22018

Praxis

Frank Reintgen

„Macht was draus“ – 922qm am Brüsseler Platz in Köln

„Kirche verliert an gesellschaftlicher Relevanz. Tempo und Umfang dieses Prozesses sind erschreckend und besorgniserregend. Wenn Kirche nicht in die Bedeutungslosigkeit abrutschen soll, dann bedarf es dringend entschiedener Gegenmaßnahmen. Um ihrem Sendungsauftrag nachzukommen, wird Kirche sich neu ausrichten müssen. Sie wird ihre Binnenorientierung aufgeben müssen und ihre Aufmerksamkeit auf die richten müssen, die sie heute nicht bzw. nicht mehr erreicht.“1

Einleitung

Ein Ort an dem die Entfremdung der (Stadt-)Gesellschaft von der Kirche besonders augenscheinlich ist, ist das Belgische Viertel in der Köln Innenstadt. Hier treten die Herausforderungen an die Pastoral des beginnenden 21. Jahrhunderts in geballter Form auf. Das bietet die Chance, pastoral nach neuen und ungewohnten Wegen zu suchen.

Im Folgenden wird beschrieben wie die Kirchengemeinde seit knapp zehn Jahren sehr entschieden versucht, mit einem klaren pastoralen Konzept den „Gap“ zwischen Gemeinde und der Stadtgesellschaft im Belgischen Viertel sehr gezielt zu überwinden. Am Kirchort St. Michael wird eine Pastoral betrieben, die nicht deduktiv aus dem Bisherigen hergeleitet, sondern pastorales (Alltags-)Handeln „experimentell und prototypisch mit den Adressaten ko-kreativ entwickelt wird.“2

Seit 2015 bin ich Mitglied der Steuerungsgruppe des Projektes planquadrat, einem Projekt der Kirchengemeinde St. Gereon in Köln. Dieser Mitarbeit verdankt sich dieser Artikel. Der Artikel greift auf Textfragmente aus PGR Protokollen, Projektdokumentationen im Internet u.ä. zurück, die im Laufe der letzten Jahre entstanden sind und nicht alle wissenschaftlich zitiert werden können. Pfarrer Andreas Brocke, Pastoralreferent Benedikt Kremp und Pastoralreferent Norbert Bauer haben diese Entwicklung als Pastorale Dienste begleitet und maßgeblich inspiriert.

Belgisches Viertel

Das Belgische Viertel am Rande der Köln Innenstadt gehört zum Pfarrgebiet der Kirchengemeinde St. Gereon. Mitten im Viertel gelegen ist St. Michael eine von drei Kirchen der Pfarrei. Der an St. Michael angrenzende Brüsseler Platz ist ein höchst beliebter Treffpunkt, der eine hohe Aufmerksamkeit in der Stadt hat (nicht zuletzt, da hier nach Wegen gesucht wird, wie mit dem Phänomen umzugehen ist, dass Menschen sich in Deutschland vermehrt auf öffentlichen Plätzen aufhalten und dies zu enormen Belastungen für die Anwohner führt).

Die pastorale Ausgangssituation im Belgischen Viertel insgesamt ist schwierig. Die Milieus und Bevölkerungsgruppen, die traditionell die Gemeindearbeit tragen, sind in diesem Gebiet wenig bis gar nicht vertreten.

Pastoralkonzept

Der Pfarrgemeinderat (=PGR) setzt sich schon lange mit der Frage auseinander, wie Kirche und Glauben neue Relevanz für die Menschen der Stadtgesellschaft entwickeln können und wie in einer nach-volkskirchlichen Ära neue Formen von Kirche bzw. Gemeinde aussehen können? Der PGR hat sich in seinem Pastoralkonzept am Kirchort St. Michael zu einer sehr grundsätzlichen Neuausrichtung entschieden und sich zum Ziel gesetzt, sich mit neuen spirituellen und kulturellen Formaten den urbanen Milieus im Umfeld der Kirche St. Michael und des Brüsseler Platz zu zuwenden.

