22018

Foto: "My Life Through A Lens"/Unsplash

Statements

Barbara Schmitz

Eine Organisation im Umbruch

Eine altehrwürdige Organisation in fundamentalem Umbruch: Flächendeckend werden Gottesdienste abgeschafft, bisher lokal versorgte Gebiete zu praktisch einem Großraum zusammengefasst, das angestellte Personal versetzt und finanziell nur noch minimal versorgt, die bisherige theologische Ausrichtung grundlegend reformiert.

Nein, die Rede ist nicht von der (katholischen) Kirche unserer Tage. Wir schreiben ungefähr das Jahr 622 v. Chr. und befinden uns in Jerusalem.

Im Zweiten Königsbuch wird in den Kapiteln 22 und 23 von fundamentalen Restrukturierungsmaßnahmen durch den judäischen König Joschija berichtet, die meist mit dem Stichwort „Joschijanische Reform“ verbunden werden. Die Erzählung geht so: Der Jerusalemer Tempel ist baufällig und muss dringend renoviert werden. Bei Baumaßnahmen finden Arbeiter ein Buch und bringen es über die Priester, Hofbeamten und den Hohepriester Hilkija zum König. Der Staatsschreiber Schafan liest das Buch dem König vor. Sein Inhalt trifft den König zutiefst: Er zerreißt seine Kleider. Das Zerreißen der Kleider ist ein Gestus der Trauer und der Verzweiflung, der den Leserinnen und Lesern dringenden Handlungsbedarf anzeigt.

Eine altehrwürdige Organisation in fundamentalem Umbruch. Nein, die Rede ist nicht von der katholischen Kirche unserer Tage. Wir schreiben ungefähr das Jahr 622 v. Chr. und befinden uns in Jerusalem.

Was macht nun der König? Er holt sich externe Expertise! Er schickt seine ihm treuen, dem System von Hof und Tempel ergebenen obersten Mitarbeiter zu einer externen Beratung. Und hier überrascht die Erzählung: Es ist eine Frau, die Prophetin Hulda.

In der (in patriarchalen Kontexten entstandenen) Bibel gibt es nur wenige Frauen in ranghohen Positionen, nur wenige werden explizit als „Prophetin“ bezeichnet und die wenigsten werden mit ihrem Eigennamen vorgestellt. Der König bittet die Prophetin Hulda um die Prüfung des Buches und um ihre Situationsanalyse. Ihr Befund ist verheerend: Sie scheint das Buch für umsetzungswürdig zu halten, die Reformmaßnahmen seien alternativlos, würden aber – so ihr Urteil – langfristig keinen Erfolg haben, der Zusammenbruch des Systems sei zwar nicht kurzfristig, d.h. noch zu Lebzeiten des Königs, aber doch mittelfristig zu erwarten.

Die anstehende und auch empfohlene Reform umzusetzen, ist nicht Huldas Aufgabe, sondern die der Leitungsfunktion: Daher – so erzählt die Geschichte weiter – ruft der König seine Führungskräfte zusammen, lässt ihnen erneut das Buch vorlesen und schließt dann zusammen mit ihnen vor Gott einen neuen Vertrag (Übersetzung von berit „Bund“), dem sich dann auch das Volk anschließt. Auf der Grundlage dieser neuen Vereinbarung werden sodann die umfangreichen Reformmaßnahmen in Gang gesetzt: Der Kult wird in Jerusalem zentralisiert, wichtige, traditionelle Kultformen abgeschafft, Landheiligtümer geschlossen, überkommene Kultpraktiken abgeschafft, Personal grundlegend umstrukturiert. Diese Maßnahmen – und das darf man nicht unterschätzen – stellen die größte, umfassendste und tiefste Reform dar, über die bisher in der Bibel berichtet worden ist.

Es braucht zeitgenössische, professionelle Expertise, die mit theologischer Feldkompetenz und diagnostischem Blick auf das System schauen können.

Ob diese Reformen historisch tatsächlich stattgefunden haben, oder ob hinter der Erzählung mehr fiction als facts stehen, wird kontrovers in der Forschung diskutiert. Vermutlich – so die derzeitige Annahme – ist eher von einem historischen Kern auszugehen.

Unabhängig von der Frage der Historizität wird hier ein Reformprozess erzählt, der die Missstände in der eigenen Organisation schonungslos offenlegt und versucht in einem top-down organisierten Reformprozess gegenzusteuern: Das äußerlich renovierungsbedürftige Haus – so der schöne Kontrast in der Erzählung – ist auch von Innen durch und durch reformbedürftig.

In dieser Erzählung wird meines Erachtens zweierlei deutlich:

Erstens braucht ein System wie der Jerusalemer Tempel damals oder wie die Kirche heute Profis1: Menschen, die lesen können, wie Schafan, Menschen, die die Bürokratie leiten, Kultfunktionäre wie Hilkija und die anderen Priester sowie systemexterne Berater wie die Prophetin Hulda. Es braucht zeitgenössische, professionelle Expertise, die mit theologischer Feldkompetenz und diagnostischem Blick auf das System schauen können. Mit diesen kann dann die Organisation zu einer lernenden werden, die nicht einfach versucht, weiter zu funktionieren.2

Zweitens benötigen Veränderung und Reform eine zeitgenössische Hermeneutik, mit der die anstehenden Veränderungsprozesse begründet und erläutert werden können. In der biblischen Erzählung wird – wie in der Antike üblich – die Reorganisation der kultischen Praxis durch den Rückgriff auf eine alte, in Vergessenheit geratene Tradition legitimiert, damit das Neue nicht als neu, sondern als Realisation des Alten (reformatio) dargestellt werden und dadurch normative Gültigkeit erlangen kann. Dies ist eine uns heute wohl kaum überzeugende Strategie, aber eine typische Legimitationsstruktur in der Antike – nicht nur in Juda. Heute legt sich eine andere Hermeneutik nahe, die unsere Zeit in den Blick nimmt. Eine könnte so lauten:

„Weil sich Pastoral jenseits des Horizonts nicht deduktiv aus dem Bisherigen herleiten lässt, hat pastorales (Alltags-)Handeln zukünftig dauerhaft experimentell-prototypischen Charakter und bezieht die Adressaten ko-kreativ mit ein. Das Neue, das auf diese Weise entsteht, trägt die Handschrift der „Neuen“, wird Teil der Geschichte Gottes mit den Menschen, Teil der Offenbarungserfahrung, und verändert das Bestehende.“3
  1. Vgl. den Titel von Valentin Dessoy, Kirche braucht Profis – aber keine Gemeindereferenten. Skizze einer neuen Rollenarchitektur, in: das magazin 4/2017.
  2. „Ein System kann nicht zugleich maximal funktionieren und optimal lernen. Produktivität und Lernen verlaufen antizyklisch. Wenn ein System lernt, funktioniert es nicht. Es wird viel ausprobiert. Lösungen sind pragmatisch. Entscheidungen gelten für begrenzte Zeit und können revidiert werden. Fehler bzw. Störungen sind erlaubt und willkommen. Prozesse und Ergebnisse und Wirkungen werden kommuniziert und evaluiert“, Dessoy, V.: Kirche könnte gehen …, in: C. Hennecke, T. Tewes, G. Viecens (Hrsg.), Kirche geht … Die Dynamik lokaler Kirchenentwicklung, Würzburg 2013, 23.
  3. Ebd s. Fußnote 1.

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