022019

Foto: Patrick Schneider/Unsplash

Editorial

Valentin Dessoy

Editorial

Liebe Leser*innen,

das Thema Macht ist virulent und elektrisiert viele, gerade auch im kirchlichen Umfeld. Das hat seine Gründe. Kirche und Macht haben seit der konstantinischen Zeit eine besondere Affinität. Der Anspruch, (absolute) Macht auszuüben, ist in der DNA von Kirche verankert und bis heute wirksam, gerade auch mit seinen dunklen Seiten, wie sie der Missbrauchsskandal und die hierdurch ausgelöste Diskussion ans Tageslicht gebracht haben.

Man muss sich die Entwicklung der Kirche seit der Spätantike vor Augen halten, um zu verstehen, wie stark das kirchliche Handeln mit dem Anspruch verknüpft ist, (göttlich legitimierte) Macht auszuüben und warum sich die Kirche(n) mit dem faktischen Verlust von Macht und der immer offensichtlicher werdenden Diskrepanz von Anspruch und Wirklichkeit so schwer tun. Von der konstantinischen Wende bis ins späte Mittelalter war die kirchliche Lehre der einzig legitime Bezugsrahmen, Wirklichkeit verstehen. Die Kirche diktierte in normativer Logik die Kriterien für die Unterscheidung von Wahrheit und Irrtum, von Gut und Böse. Sie entschied als Institution über viele Jahrhunderte, was gesellschaftlich erlaubt war und was nicht, wer dazugehören durfte oder exkludiert wurde. Ihr Machtanspruch war umfassend und absolut. Er wurde legitimiert durch den Rekurs auf einen göttlichen Auftrag und war gestützt auf die weltliche Macht, die ihrerseits der kirchlichen Legitimation bedurfte – ein kaum angreifbares, maximal immunisiertes Konstrukt.

Die Aufklärung brachte dieses Konstrukt zu Fall. Im Zuge der kulturgeschichtlichen und politischen Umwälzungen am Übergang zur modernen Gesellschaft verlor die Kirche ihre Monopolstellung und damit schrittweise auch ihre Bedeutung als Träger gesellschaftlicher Funktionen. In der modernen Gesellschaft haben sich die Funktionssysteme Politik, Wirtschaft, Bildung und Wissenschaft, Justiz, Kunst und Kultur, aber auch Familie, Religion und Moral verselbstständigt, emanzipiert und dem kirchlichen Zugriff entzogen. Im Zuge der fortschreitenden Säkularisierung verlor die Kirche nicht nur ihre gesellschaftliche Macht, sondern auch ihre gesellschaftliche Relevanz. Die Menschen wenden sich von ihr ab, brauchen sie nicht mehr.

Diese Entwicklung ging an der katholischen Kirche fast spurlos vorbei. Im Innern blieb sie – anders als die evangelische Kirche – eine absolute Monarchie. Sie kennt keine Gewaltenteilung. Es gibt keine echte Partizipation im Sinne von Mitentscheidung, wie nicht zuletzt der aktuelle Disput um den synodalen Weg zeigt. Stattdessen versuchen alte Männer, die letzten Bastionen etwa im Bereich Familie/ Moral normativ top-down über den alten Exklusionsmechanismus einer zweiwertigen Logik (richtig/ falsch, gut/ schlecht) zu sichern. Sie merken nicht, dass all dies keinen mehr interessiert. Die Diskrepanz zwischen Machtanspruch und realer Wirkmächtigkeit ist inzwischen grotesk. Nur vor diesem Hintergrund sind die vielen Fälle von Machtmissbrauch (an Schwächeren oder Abhängigen) und deren strukturelle Leugnung und Vertuschung durch Bischöfe und Personalverantwortliche zu verstehen: Macht über Schwächere wird ausgeübt, weil man selbst so schwach ist, um sich auf Augenhöhe zu begegnen; der Missbrauch von Macht wird geleugnet und vertuscht, weil die Organisation so schwach ist, dass sie den Zusammenbruch fürchtet.

Erstaunlich ist, dass es noch immer so viele erwachsene, intelligente und emanzipierte Menschen gibt, die ganz offensichtlich die Kirche noch nicht aufgegeben haben. Der immanenten Logik der befreienden Botschaft Jesu Christi folgend und im Vertrauen auf die emanzipatorische Wirkung des Hl. Geistes arbeiten sie – trotz stärker werdenden fundamentalistischen Gegenwinds, wie die aktuelle Aussetzung der Synodenumsetzung im Bistum Trier zeigt – mit Herz und Verstand daran, Entwicklungsperspektiven und damit die Zukunft von Kirche in einer modernen und emanzipierten Gesellschaft offen zu halten. Die vorliegende Ausgabe von futur2 zum Thema Macht in der Kirche ist ein besonderer Ausdruck dieses Bemühens.

Ein kleines Detail sagt viel aus: Wir haben eine Reihe kirchlicher Verantwortungsträger*innen um ein Statement zum Thema Macht gebeten. Die Tatsache, dass kein katholischer Bischof aus Deutschland zu einem Statement bereit war, zeigt, wie verunsichert die Bischöfe angesichts des massiv steigenden Änderungsdrucks, etwa durch die Bewegung Maria 2.0, und der politischen Strategien reaktionärer Kräfte sind.

Die Texte dieser Ausgabe regen dazu an, über den eigenen Umgang mit Macht nachzudenken und zugleich darüber, wie wir als Kirche und in der Kirche gemeinsam Machtverhältnisse und -mechanismen aufrechterhalten. Lassen Sie sich überraschen: Es ist viel mehr möglich, als man denkt oder gelernt hat. Und: Emanzipieren, organisieren und vernetzen Sie sich – damit Kirche eine Zukunft hat.

Für das Redaktionsteam
Valentin Dessoy

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