Art & Amen

St. Michael soll ein Ort sein für Veranstaltungen im Grenzbereich von Kultus und Kultur, von künstlerischer Ausdruckskraft und Spiritualität. St. Michael vollzieht mit Art & Amen eine Öffnung hin zu den künstlerischen und spirituellen Ausdrucksformen der Gegenwartskultur und wird gerade so zu einem Ort des Verweilens und der Sammlung. Art & Amen ist eine Kooperation der Kirchengemeinde mit Künstlern, Kulturschaffenden, Gastronomen und anderen kreativen Menschen des Viertels mit dem Anliegen, St. Michael zu einem lebendigen Ort für Kultur & Spiritualität zu etablieren. Für das kreative Schaffen im Viertel, in dieser Stadt und über die Grenzen der Stadt hinaus. Getragen wird die Kulturinitiative von einer Programmgruppe. Die Mitglieder der Programmgruppe planen und begleiten die Veranstaltung. Unterstützt wird die Programmgruppe von einem Team für Öffentlichkeitsarbeit, einem Designteam, einem Technikteam und einem Team zur Durchführung der Veranstaltungen. (https://www.facebook.com/artundamen/)

Offene Tür bei Art & Amen in St. Michael

Die Programmgruppe, bestehend aus Gemeindemitgliedern, Künstlern, Musiker und Wirten, entwickelte 2011 das Konzept von „Art & Amen“. Seit dieser Zeit sorgte „Art & Amen“ dafür, dass – vor allem in den Sommermonaten – ein bunter Mix aus Gottesdiensten, Konzerten, Kunstaktionen, Lesungen in der Kirche St. Michael stattfinden konnte.

Durch Kooperationen mit Akteuren aus dem Viertel entstand nach und nach ein Netzwerk von Unterstützern. Immer wieder neu wurde mit Veranstaltungsformaten experimentiert, die auf die Besucher des Platzes bzw. die Anwohner im Viertel zugeschnitten waren. Schon nach kurzer Zeit hatte sich das Projekt Art & Amen als Anbieter für Kunst- und Kulturveranstaltungen in St. Michael, die im Grenzbereich von Kunst und Kult liegen, einen Namen gemacht. Durch Art & Amen entwickelte sich die Kirche St. Michael (wieder) zu einem relevanten Ort für Spiritualität und Kultur, weit über die unmittelbare Nachbarschaft hinaus. Auch in den sozialen Netzwerken und in den jungen Medien war Art & Amen präsent (1 live, Facebook,…).

Schon nach kurzer Zeit hatte sich das Projekt Art & Amen als Anbieter für Kunst- und Kulturveranstaltungen in St. Michael, die im Grenzbereich von Kunst und Kult liegen, einen Namen gemacht.

Art & Amen steht für eine gelungene Kommunikation der Kirchengemeinde mit den modernen gesellschaftlichen Milieus, die sich selbst oft eher als kirchenfern definieren und die zu Kirche kaum Zugänge findet.

Inhaltlich getragen wurde Art & Amen durch die Konzeptgruppe. Zu einem immer größer werdenden Problem wurde das Management rund um die zahlreichen Events. Zur Entlastung der Konzeptgruppe wurde 2014 mit Projektmitteln der Hauptabteilung Seelsorgebereiche eine auf drei Jahre befristete Projektstelle für eine Eventmanagerin eingerichtet.

planquadrat

Im Herbst 2015 beschloss der Pfarrgemeinderat gemeinsam mit dem Kirchenvorstand (=KV), den nächsten qualitativen Schritt der Weiterentwicklung zu gehen, und rief das Projekt planquadrat ins Leben.

Die Kirche St. Michael gehört mit einer Fläche von 922qm zu den größten Kirchen Kölns. Ein liturgischer Raum dieser Größenordnung wird von der Gemeinde schon lange nicht mehr gebraucht.3

Das Projekt planquadrat zielt darauf ab, St. Michael als Ort kirchlichen Lebens qualifiziert und professionell weiter zu entwickeln.

