022022

Foto: © Synodaler Weg/Maximilian von Lachner

Statements

Gregor Podschun

Die Pflicht zur radikalen Erneuerung

Die Perspektive eines Jugendverbandlers auf den Wandel der katholischen Kirche

Vor allem auch junge Menschen, die in einer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft aufgewachsen sind, erwarten von ihrer Kirche, dass sie sich an die Standards der Moderne hält und ihren Dienst als Verkünderin des Evangeliums menschenfreundlich und menschengerecht gestaltet.

Die katholische Kirche ist im Wandel und wird insbesondere in Deutschland so stark hinterfragt wie selten zuvor. Grund dafür sind zahlreiche Krisen, die in Beziehung zueinanderstehen: Die massenhafte und systemisch bedingte sexualisierte Gewalt, die Vertuschung der Missbrauchsfälle, der anhaltende Missbrauch von Macht und deren Konzentration auf Einzelne, die schwindende Relevanz in einer pluralen Gesellschaft, die Handlungen und Haltungen von Menschenverachtung und Menschenrechtsverletzungen, die zahlreichen Kirchenaustritte, die Demokratiefeindlichkeit, die Finanzskandale und einiges mehr. Vor allem auch junge Menschen, die in einer demokratisch-pluralistischen Gesellschaft aufgewachsen sind, erwarten von ihrer Kirche, dass sie sich an die Standards der Moderne hält und ihren Dienst als Verkünderin des Evangeliums menschenfreundlich und menschengerecht gestaltet. Da ist es nicht verwunderlich, dass sich viele Menschen die Frage stellen, ob sie ihren Glauben in dieser kirchlichen Institution noch vertreten und leben können. Viele suchen sich dafür andere Wege und verlassen die Kirche.

Ich selbst ringe mit meinem Verbleib in der Kirche. Fast jeden Tag stelle ich mir die Frage, wann der Punkt erreicht ist, an dem ich gehen muss. Fast jeden Tag muss ich vor mir selbst begründen, warum ich in dieser Institution, die Menschen in ihrer tiefsten Identität verletzt, ihnen Gewalt zufügt (noch) bleiben kann. Und ich nehme bei vielen Jugendverbandler*innen den gleichen inneren Konflikt war. Und beide Entscheidungen kann ich nachvollziehen und würdige sie: Diejenigen, die austreten, weil sie den Mut haben ihren Glauben auf eine andere Weise zu leben, weil sie auf ein Stück ihrer Identität verzichten und somit verdeutlichen, wie kaputt diese Kirche ist, weil sie einen Schritt wagen, vor dem ich bisher zurückgescheckt bin. Und diejenigen die bleiben, weil sie zeigen, dass Kirche nicht nur die „Amtskirche“ von Bischöfen, Priestern und Ordinariaten ist, weil sie ihre Kirche trotz heftiger Kritik gestalten und versuchen sie zu verändern, weil sie trotz stärkster innerer Kämpfe den Mut und die Zuversicht haben, dass sie einen Unterschied in dieser Kirche machen können. Ich gehöre zu Letzteren und bleibe, weil ich Kirche vor allem in den Jugendverbänden kennengelernt habe. Diese sind eine Form der Kirche, die demokratisch ist, bei der Ämter von allen Menschen ausgeübt werden können, sie gewählt und zeitlich befristet sind, eine Form der Kirche in der Kinder und Jugendliche sich selbst organisieren und ihre Strukturen schaffen, selbst ihre Themen festlegen und selbst gestalten, wie sie ihren Glauben leben, eine Form der Kirche, die versucht allen Menschen offen zu begegnen und sie akzeptieren, wie sie sind. Und zugleich weiß ich, dass ich diese jugendverbandliche Form der Kirche auch leben kann, ohne formal Mitglied der katholischen Kirche zu sein. Bisher bleibe ich und zum jetzigen Zeitpunkt kann ich nicht sagen, was geschehen muss, damit es sich ändert. Ich reflektiere es fast täglich und werde wissen, wenn es so weit ist.

Ich verstehe meine Rolle als eine Person, die Transparenz herstellt, die Unbequemes anspricht, die Erkenntnisse über Verletzungen und Störungen verdeutlicht.

So lange ich BDKJ-Bundesvorsitzender bin, ist es unter anderem meine Aufgabe die Interessen von Kindern und Jugendlichen und insbesondere der Jugendverbände in der Kirche zu vertreten. Diese erwarten eine deutliche und laute Stimme für Veränderungen. Sie erwarten, dass jemand nicht nur auf Kompromisse setzt, sondern deutlich macht, wohin sich die Kirche entwickeln muss, damit sie menschengerecht und evangeliumsgetreu ist. Ich verstehe meine Rolle als eine Person, die Transparenz herstellt, die Unbequemes anspricht, die Erkenntnisse über Verletzungen und Störungen verdeutlicht. Und meine Rolle wird missverstanden als Störenfried, Pöbler und wenig kompromissbereit. Zum einen ist Letzteres nicht richtig, denn allein im Synodalen Weg bin ich hundertfach Kompromisse eingegangen und habe mich für jede noch so kleine Änderung in dieser Kirche eingesetzt – zugleich muss jedoch ausgesprochen werden, was Kinder und Jugendliche über die Textvorlagen hinaus erwarten. Zum anderen darf es in gewissen Fragen keinen Kompromiss geben. Mit der Veröffentlichung der sogenannten MHG-Studie ist nachgewiesen worden, dass sexualisierte Gewalt systemische Ursachen und Risikofaktoren hat. Dies bedeutet, dass diese Ursachen und Risikofaktoren weltweit wirken, denn die Systeme und Strukturen der Kirche sind zentralisiert im Vatikan. Und sie müssen beseitigt werden, damit wir sexualisierte Gewalt, sexuellen Missbrauch, Machtmissbrauch und geistlichen Missbrauch verhindern können. Solange die Systeme der Kirche nicht in der Tiefe geändert werden, lässt die Kirche dieses Leid weiterhin zu. Es kann somit keine Lösung geben, die dahinter zurückbleibt. Da ist im Synodalen Weg der Verweis auf Rom und die Weltkirche, auf das aufeinander Hören und kompromissbereite aufeinander Zugehen und das Zusammenbringen progressiver und reaktionärer Personen, auf die Tradition und auf das behutsame Ändern der Kirche nicht hilfreich.

