörnern auf. Als Zeichen von Kraft und Macht symbolisieren die Hörner nicht nur Sieg und Stärke, sondern sind auch eine gefährliche Waffe. Prophetische Zeichenhandlung dienen dazu, die eigene (Gottes)Rede auf symbolischer Ebene zu erweitern und zu deuten. Dabei ist der Bezug des indi­rekten Objekts im Hebräischen offen: Es kann sich auf Zidkija (»er machte [für] sich«) oder auf den König von Israel (»für ihn« bzw. »ihm«) beziehen.

Anders als die Pro­pheten zuvor zitiert Zidkija ein Wort JHWHs und versieht es mit der für die Prophetie so wichtigen Botenformel: »So spricht JHWH: ›Mit diesen wirst du Aram schlagen – bis zur Vernichtung‹!« (1 Kön 22,11). Durch die Botenformel verleiht er seiner Aussage eine größere Autorität. Zidkija kündigt dem König ein gewaltsame Niederstoßen und Schlagen an. Das Ziel dieses Schlagens kann aufgrund der Formulierung im Hebräischen auf zwei Weisen verstanden werden: entweder »bis du sie zerstörst« oder »bis sie (dich) zerstören«. Durch diese doppelte Lektüre ist der Satz in zwei verschiedene Richtungen zu deuten: entweder als Sieg oder als Niederlage des Königs von Israel. Und damit ist auch Zidkijas Aussage nicht eindeutig, sondern so mehrdeutig wie die der Vierhundert.

3. Micha ben Jimla (1 Kön 22,15‑23)

Durch den Spannungsaufbau ist in der Erzählung die Erwartung aufgebaut worden, dass Mi­cha anders als die anderen Propheten sei. Daher über­rascht es umso mehr, dass Micha mit denselben Worten auftritt, die auch die vierhundert Propheten zuvor gesprochen habe (1 Kön 22,12). Während es bei den Vierhundert schien, dass der König zufrieden mit diesem Ergebnis sei, weil es eine Entscheidung in seinem Sinn begünstigt, äußert er nun – merkwürdigerweise – Zweifel an der Authentizität der Verkündigung Michas.

Micha fährt dann mit der Schilderung von zwei Visionen fort und schildert, was er gesehen habe. Ob das tatsächlich zutrifft, ist weder von einer Figur des Textes, noch von den Leserinnen und Lesern zu verifizieren. Was wir erfahren, erfahren wir nur durch Micha. Auch wenn er sich als neutraler Berichterstatter dessen präsentiert, was er gesehen habe, muss dies keineswegs zutreffen oder verlässlich sein.

In seiner ersten Vision habe er – so Micha – ganz Israel wie Schafe verstreut auf den Bergen ohne Hirten gesehen. Er deutet das Gesehene dann in seiner Rede als einen Zustand ohne »Herren« (1 Kön 22,17). Verstreut ohne Führungspositionen scheint Israel eine Niederlage erlitten zu haben – so jedenfalls scheint die Vision Michas verstanden werden zu wollen. In seiner zweiten Vision schildert Micha, dass er Gott auf seinem Thron sitzen und das Himmelsheer zu seiner Rechten und Lin­ken stehen gesehen habe(1 Kön 22,19). Darauf sei er Zeuge des folgenden Gesprächs geworden: Gott habe angekündet, den König von Israel »verlei­ten« zu wollen. Um dieses Ziel zu erreichen, habe sich Gott ein Geist angeboten, der als »Täu­schungs­geist« im Mund der Propheten wirken wolle, um den König von Israel zu verleiten. Dieser Geist ist kein Täuschungsgeist, sondern wirke vielmehr temporär verkleidet als solcher in dieser konkreten Situation. Gott habe das Angebot des Geistes angenommen und ihn mit einem konkreten Auftrag zur Betörung Ahabs ausgestattet.