Das Projekt planquadrat zielt darauf ab, ein neues Raum- und Nutzungskonzept für St. Michael zu entwickeln, dass es ermöglicht, St. Michael als Ort kirchlichen Lebens qualifiziert und professionell weiter zu entwickeln. Dazu sollte das Flächenangebot an St. Michael den zu erwartendem gemeindlichen Bedarf angepasst, das Raumangebot an diesem Standort auf die Kirche St. Michael konzentriert und die Kirche in einen multifunktional nutzbaren Raum verwandelt werden. Bei der Raumplanung und Gestaltung sollten insbesondere die Anforderungen von Art & Amen berücksichtigt werden.

Von Beginn an war es das Ziel dieser Planungen, möglichst vielen Menschen aus dem Belgischen-Viertel, die Möglichkeit zu geben sich an den Planungen zu beteiligen. Eine Steuerungsgruppe , die sich aus Mitgliedern des PGRs, des Kvs und des Pastoralteams sowie einem interessierten Gemeindemitglied zusammensetzte, wurde ins Leben gerufen. Sie bekam den Auftrag, einen Prozess im Sinne dieser Zielsetzung in Gang zu setzen.

Workshop mit „externen“ Experten

Der Steuerungsgruppe von planquadrat war es ein großes Anliegen, die anstehenden Veränderungen nicht nur mit einer kirchlichen Binnenperspektive anzustoßen. Deshalb wurde im Mai 2015 eine kleine Gruppe von Experten zu einem Workshop eingeladen, die sich aus den Bereichen Politik, Caritas, Pastoral sowie weiteren Personen zusammensetzte, die auf die ein oder andere Weise Berührung mit der Arbeit in St. Michael oder den vielfältigen Fragestellungen rund um die Kirche und das Belgische Viertel zu tun haben.

In diesem Workshop stellte die Steuerungsgruppe die ersten Ideen zur Umgestaltung bzw. möglichen Nutzungserweiterungen vor, die im PGR und KV entstanden waren. Diese Überlegungen zielten darauf ab, den liturgischen Raum zu verkleinern und Versammlungsflächen eines benachbarten Pfarrheims in die Kirche zu verlagern. Zudem gab es Gedankenspiele in den Kirchenraum ein Cafe und das Pastoralbüro zu verlagern. Auch Ideen, wie der Einbau von Künstler-Ateliers, Coworking-Büros und Wohnungen wurden ernsthaft in Betracht gezogen.

Das Feedback der Expertengruppe überraschte die Steuerungsgruppe. Seitens der externen Feedbackgeber wurde auf die besondere Atmosphäre und Attraktivität des Raumes hingewiesen, die erhalten bleiben sollte. Gerade auch die Größe eines solchen Raumes sei in einer Stadt, die sich baulich angesichts zu knappem Wohnraums immer mehr verdichtet, ein besonderer Schatz, der erhalten bleiben sollte. Auch wurde deutlich, dass es durchaus ein starkes Interesse von nicht-kirchlich gebundenen Menschen gibt, diesen Ort (inhaltlich) mitzugestalten – wenn auch nicht im Sinne einer klassischen Gemeindepastoral.

Gemeinde neuen Typs

Das Feedback der Expertengruppe überraschte die Steuerungsgruppe.

Der Workshop löste in der Steuerungsgruppe ein neues Nachdenken über die Situation am Standort St. Michael aus. Es wurde deutlich, dass es an St. Michael weniger um eine architektonische als vielmehr eine inhaltlich-pastorale Fragestellung ging.