Daher muss die Kirche in Deutschland eine Lösung für Veränderungen dieser Missstände finden, wenn der Vatikan andere Lösungen blockiert. Es kann nicht kirchengetreu, nicht evangeliumsgemäß oder gottgewollt sein, Missbrauch zuzulassen.

Verletzende, leidvolle, gewalttätige Strukturen, Systeme, Haltungen und Kulturen müssen sofort geändert werden. Ein Beibehalten dieser darf nicht die Lösung sein. Daher muss die Kirche in Deutschland eine Lösung für Veränderungen dieser Missstände finden, wenn der Vatikan andere Lösungen blockiert. Es kann nicht kirchengetreu, nicht evangeliumsgemäß oder gottgewollt sein, Missbrauch zuzulassen. Und auch wenn wir sehen, dass sich die Kirche in winzigen Schritten ändert, so ist dies nicht ausreichend, denn es braucht jetzt eine bis an die Wurzeln gehende Veränderung der katholische Kirche und ihrer (Irr-)Lehre1. Ich glaube, wenn dies die Kirchenverantwortlichen nicht verstehen und wahrhaben wollen – und alles deutet darauf hin, dass der Schutz der Institution und der eigenen Macht nach wie vor am wichtigsten ist und kein Verstehen oder Wandel eingesetzt hat – dann wird sich diese Kirche selbst zerstören (müssen) und erst im Aufbau einer neuen Kirche, die Jesus gerecht wird, wird sie sich verwandelt haben.

Das klingt radikal und ist es an letzter Stelle auch. Doch offenbar braucht es diese Radikalität, um dem unfassbaren Ausmaß der Verfehlungen dieser Kirche gerecht zu werden. Ein System, welches so missbräuchlich agiert, muss bis zum Kern verändert werden. Und dies gilt gerade für die katholische Kirche, welche die Welt ebenso radikal mit ihrer Botschaft verändern will, weil Jesus die Welt radikal bis in den Tod hinein und darüber hinaus verändert hat. Die Kirche muss als erstes bei sich selbst beginnen. Ich werde innerhalb dieser Kirche als „Radikalreformer“ bezeichnet und teilweise für diese Meinung verlacht. Doch zum einen muss nach der Alternative gefragt werden, denn ein „weiter so“ darf es nicht geben, und zum anderen ist in unserer freiheitlich-demokratischen Gesellschaft meine Haltung eine Haltung der Mitte. Und schon allein das zeigt, wie sehr die Kirche in der heutigen Welt mit ihrer menschenfeindlichen Lehre danebenliegt. Die Kirche hat doch gerade die Aufgabe die Botschaft der radikalen Liebe Gottes zu den Menschen zu transportieren, vor aller Leistung und trotz aller Schuld und sie schafft es nicht ihre eigenen Systeme, ihre eigene Struktur, ihre eigene Haltung und Kultur, ja ihre eigenen Lehrsätze danach auszurichten.

Und wir als Jugendverbände müssen uns dabei auch selbst betrachten und anfragen lassen, an welcher Stelle wir die Kirche in ihrer verletzenden Weise unterstützt und gestützt haben.

Und wir als Jugendverbände müssen uns dabei auch selbst betrachten und anfragen lassen, an welcher Stelle wir die Kirche in ihrer verletzenden Weise unterstützt und gestützt haben. Auch dies ist in unseren eigenen Reihen radikal beseitigen. Das ist ebenfalls meine Aufgabe. Sie ist unangenehm, sie ist schwierig, sie verletzt mich in meiner Identität – doch dieser Schmerz, möglicherweise liebgewonnene und selbst als stärkend und persönlichkeitsprägend kennengelernte Strukturen zu hinterfragen, ist gering gegen das Leid und die Gewalt, die die Kirche Menschen zugefügt hat und zufügt. Zugleich dürfen die Jugendverbände von sich behaupten, bedeutend anders zu sein als die römisch-zentralisierte „Amtskirche“. Sie zeigen bereits heute, dass eine demokratische, menschenfreundliche, partizipative, kinder- und jugendgerechte Kirche möglich ist. Eine Kirche, in der sich Menschen selbstbestimmt bewegen, in der Menschen ihre eigenen Strukturen selbstorganisiert finden und gestalten können, in der Glaube weltweit gelebt werden kann und als gemeinsames Gut geschützt wird auch ohne Machtkonzentration in einem hierarchischen System. Solange sich Kinder und Jugendliche in den Jugendverbänden für ihre Kirche einsetzen und diese so gestalten, werde ich ihre Interessen als Teil dieser Kirche mit Stolz angesichts dieser wunderbaren Menschen in den Verbänden, als Ally für vulnerable Gruppen und für Diversität und als Katholik vertreten. Ich will für sie eine laute Stimme des Wandels sein.

  1. Wenn ich von einer Irrlehre, schlechten Lehre oder menschenfeindlichen Lehre rede, so meine ich explizit die Teile der Lehre, die Menschen verachtend ist, die Leid und Gewalt zur Folge hat. Die Botschaft der Kirche an sich stelle ich keinesfalls infrage.

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