Interessanterweise bricht die Vision nun ab, ohne dass man erfährt, ob das Angekündigte tatsächlich umgesetzt worden ist oder nicht. Damit bleibt der Text an entscheidender Stelle offen: Man weiß nicht, ob der Täuschungs­geist tatsächlich sein Programm umgesetzt hat oder nicht. Vor diesem Hintergrund ist der Status der Rede der Propheten und Zidkijas ungeklärt: Sind sie vom Täu­schungsgeist beeinflusst oder nicht?

Vertraut man Michas Vision, dann verkompliziert sich noch einmal die bereits jetzt hinreichend schwierige Frage, was die Aussagen der Propheten bedeuten könnten, noch einmal: Erstens ist es schwierig das Verhältnis zwischen Micha’s erster Antwort, die mit der Antwort der Vierhundert identisch ist, und seinen folgenden Visionen zu bestimmen: Wird seine erste Antwort durch die Visionsschilderungen revidiert? Ist sie ›falsch‹ gewesen? Dann hätte Micha bewusst gelogen und wäre als ›falscher‹ Prophet aufgetreten. Oder Micha hat seine mehrdeutige Aussage als Warnung verstan­den? Zweitens ist das Verhältnis der Visionsschilderungen Michas zu den Aussagen der Vierhundert zu betrachten, die ja bereits in sich mehrdeutig sind: Wenn das, was Micha sagt, tatsächlich richtig sein sollte und das Wort der Propheten verfälscht ist, dann haben die Propheten wahre, aber von Gott her verleitete Gottesworte übermittelt, ohne dass sie dies wissen konnten. Es könnte aber auch sein, dass Micha’s Visionen das Ziel haben, die Worte der Vierhundert und die Aussage Zidkijas in Misskredit zu bringen, um seine eigene Botschaft auf diese Weise zu bestärken. Dann stünde Micha als ein falscher Prophet da.

Prophetie in 1 Kön 22

Die grundlegende Frage nach der prophetischen Gotteskommunikation und der Positionierung von Menschen ihr gegenüber wird in 1 Kön 22 vor dem Panorama der in Israel bekannten Prophetie präsentiert: die Vierhundert als prophetische Übermittler des Wortes, Zidkija als ›klassischer‹ Einzelprophet mit Botenformel und Zeichenhandlung und Micha als Einzelprophet und Seher. Vor diesem entfalteten Panorama der Prophetie wird deutlich, dass keine klare Grenzziehung zwischen ›wahrer‹ und ›falscher‹ Prophetie möglich ist. Vielmehr ist das Phänomen des Prophetischen noch komplexer, vergleicht man die Aussagen der verschiedenen Propheten. Keine ist eindeutig. Alle sind mehrfach deutbar: Sie können als Ermutigung zum Krieg oder als auch Warnung vor einem Krieg gelesen werden. Was bleibt, ist verwirrend: Die drei verschiedenen prophetischen Aussagen geben das eine Wort Gottes wieder und sind doch alle mehrfach deutbar. Was ist nun das »Wort Gottes«? In der Erzählung selbst wird keine der Positionen bewertet oder als »wahr« oder als »falsch« qualifiziert. An keiner Stelle sympathisiert die Erzählstimme mit einem der Propheten oder distanziert sich. Die Erzählstimme präsentiert lediglich die Figuren und lässt sie nebeneinander stehen. So bleiben die Fragen?: Wie sind ihre mehrdeutigen Worte der Propheten zu verstehen? Haben sie etwa alle Recht? Oder niemand? Oder nur einer?

Aus der Erzählung ergeben sich drei Aspekte:

Erstens: Das Wort Gottes ist frei und unverfügbar. Es ereilt Menschen, die es rezipieren und in der Weitergabe bereits notwendig interpretieren. Sie können gar nicht anders, als das Wort Gottes als bereits interpretiertes Wort weitergeben.

Zweitens: Versetzt man sich aber nun in die Situation der Figuren, so z.B. in die Situation des Königs, dann muss sich der König, nach Anhörung der Positionen ohne eindeutigen Rat selbst entscheiden.