Mehr und mehr wuchs im PGR die Idee, an St. Michael eine Gemeinde neuen Typs zu etablieren und interessierten Menschen jenseits der Kerngemeinde das Angebot zu machen, an der Entwicklung des kirchlichen Lebens an und um St. Michael teilzuhaben und zu partizipieren. Zukünftig sollte das kirchliche Leben an und um St. Michael von den Bedürfnissen derer verantwortet werden, die sich selbstorganisiert, aktiv an den angestrebten Entwicklungsprozess beteiligen (Raumgestaltung, Programmgestaltung, Formate, Angebote, Projekte, Gottesdienste).

Geladener Wettbewerb Planquadrat St. Michael

Die Steuerungsgruppe suchte daraufhin nach Wegen, wie ein solcher Prozess initiiert werden könnte. Auch hier ging die Steuerungsgruppe ungewöhnliche Wege. Sie lobte einen mit Preisgeldern ausgestatteten „Geladenen Wettbewerb“ aus. Bewusst wurden nicht-binnenkirchlich verortete Akteure im Grenzbereich von Kunst, Architektur und Soziale Intervention zu einem mit Preisgeldern ausgestatten Ideenwettbewerb eingeladen. Es sollten Ideen entwickelt werden, wie ein kommunikativer Prozess initiiert und gestaltet werden kann, der für die Kirchengemeinde als Auftraggeber Erkenntnisse über folgende Leitfragen generiert:

  1. Wie kann St. Michael so (um-)gestaltet werden, dass Menschen ihn als spirituellen und multifunktionalen Raum nutzen?
  2. Wie können Raum und Erfahrungen geteilt werden und wie kann diese Teilhabe gelebt werden?

Eingereicht wurden Ideen von den folgenden Akteuren:

WochenKlausur

Obwohl alle drei eingereichten Projektideen überzeugen konnten, entschied die Steuerungsgruppe letztendlich, die Wiener Künstlergruppe WochenKlausur mit der Durchführung ihrer Projektidee zu beauftragen. Die WochenKlausur führt seit 1993 soziale Interventionen durch. Auf Einladung von Kunstinstitutionen entwickelt die Gruppe kleine, aber sehr konkrete Vorschläge zur Veränderung gesellschaftspolitischer Defizite und setzt diese um. Mit ihren Möglichkeiten greift die WochenKlausur ein konkretes Problem in unserer Gesellschaft aufgreifen und begibt sich dazu mit einer Gruppe (eigens für dieses Projekt zusammengestellten) Künstlerinnen und Künstler in (Wochen-)Klausur, an den Ort, an dem es ein Problem zu lösen gibt.4

Das Projekt wurde im April/ Mai 2018 durchgeführt. Für einen Zeitraum von vier Wochen war die Wochenklausur mit vier Künstlern zu Gast in St. Michael. Dabei führte die WochenKlausur einen niederschwelligen Beteiligungsprozess durch, der folgende Elemente beinhaltete:

Gezielter Dialog und Netzwerke knüpfen

2000 Postkarten wurden in der Nachbarschaft verteilt

2000 Postkarten wurden in der Nachbarschaft verteilt

  1. Gespräche: Die WochenKlausur führte vor Ort über hundert persönliche Gespräche mit Anwohnern und Stakeholdern, mit Personen der Stadtverwaltung, der Politik, der Kirche sowie diversen sozialen und gesellschaftlichen Einrichtungen geführt. Diese Gespräche wurden über die ganzen vier Wochen hindurch durchgeführt und zentrale Ergebnisse in einem Ausstellungskatalog dokumentiert
  2. Feedback-Aktion: Unter dem Titel „922qm“ wurde auf unterschiedlichen Wege Menschen eingeladen eine Rückmeldung auf die Frage zu geben, welche Ideen sie für die Nutzung der Kirche St. Michael haben:
    • 2000 Postkarten wurden in der Nachbarschaft verteilt
    • eine extra hierfür erstellte Facebook-Seite “922m2”
    • Nutzung der lokalen Medien
  3. Öffentliche Diskussionsveranstaltung: In Kooperation mit dem Kölner Speaker’s Corner “Köln spricht” fand am 1. Mai 2018 auf dem Brüsseler Platz eine öffentliche Diskussion über die Fragestellung statt.

