Buchrezension: Etscheid-Stams, M. et al. (Hrsg.), Gesucht: Die Pfarrei der Zukunft. Der kreative Prozess im Bistum Essen
Ist Pfarrei da draußen?
Wohin entwickelt sich die Pfarrei? Wie viel ist noch in ihr drinnen? Wieviel draußen kommt rein? Ist die Pfarrei der Zukunft ein aufgeblähter Taugenichts oder ein pastoraler Keimling? – Zu solchen Fragen im Kontext dieser Ausgabe der futur2 kam der Redaktion die Anfrage der Besprechung des Buches gerade passend.1
Das vom Team des Stabsbereichs Strategie und Entwicklung des Bischöflichen Generalvikariats im Bistum Essen und Wissenschaftlern am Zentrums für angewandte Pastoralforschung der Ruhr-Universität Bochum herausgegebene Buch veröffentlicht eine Studie, die die unter dem Titel „Pfarreientwicklungsprozess“ (PEP)2 gemachten Eingaben von 42 Pfarreien des Bistums an den Bischof zu ihrer Zukunftsvision untersucht.
Die Studie ist eine grundlegende Untersuchung der Selbstauskunft von (parriochal verfasster) Kirche über die Entwicklung ihrer selbst und sucht, zumal in dieser Öffentlichkeit, ihresgleichen. Pastoralen Forschern und strategischen Planern steht dadurch Material zur Verfügung, welches Aussagen darüber ermöglicht, wie die Akteure in den Pfarreien sich verstehen und ausrichten wollen. Die Verantwortlichen im Bistum Essen setzen damit die begrüßenswerte wissenschaftliche Aufbereitung und Begleitung der Diözesanentwicklung fort.3
Eingangs wird von Markus Potthoff, Leiter der Hauptabteilung Pastoral und Bildung, die Rede von der „Pfarrgemeinde“ mit ihrer inneren Logik, dass die Pfarrei eine Gemeinde am Ort sein soll, als grundlegend überholt bezeichnet: „Pfarreigrenzen (Raumlogik) sind kein Referenzpunkt für die Ausrichtung der Pastoral (Relations- bzw. Soziallogik): Näher betrachtet ist die Pfarrei eine (…) Setzung bzw. Konvention.“4 Im Unterschied zu anderen Diözesen (z.B. Münster5), die ein Verständnis von Pfarrei deklaratorisch setzen, gehen die für die Diözesanentwicklung im Bistum Essen Zuständigen in die Beobachtung: Es wird beobachtet, was die lokale Ebene selber beschreibt und was daran an Entwicklung sichtbar wird. Das induktive Vorgehen ist dann tatsächlich ein kreativer, schöpferischer Prozess.
Interessant ist, dass die intraorganisationale Oberkategorie am meisten Seiten füllt, also die Darstellung dessen, wie die Pfarreien die innere Organisation bearbeitet. Wofür steht das?
Inwieweit die PEP-Voten als Dokumente eines nur bedingt standardisierten, weil auch sozialen, Prozesses dafür geeignet sind, soll hier nicht im Vordergrund stehen. Aber ein Fragezeichen sei erlaubt, weil das Forschungsdesign rein auf kategoriale Codes im Schlusstext der Voten setzt. Die Auswertung nutzt die Methode der qualitativ orientierten Inhaltsanalyse nach Philipp Mayring6, die „(…) mithilfe der aus dem Studienmaterial selbst generierten Analysekategorien“7 arbeitet. Somit bleibt es bei einer Selbstbeobachtung, aus systemisch-konstruktivistischer Sicht entsteht nichts Neues. Das, was durch die Analyse gehoben wird, wird durch die Analysten selber konstruiert, im schlimmsten Fall ist es sogar interessensgeleitet. Man liest das, was man lesen will. Zudem muss „(…) für die Analyse einer so breiten Materialmenge (…) ein noch sehr hohes Abstraktionsniveau gewählt werden, um das Material übersichtlich, nachvollziehbar und tatsächlich auch zusammenfassend analysieren zu können.“8 Auch eine redaktionskritische und kontextsensible Exegese fehlt.
Die Darstellung der PEP-Voten in den gewählten 17 Kategorien – gebündelt in spiritueller, pastoraler, liturgischer, intraorganisationaler und interorganisationaler Oberkategorie – nimmt breiten Raum ein.9 Interessant ist, dass die intraorganisationale Oberkategorie am meisten Seiten füllt, also die Darstellung dessen, wie die Pfarreien die innere Organisation bearbeitet. Wofür steht das?
In einer Zwischenreflexion wird anhand von Prototyping zwischen einem pfarreizentrierten und gemeindezentrierten Modell von lokaler Kirche in den PEP-Voten unterschieden.10 Dieser Teil der Studie berührt die Frage nach der Transformation der Pfarreigestalt unmittelbar, spricht aber – an dieser Stelle richtigerweise – keine Empfehlungen aus.
