22018

Foto: Robert V. Ruggiero/unsplash

Praxis

Bernhard Spielberg

Sind die Schotten noch ganz dicht? Ein kurzer Blick auf die Entwicklung der Church of Scotland

Lernen braucht Raum: charismenorientiert und experimentell arbeiten, die Bedürfnisse der Adressaten wahrnehmen, Produkte weiterentwickeln, Innovationen generieren, Prozesse beteiligungsorientiert gestalten, angemessen transparent und verbindlich kommunizieren, Risiken eingehen, Konflikte zulassen und aus Fehlern lernen kann man nicht, solange 95% der Ressourcen in die Produktion des Althergebrachten gesteckt werden. Maximal ein Drittel sind aus OE-Sicht angeraten (Kriterium 3: Prioritäten/Ressourceneinsatz).1

Ortstermin in Edinburgh, im Sommer 2018: Die Church of Scotland, als „The Kirk“ einst stolze Nationalkirche der Schotten, schrumpft. Nicht nur die Zahl der Mitglieder geht zurück. In den kommende sieben Jahren wird die Kirche 80 % – in Worten: achtzig Prozent – ihres pastoralen Personals verlieren. Die Zahlen sind bekannt und spürbar; seit Jahren treten deutlich mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Ruhestand als Neueinsteiger nachkommen. Was tun? Die Strukturen reformieren?

Strukturen seien zwar relevant, aber nicht zentral. Denn sie können Entwicklungen zwar beschleunigen oder bremsen – aber nicht antreiben.

Nein, sagt Leslie Hamilton-Messer, Teamleiterin von „Church Without Walls“, wenn man so will: der Abteilung für angewandte Kirchenentwicklung. Strukturen seien zwar relevant, aber nicht zentral. Denn sie können Entwicklungen zwar beschleunigen oder bremsen – aber nicht antreiben. Die real existierende Ekklesiologie unterstreicht das gerade aus römisch-katholischer Perspektive überzeugend: die Church of Scotland kennt verheiratete Priester, ordinierte Frauen und synodale Gremien. Ein Bischofsamt kennt sie als presbyterial verfasste Kirche nicht. Letzteres würden sich manche der Kirchenentwickler sogar wünschen, um schneller voranzukommen. Wenn es also nicht die Strukturen sind, was dann?

Letztlich, das wird in den Begegnungen in Edinburgh klar, geht es in der Kirchenentwicklung darum, die Situation der Kirche als komplex anzuerkennen – und nicht nur als kompliziert. Das heißt erstens, davon auszugehen, dass die zukünftige Gestalt der Kirche nicht von Experten aus den Bildern der Vergangenheit und den Daten der Gegenwart abgeleitet werden kann, sondern erst noch zu entwerfen ist. Deshalb ist es praktisch, den klassischen Dreischritt Sehen-Urteilen-Handeln, der für komplizierte Situationen maßgeschneidert ist, zu verändern – hin zu einem neuen: Ausprobieren-Hinschauen-Nachjustieren. Denn ersterer führt in komplexen Situationen meist in eine „analysis paralysis“ – in die Lähmung, die immer neue Untersuchungen einer Situation mit sich bringen, die sich gar nicht fassen lässt. Der zweite führt ins Handeln.

Deshalb ist es praktisch, den klassischen Dreischritt Sehen-Urteilen-Handeln, zu verändern – hin zu einem neuen: Ausprobieren-Hinschauen-Nachjustieren.

Hilfreich sind dafür zweitens Methoden, die es ermöglichen, Ideen von Leuten vor Ort hörbar zu machen und Dissens zu generieren – sowie Räume abzustecken, in denen Neues Zeit hat, zu wachsen. Als elementar haben sich (auch) in Schottland drei Fragen herauskristallisiert, die den Ausgangspunkt der Kirchenentwicklung bilden. Es heißt nicht länger: Was müssen wir hier tun, weil wir die Kirche / der Pfarrer / der Pastoralrat sind? Sondern: Welche Geschichten möchten wir in Zukunft öfter hören? Welche nicht? Die beiden Fragen führen aus der Überforderung heraus, in die der Erhalt des Status quo in kleiner werdenden Gemeinschaften zwingt, und legt den Fokus auf das Verlockende und Kraftvolle. Die dritte Frage bietet Utopie-Prophylaxe. Gefragt ist nicht, was man alles machen könnte, sondern – ganz im Sinne der Effectuation: Was könnten wir mit unseren Möglichkeiten noch tun?

Damit all das in einer an Traditionen und Routinen reichen Organisation eine Chance hat, ist drittens jene ökonomische Weichenstellung wichtig, die auch Valentin Dessoy hervorhebt: es braucht ein angemessenes Verhältnis zwischen den Investitionen in den Erhalt des Bestehenden und denen in das Entwickeln des Neuen, das noch gar nicht bekannt ist. Maximal ein Drittel wäre angeraten. Mit der Hälfte wäre schon viel erreicht. Das wünschen sie sich auch in Edinburgh.

  1. Dessoy, V.: Wie Kirche zu einer lernenden Organisation werden kann, in: Lebendige Seelsorge 4/2012, S. 245

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