Experimentieren

  1. Raum-Interventionen: Mit der Kick-off Veranstaltung begann eine kontinuierliche Umgestaltung des Kirchenraums. Um den riesigen, leeren Kirchenraum auf verschiedene Arten nutzbar zu machen, hat der Verein Niehler Freiheit5 Raumskizzen in Form von 3×3 Meter großen Kuben gebaut. So entstanden in der Kirche ein Wohnzimmer, eine kleine Bühne, ein Büroraum, ein meditativer Raum sowie ein Kino. Über die ganzen vier Wochen sorgte die WochenKlausur dafür, dass die Kirche über weite Strecken geöffnet war. Ganz neue Raumerfahrungen wurden ermöglicht.
  2. Experimentelle Formate: Der Raum wurde interessierten Gruppen, Privatpersonen und Initiativen zur Nutzung übergeben. Der Fokus lag dabei auf Konzepten, die eine gemeinschaftliche Nutzung des Kirchenraumes vorsahen. Es gab sportlicher Betätigung (Functional Trainung, Gymnastik), meditative Angeboten (Yoga und Achtsamkeitstraining),eine Chorprobe und ein Konzert mit Geflüchteten. Einer gesellschaftspolitischen Diskussion zum Thema Kirchenasyl wurde ebenso Raum geboten wie einem Workshop zur Zukunft Europas. Beim gemeinsamen “Essen mit Freunden” konnte sich an einer langen Tafel die gesamte Nachbarschaft treffen.

Dokumentieren und Auswerten

Die WochenKlausur hat ihre Erkenntnisse über den Prozess in einem Katalog zusammengefasst, der zum Download bereit steht.6 Dieser Katalog wurde der Steuerungsgruppe zum Abschluss überreicht.

Köln spricht zum Thema „Was machen wir mit 922qm?“ (Foto: WochenKlausur)

Als Fazit des Projektes hält die WochenKlausur darin fest, dass „die unterschiedlichen Aktivitäten und die räumlichen Interventionen sichtbar gemacht (haben), dass die Kirche ein Ort der Gemeinschaft und ein lebhaftes Zentrum am Brüsseler Platz sein könnte.“7 Obwohl die wenigsten der interessierten Menschen aktiv Teil einer Kirchengemeinde sind, bestehe keine grundsätzliche Skepsis gegenüber der Kirche. Trotzdem wird oft betont, man wolle nicht unwissentlich vereinnahmt oder bekehrt werden.

Die unterschiedlichen Aktivitäten und räumlichen Interventionen haben sichtbar gemacht, dass die Kirche ein Ort der Gemeinschaft und ein lebhaftes Zentrum am Brüsseler Platz sein könnte.

Das Angebot der Kirche, sich zu öffnen, müsste aus Sicht der WochenKlausur bedeuten, dass die Kirche in erster Linie zulässt, zuhört und ermöglicht, auch um nicht in den Verdacht zu kommen, eine dahinterliegende Agenda zu haben. 8 Die Wochenklausur empfiehlt die Gründung eines Vereins, der sich bewusst nicht aus Menschen mit Gemeindebindung sondern der sich aus Individuen und Vertretern verschiedener zivilgesellschaftlicher Gruppen zusammensetzt. So sei die notwendige inhaltliche Autonomie der Bespielung sichergestellt. Ziele des Vereins müsste es u.a. sein vielfältige Nutzungen des Kirchenraums zu entwicklen und diese sukzessive umzusetzen und dazu ein räumliches Konzept zu entwickeln, um den Kirchenraum zu diesen Zweck nutzbar zu machen.9