Auf Grundlage der Auswertung der PEP-Voten folgen eine Reihe von „Perspektiven“: theologische, zeitgeschichtliche, beteiligungsorientierte und umsetzungsorientierte. Die Beiträge reflektieren auf je eigene Weise die PEP-Studie vor dem Hintergrund der Frage nach der Pfarrei der Zukunft. Es sind lesenswerte Tiefenbohrungen, die zum Mitdenken anregen. Besonders die Beiträge von Hans-Joachim Sauer („Keine Angst vor dem Unmöglichen“) und Wolfgang Reuter („Der Pfarreientwicklungsprozess als seelsorgerische Herausforderung“) weiten die Perspektive in Richtung Sendungsauftrag der Kirche; die Beiträge von Thomas Wienhardt („Pfarreien mit Wirkung! Voten stärken durch Qualitätsentwicklung“) und Tobias Meier („PEP-Voten und Community Organizing“) weisen auf humanwissenschaftliche Kompetenzen hin, die die PEP-Voten in ihrer Umsetzung aus dem Binnenraum der kirchlichen Debatte heben.
Themen, wie z.B. die gesellschaftliche Relevanz von Kirche, die Inhalte der Verkündigung und die Veränderung von Führungsrollen in der Pfarrei in Korrespondenz zu Entwicklungen sozialer Entrepreneurschaft, bleiben unterbelichtet.
Eingedenk dessen, dass Themen und Autor*innen der „Perspektiven“ sicher nicht zufällig gesetzt wurden, sondern die Auswahl bestimmten Motiven folgt, lassen sie sich für die Frage nach der Pfarrei der Zukunft so zusammenfassen: 1. Die Pfarrei und ihr (Selbst-)Verständnis war immer in Bewegung. 2. Allein die PEP-Voten machen noch keine Zukunft. Die Idee von Zukunft muss nicht zuletzt theologisch hineingetragten werden. 3. Die PEP-Voten bieten Material für Prozesse der Transformation, aber „handwerklich“ ist damit noch nichts getan. 4. Die PEP-Voten blähen erwartbare Themen wie Jugend und Liturgie auf, ohne dazu substantiell Neues zu sagen. Umgekehrt bleiben Themen unterbelichtet, wie z.B. die gesellschaftliche Relevanz von Kirche, die Inhalte der Verkündigung und die Veränderung von Führungsrollen in der Pfarrei in Korrespondenz zu Entwicklungen sozialer Entrepreneurschaft.
Mit Blick auf die Fragestellung dieser Ausgabe der futur2 nehmen die Analyse der PEP-Voten als auch die „Perspektiven“ wenig Außenperspektive wahr. Die Pfarrei der Zukunft reproduziert sich selbst. Das ist autopoietisch richtig angesetzt. Aber was ist mit dem Impuls zu Musterveränderungen oder Lernen 2. Ordnung? Geschweige denn, dass ein Re-Entry gedanklich formuliert wird. Stattdessen werden durch die „Perspektiven“ vorhandene Linien verlängert. Da wird aus der wohlfahrtsstaatlichen Gemeinwesenarbeit Community Organizing, aus pastoraler Professionalität wird Qualitätsentwicklung, aus dem Leitbild wird eine Strategie. Ist das genug?
Dass soll kein konzeptioneller Vorwurf am Band sein, war es auch kein Ziel der Veröffentlichung. Die Auftraggeber betonen das wiederholt. Die Erkenntnisse „sind alles andere als Patentlösungen. Sie entspringen der kontingenten Situation eines einzelnen Bistums; doch genau das macht sie so wertvoll: Die Erkenntnisse in diesem Sammelband sind von der Praxis her inspiriert und auf diese hin ausgerichtet.“11 Doch kann (lokale) Kirchenentwicklung sich selber genügen?
Die Erkenntnisse in diesem Sammelband sind von der Praxis her inspiriert und auf diese hin ausgerichtet.
Die Herausgeber*innen selber stellen am Ende des Bandes sechs Wegmarken als „Lerneffekte“ auf. „Aus der Evaluation und den Beiträgen ergeben sich eine Reihe von Anfragen und Hinweisen, die die Zukunftsgestalt der Pfarrei und ihrer Entwicklungsprozesse betreffen.“12
Für eine Kirche „outside the box“ und am Ende eines Monopols ist dabei die Wegmarke „Ein Identitätsprofil, das inkludiert statt exkludiert“ interessant.13 Gründlich wird die Dilemma-Situation reflektiert, in der lokale Kirchenentwicklung steht: ein (noch) starkes und selbstbewusstes „Innen“ trifft auf ein diffuses, multizentrisches „Außen“. Wohin sollte die Pfarrei angesichts dieses Feldes geführt werden? Darauf, so räumen die Essener ein, haben sie auch keine Antwort. Sie halten sich aber – nicht unbegründet – zugute, dass sie das Thema geöffnet und Angänge zur Bearbeitung gestartet haben.