Drittens: Die Lesenden sind in einer ähnlichen Situation wie die Figuren der Erzählung: Auch sie müssen sich mit der Frage beschäftigen, was mit dem Gehörten jeweils gemeint sein könnte. Sie können die Mehrdeutigkeit der Aussagen hören und dekodieren.

Der Text selbst gibt keine Antwort. Als Leserinnen und Leser sind wir herausgefordert, müssen uns diesen Fragen stellen und – wie der König – müssen uns entscheiden. Die Erzählung von 1 Kön 22 konfrontiert die Leserinnen und Leser narrativ mit dem Umstand, dass das Gotteswort nicht eindeutig ist, mehrfach gedeutet werden kann, ja mehr noch, dass es kein stabiles, äußeres Kriterium für es gibt. Mit anderen Worten: Offenbarung liegt nicht einfach vor, sondern ist in sich komplex und mehrdeutig und braucht Deutung. Auch die Propheten als Spezialisten der Gotteskommunikation verfügen über keine Eindeutigkeit, sondern auch sie können das Wort Gottes nur bereits interpretiert weitergeben. D.h. die Propheten verstehen sich nicht als Gottes Sprachrohr. Das wäre ein falsch verstandenes Verständnis von Prophetie. Das Wort Gottes, das frei ist und für den Menschen unverfügbar ergeht, braucht notwendig Interpretation. Anders gesagt: Bei der Frage nach dem Gotteswort stehen nicht nur seine Verkünder im Zentrum, sondern ebenso die Hörerinnen und Hörer. Der biblische Text selbst gibt keine eindeutige Antwort vor, sondern er eröffnet einen Freiraum, der von den Hörerinnen und Hörern gestaltet werden muss. Aus diesen Deutungen sind dann Entscheidungen zu treffen.

Die biblische Erzählung von 1 Kön 22 macht somit deutlich, dass Offenbarung und Entscheidung keine Gegensätze sind, sondern das Geschehen der Offenbarung ohne einen Prozess von Erkenntnis und Entscheidung nicht zu denken ist. Gerade bei Frage nach dem Wort Gottes gibt es uneindeutige Situationen, die nach Interpretation verlangen: Dabei geht es dann um die Suche nach der (eigenen) Wahrheit in ambivalenten Situationen. 1 Kön 22 selbst lässt offen, was denn das Gottes Wort sei. Durch diese Offenheiten des Textes werden wir als Leserinnen und Leser in den Text hineingezogen und stehen mitten im Text und damit in der Auseinandersetzung um unsere Interpretation des Gotteswortes.

