022020

Foto: Schub@: take a seat, read a book (CC BY-NC-SA 2.0)

Service & Dialog

Martin Lätzel

Buchrezension: Hubert Wolf, Der Unfehlbare. Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert.

Hubert Wolf hat sich mittlerweile weit über theologische oder gar kirchenhistorische Kreise einen Namen als Autor gemacht, der wissenschaftlich fundiert schreiben kann, spannende Themen aufgreift und packend erzählt. Genau das gelingt ihm alles in seinem neuen Buch, in dem er die Biographie Pius IX., Giovanni Maria Mastai Ferratis verbindet mit der ganzen Tragik seiner Zeit, den politischen Auseinandersetzungen in Europa, dem Niedergang des Kirchenstaats und dem des doch sehr massiv dagegen gesetzten Dogmas von der Unfehlbarkeit des Papstes. Wolf skizziert eine umstrittene Persönlichkeit, die Pius IX. schon in seiner Zeit war. Vor allem zeigt er die Kontexte seines Lebens und Wirkens auf.

Mastai legt eine doch recht ungewöhnliche Karriere hin. Er, der doch zunächst nicht so recht weiß, was er werden will, entscheidet sich für das geistliche Amt und wird schnell Bischof. Um ihn herum erodieren die Zeitläufe. „Wir haben zu betrachten, wie in den Stürmen der großen Französischen Revolution und den aus ihr hervorgegangenen Kriegen die alte mehr als tausendjährige Gestalt der Kirche von dem Erdboden verschwand…“ zitiert Wolf den Kirchenhistoriker Pius Bonifazius Gams aus dem Jahr 1854. Nicht nur die Gestalt wurde erschüttert, sondern gleichsam die Substanz. Wer hat das Sagen, wer bestimmt, was in der Katholischen Kirche geglaubt und vor allem: gelebt wird? Sind es die Ortskirchen, die auf mehr Eigenständigkeit aus sind? Oder gilt weiterhin der von Augustinus überkommene Grundsatz Roma locuta, causa finita? Wolf skizziert die politischen und gesellschaftlichen Kontexte und Ideen, die damals ihre Wirkung entfalteten: Die Restauration, die Romantik, die Aufklärung, das Staatskirchentum und den Ultramontanismus. Spätestens hier haben der Leser und die Leserin den Eindruck, dass wir es nicht allein mit einem historischen Werk zu tun haben, sondern uns in einer aktuellen Debatte befinden. Die Frage, ob die Kirche zentral oder dezentral gelenkt wird, ist evident wie damals. Denn mit dem Dogma, welches Pius der IX doch als fest gegeben zu verkünden glaubte, ist es so eine Sache. Weil es nie wirklich substantiell akzeptiert und rezipiert wurde, sind die Debatten geblieben und in einer Zeit, in der Globalisierung noch Nationalismus, Revanchismus und Liberalismus, Demokratie und Autokratie um die Vorherrschaft zu Beginn des 21. Jahrhunderts kämpfen, ist die Position Roms und des Zentralismus in der Katholischen Kirche weiterhin fragil, wenn nicht gar angesichts des vorherrschenden Pluralismus (auch in der Kirche selbst, seit Benedikt XVI. die Gültigkeit der lateinischen Messe offiziell anerkannt hat) obsolet.

Mastai wird Papst, gibt sich den Namen Pius IX, und es scheint, mit ihm zieht frischer Wind in die Kirche ein. Das hoffen manche. Andere wiederum wünschen sich klare Worte. Die Situation und um Rom war auch hier nicht anders, als sie gegenwärtig ist. Verschiedene Kräfte kämpfen miteinander, teils um ihre Ideen, teils um ihre Macht. Wenn man Wolf und sein Buch liest, bekommt man den Eindruck, dass Pius IX die Situation mehr und mehr entgleiste, oder aber, dass er der Situation mehr und mehr entrückte, um dann am Ende mit einem Dogma seine Macht zementieren zu wollen in der irrigen Annahme, das Amt des Papstes und die Gestalt der Kirche seien ein und dasselbe. Selbst um das Dogma wird gekämpft, die Gegner, wie wir wissen, unterliegen. Das Konzil wird nie beendet, sondern unterbrochen. Italienische Truppen ziehen in den Kirchenstaat ein und beenden seine Existenz. Im Augenblick der scheinbar höchsten Machtentfaltung eines Pontifex, wird er gleichzeitig ohnmächtig, wie seit Jahrhunderten nicht mehr. Pius IX. alterte zusehends, wird krank und gebrechlich und mutierte zu einem Märtyrer, zu dem ihm die politischen Umstände gemacht haben. Wirkliche Macht hat er da nicht mehr. Und die Kirche? Das Fazit lässt Wolf offen: Ist eine alte Kirche vergangen und eine neue aufgegangen? War der Bruch durch das Dogma so eminent, dass er einen Wendepunkt darstellt? Hier beginnt die Reflektion in die Gegenwart. Insofern ist Wolfs Band, wiewohl ein historischer, ein Zwinkern in die Zukunft, wenn es darum geht, zu klären, für wen die Kirche steht, für sich und ihre eigenen Machtstrukturen oder als Dienerin für alle Menschen.

Hubert Wolf, Der Unfehlbare. Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert. C.H. Beck, München 2020, 432 Seiten, 28,00 €

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