Gründlich wird die Dilemma-Situation reflektiert, in der lokale Kirchenentwicklung steht: ein (noch) starkes und selbstbewusstes „Innen“ trifft auf ein diffuses, multizentrisches „Außen“.
Gemäß der Auffassung, dass die Lösung immer im System liegt, nur noch nicht beobachtet/bezeichnet wurde, wäre eine Begegnung der Wegmarken miteinander ein interessanter Schritt: Welche innovative (Wegmarke 5) Wirkung hätte es, wenn auf diözesaner Ebene (Wegmarke 6) und in ökumenischer Zusammenarbeit (Wegmarke 4) in größtmöglicher, inkludierender (Wegmarke 1) Partizipation (Wegmarke 2) die Frage nach der Pfarrei der Zukunft als Frage der „Profession“ (in Anlehnung an Wegmarke 3) von Pfarrei bearbeitet würde?
Der Band und v.a. die Studie in ihr ist ein respektables zeitgeschichtliches Dokument der Kirchenentwicklung. Zur Pfarrei der Zukunft sagt er weniger als zur Pfarrei der Gegenwart. Die Verantwortlichen im Bistum Essen begehen jedoch genau dadurch nicht den Konstruktionsfehler offener und partizipativer Prozesse, leichtfertig über die gegebene Wirklichkeit hinwegzugehen. Am Ende hätte es gleichwohl mehr Mut geben dürfen, Unterschiede zu benennen. Irritation ist ein starkes Mittel der Unterbrechung, für Reflexion und Veränderung. In aller Wertschätzung für das gegebene Engagement vor Ort klingt aber nur an, wie groß die Veränderung für die Pfarreien auf Zukunft hin (!) sein werden. Wie eigentlich immer in solchen Bänden stehen auch die Beiträge aus der Bistumsleitung – Bischof und Hauptabteilungsleitung – zu Beginn, nicht am Ende der Erkenntniskette.
Der Band und v.a. die Studie in ihr ist ein respektables zeitgeschichtliches Dokument der Kirchenentwicklung.
Im September 2021 wird es eine ursprünglich für März 2020 (Corona) geplante Veranstaltung über die „Transformation der Pfarrei“ geben.14 Die kritischen Töne am hier vorgestellten Band im Kontext der Frage dieser Ausgabe der futur2 verblassen deshalb angesichts der Konsistenz, mit der der Prozess im Bistum Essen geführt wird. Man muss den einzelnen Schritt immer im Kontext des gesamten Weges sehen. Gleichzeitig sind die PEP-Voten im Herbst 2021 zwischen vier und sechs Jahre alt. Noch einmal bei diesen anzusetzen wäre ein Rück-Schritt, die angeführten Wegmarken als Führungsimpuls zu nutzen, verspricht mehr. Denn die dann Jetzt-Situation der Pfarrei ist aus heutiger Zeit noch Zukunft. Lasst uns dorthin gehen, schauen, was dabei passiert und entdecken, was dort ist. Vor allem für die Jetzt-Engagierten in den Pfarreien braucht es dabei wohl Passagierscheine wie dieses Buch.
Etscheid-Stams, M./ Szymanowski, B./ Qualbrink, A./ Jürgens, B. (Hrsg.): Gesucht: Die Pfarrei der Zukunft. Der kreative Prozess im Bistum Essen, Freiburg 2020
- https://www.herder.de/religion-spiritualitaet-shop/gesucht-die-pfarrei-der-zukunft-ebook-%28pdf%29/c-38/p-18471/ (7. Oktober 2020)
- https://zukunftsbild.bistum-essen.de/pfarreientwicklungsprozess/pep-vor-ort/ (7. Oktober 2020)
- Vgl. https://zukunftsbild.bistum-essen.de/zukunftsbild-projekte/initiative-fuer-den-verbleib-in-der-kirche/die-studie/ (7. Oktober 2020)
- a.a.O., Seite 29.
- vgl. https://www.pastoralplan-bistum-muenster.de/fileadmin/user_upload/pastoralplan/downloads/2016/Merkmale-Unterscheidung-Pfarrei-Gemeinde.pdf (7. Oktober 2020). Für eine grundlegende Reflexion zum Pfarreibegriff siehe https://kirchenentwicklung.de/dinge-die-es-zu-unterscheiden-gilt/ (7. Oktober 2020)
- Siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Qualitative_Inhaltsanalyse (7. Oktober 2020)
- a.a.O., Seite 45.
- a.a.O., Seite 43.
- a.a.O., Seiten 46-165. Fazit auf Seiten 218-221.
- a.a.O., Seiten 165-190.
- a.a.O., Seite 391.
- a.a.O., Seite 372.
- a.a.O., Seiten 373-377.
- https://zukunftsbild.bistum-essen.de/themen/transformation-der-pfarrei/ (7. Oktober 2020)