Übersetzung der Bibelstelle von Barbara Schmitz

1a Drei Jahre vergingen,
1b ohne dass Krieg zwischen Aram und Israel war.
2a Und es war im dritten Jahr,
2b da stieg Joschafat, der König von Juda, zum König von Israel hinab.
3a Und der König von Israel sagte zu seinen Gefolgsleuten:
3b »Wisst ihr eigentlich,
3c dass Ramot-Gilead uns gehört?
3d Wir aber schweigen, anstatt es aus der Hand des Königs von Aram zu nehmen!«
4a Daraufhin sagte er zu Joschafat:
4b »Ziehst du mit mir in den Krieg um Ramot-Gilead?«
4c Joschafat sagte zum König von Israel:
4d »Ich so wie du,
4e mein Volk so wie dein Volk,
4f meine Pferde so wie deine Pferde!«
5a Dann sagte Joschafat zum König von Israel:
5b »Befrag doch heute das Wort JHWHs!«
6a Daraufhin versammelte der König von Israel etwa vierhundert Propheten
6b und sagte zu ihnen:
6c »Soll ich gegen Ramot-Gilead in den Krieg ziehen
6d oder soll ich es lassen?«
6e Und sie sagten:
6f »Zieh hinauf!
6g Mein Herr wird in die Hand des Königs geben!«
7a Da sagte Joschafat:
7b »Gibt es nicht noch einen Propheten von / für JHWH,
7c durch den wir ihn befragen könnten?«
8a Und der König von Israel sprach zu Joschafat:
8b »Es gibt da noch einen Mann, um JHWH durch ihn zu befragen.
8c Aber ich, ich hasse ihn,
8d weil er nie Gutes über mich prophetisch redet, sondern immer nur Schlechtes:
8e Micha ben Jimla!«
8f Und Joschafat sagte:
8g »Der König rede doch nicht so!«
9a Da rief der König von Israel einen Beamten
9b und sagte:
9c »Schnell, Micha ben Jimla!«
10a Der König von Israel und Joschafat, der König von Juda, saßen ein jeder auf seinem Thron, bekleidet in (königlichen) Gewändern am Dreschplatz am Eingang des Stadttores von Samaria,
10b und alle Propheten redeten die ganze Zeit prophetisch vor ihnen.
11a Zidkija ben Kenaana machte sich / ihm Hörner aus Eisen
11b und sagte:
11c »So spricht JHWH:
11d ›Mit diesen wirst du Aram schlagen – bis zur Vernichtung.‹«
12a Und alle Propheten redeten prophetisch so, sagend:
12b »Zieh hinauf nach Ramot-Gilead!
12c Sei erfolgreich!
12d JHWH wird in die Hand des Königs geben!«
13a1 Der Bote aber,
13b der gegangen war, um Micha zu treffen,
13a2 redete mit ihm, sagend:
13c »Siehe doch: Die Worte der Propheten sind wie aus einem Mund gut für den König!
13d Lass doch auch dein Wort wie ein Wort von ihnen sein
13e und rede Gutes!«
14a Micha sagte:
14b »Beim Leben JHWHs:
14c Ja, was JHWH zu mir spricht,
14d das werde ich sagen!«
15a Als er zum König kam,
15b sagte der König zu Micha:
15c »Micha, sollen wir nach Ramot-Gilead in den Krieg ziehen
15d oder sollen wir es lassen?«
15e Er sagte zu ihm:
15f »Zieh hinauf!
15g Sei erfolgreich!
15h JHWH wird in die Hand des Königs geben!«
16a Der König aber sagte zu ihm:
16b »Wie viele Male muss ich dich noch beschwören,
16c dass du mir die Wahrheit im Namen JHWHs sagen sollst!«
17a Da sagte er:
17b »Ich habe gesehen: Ganz Israel zerstreut auf den Bergen, wie Schafe,
17c die keinen Hirten haben!
17d Und JHWH sprach:
17e ›Sie haben keinen Herren!
17f Sie sollen in Frieden umkehren, ein jeder in sein Haus!‹ «
18a Da sagte der König von Israel zu Joschafat:
18b »Habe ich nicht zu dir gesagt:
18c ›Nie prophezeit er mir Gutes,
18d sondern nur Böses!‹?«
19a Und er (Micha) sprach:
19b »Darum hör das Wort JHWHs!
19c Ich habe gesehen:
19d JHWH saß auf seinem Thron, und das ganze Himmelsheer stand um ihn zu seiner Rechten und seiner Linken.
20a Und JHWH sagte:
20b ›Wer will Ahab verleiten,
20c dass er hinaufzieht
20d und in Ramot-Gilead fällt?‹
20e Da sagten die einen dies,
20f und die anderen sagten jenes.
21a Der Geist aber trat heraus,
21b stellte sich vor JHWH
21c und sagte:
21d ›Ich will ihn verleiten!‹
21e Und JHWH sagte zu ihm:
21f ›Wie?‹
22a Und er sagte:
22b ›Ich will ausziehen
22c und zum Lügengeist im Mund aller seiner Propheten werden!‹
22d Da sagte er:
22e ›Verleite ihn,
22f denn du kannst es!
22g Zieh aus
22h und mache es so!‹
23a Nun sieh doch: JHWH gab den Lügengeist in den Mund aller dieser deiner Propheten,
23b und JHWH hat über dich Unheil gesprochen.«
24a Da näherte sich Zidkija ben Kenaana,
24b schlug Micha auf die Wange
24c und sagte:
24d »Wie soll denn der Geist JHWHs von mir gewichen sein, um durch dich zu reden?«
25a Und Micha sprach:
25b »Du wirst es an jenem Tag sehen,
25c an dem du von Zimmer zu Zimmer rennst, um dich zu verstecken!«
26a Da sagte der König von Israel:
26b »Nimm Micha
26c und bring ihn zurück zu Amon, dem Obersten der Stadt, und zu Joasch, dem Sohn des Königs,
27a und sage:
27b ›So hat der König gesprochen:
27c ‘Werft diesen ins Gefängnis
27d und gebt ihm nur wenig Brot zu essen und auch nur wenig Wasser, bis ich in Frieden zurückkommen werde!’‹!«
28a Und Micha sprach:
28b »Wenn du tatsächlich in Frieden zurückkommen solltest,
28c dann hat JHWH nicht durch mich gesprochen!«
28d Und er sagte:
28e »Hört, ihr Völker alle!«
29 Dann zogen der König von Israel und Joschafat, der König von Juda, nach Ramot-Gilead hinauf.
30a Und der König von Israel sprach zu Joschafat:
30b »Ich will mich verkleiden,
30c wenn ich in den Krieg ziehe.
30d Du aber, ziehe deine Gewänder an!«
30e So verkleidete sich der König von Israel
30f und zog in den Krieg.
31a Der König von Aram aber hatte den Obersten der Wagen, die bei ihm waren, den Zweiunddreißig, befohlen:
31b »Kämpft nicht gegen Klein und Groß,
31c sondern allein gegen den König von Israel!«
32a Und es war, als die Obersten der Wagen nun Joschafat sahen,
32b sagten sie:
32c »Das ist der König von Israel!«
32d Und sie wandten sich ihm zu, um gegen ihn zu kämpfen.
32e Da schrie Joschafat auf.
33a Und es war, als die Obersten der Wagen nun sahen,
33b dass er nicht der König von Israel war,
33c da wandten sie sich von ihm ab.
34a Ein Mann aber spannte seinen Bogen aufs Geratewohl
34b und traf den König von Israel zwischen Gurt und Panzer.
34c Da sagte dieser zu seinem Wagenlenker:
34d »Dreh um
34e und bring mich ins Lager,
34f denn ich bin verwundet!«
35a Doch der Kampf wurde an jenem Tag hitzig geführt,
35b und der König von Israel stand vor Aram aufrecht in seinem Wagen.
35c Am Abend aber starb er,
35d und das Blut floss aus seiner Wunde in das Innere des Wagens.
36a Ein Ruf ging durch das Lager, als die Sonne unterging, sagend:
36b »Jeder in seine Stadt!
36c Jeder in sein Land!«
37a Und der König von Israel starb.
37b Er wurde nach Samaria gebracht.
37c Sie begruben den König in Samaria.
38a Man spülte den Wagen am Teich in Samaria aus.
38b Die Hunde leckten sein Blut,
38c während die Huren badeten,
38d gemäß dem Wort JHWHs, das er geredet hatte.
39a Und die übrigen Worte / Taten Ahabs
39b und alles, was er getan,
39c und das Elfenbeinhaus, das er gebaut,
39d und alle Städte, die er gebaut hat,
39e sind sie nicht aufgeschrieben im Buch der Chronik der Könige von Israel?
40a Und Ahab legte sich zu seinen Vätern.
40b Und sein Sohn Ahasja wurde König an seiner Stelle.

  1. Zu 1 Kön 22 vgl. Schmitz, Barbara, Prophetie und Königtum. Eine narratologisch-historische Methodologie entwickelt an den Königsbüchern (FAT 60), Tübingen 2008, 227-342 sowie Schmitz, Barbara, »Freiheit« als Thema alttestamentlicher Anthropologie, in: Christian Frevel (Hg.), Biblische Anthropologie. Neue Einsichten aus dem Alten Testament (QD 237), Freiburg 2010, 190–215.
  2. Zu der Analogie des Halys-Orakel an König Krösus (»Wenn du den Halys über­schrei­test, wirst du ein großes Reich zerstören«; Hdt I 55).

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