Wirkung

Die von der WochenKlausur empfohlene Vereinsgründung wird mit Unterstützung der Kirchengemeinde durch Rechtsberatung aktuell vorbereitet. PGR und KV haben ihre Bereitschaft signalisiert mit dem Verein eine Nutzungsvereinbarung zu schließen. Wenn auch aktuell in kleinem Rahmen so finden doch in Fortführung der vierwöchigen Projektzeit weiterhin Veranstaltungen statt, die in der Projektphase ihren Ursprung hatten (Essen mit Freunden).10

Lernerfahrungen und Einsichten

Schnelle Umsetzung vs. Trägheit der Gemeinde

Kirche wird zum Wohnzimmer (Foto: WochenKlausur)

Es war faszinierend zu erleben, mit welcher Geschwindigkeit die WochenKlausur ins Tun kam und Prototypen einer zukünftigen Nutzung entwickelte. Noch wenige Wochen vor dem Kommen der WochenKlausur war unklar, was genau passieren würde. Innerhalb kürzester Zeit fand die WochenKlausur Kooperationspartner, um z.B. die öffentliche Diskussionveranstaltung vor der Kirche durchzuführen. Dazu mussten Bänke aus der Kirche geräumt werden, eine Bühne inszeniert werden, Moderatoren und Diskussionspartner gefunden werden uvm. Dabei war es spannend zu erleben, wie die Netzwerkpartner mit hoher Lust sich selber und ihre Ressourcen einsetzten. Nach einer nur dreiwöchigen Vorlaufzeit wurde eine Woche Programm durch Kooperationspartner auf die Beine gestellt. Für Menschen, die sich in kirchlichen Gremien bewegen und deren Trägheit bei Entscheidungen kennen, ein atemberaubendes Tempo!

Der WochenKlausur gelang eine beeindruckende Mobilisierung von Menschen. Nicht lange Bedenken abwägen, sondern lustvoll, mutig und schnell ins Tun, ins Ausprobieren kommen.
Im Kontext dieses Projektes war für uns als Steuerungsgruppe erlebbar, wie eine Pastoral der Zukunft aussehen könnte, die experimentell ist und sich durch „Ästhetische Differenzierung des Portfolios, innovative Projekte und prototypisches Arbeiten”11 auszeichnet.

Partizipation und Teilhabe

Es gelang eine beeindruckende Mobilisierung von Menschen.

Der Culture Gap zwischen den eher Kirchendistanzierten Menschen am Brüsseler Platz und den Mitgliedern der (Kern-)Gemeinde lässt sich nicht leugnen. Immer wieder einmal musste die WochenKlausur vermitteln, wenn sich Menschen aus dem gemeindlichen Kontext an der ein oder anderen Stelle entweder an der Raumgestaltung oder der konkreten Raumnutzung störten. Insgesamt aber überraschten die Behutsamkeit und die Sensibilität mit der gerade Kirchenraum unerfahrene Menschen den Kirchenraum nutzen.

Das Projekt führte die Gemeinde an ihre Grenzen, hier bekommt Kirche „Beulen“. Aber gerade hier an den Rändern geschehen relevante(!) Begegnungen und neues Lernen. Es zeigte sich, wie sehr gegenseitiges Verständnis wächst, wenn gemeinsame Begegnungsräume eröffnet werden, wenn entdeckt werden kann, was dem je anderen wichtig und bedeutsam ist. So kann Kirche (neu) lernen, was es bedeuten könnte, relevant für das Leben der Menschen (über die Kerngemeinde hinaus) zu sein.

Die WochenKlausur ist selten selber als Akteur auf der Bühne aufgetaucht. Immer waren die Mitglieder der Gruppe bestrebt, vorhandene Potentiale zu entdecken und nutzbar werden zu lassen. Grundprinzip war es, interessierten Menschen einen Raum für ihr Engagement zu eröffnen und sie zu ermächtigen selbst aktiv zu werden. Auch diese Haltung erscheint prototypisch für eine vielfach postulierte Ermöglichungs-Pastoral.

Vertrauen muss wachsen

Ein Teil des Erfolges lag sicherlich auch darin, dass die WochenKlausur als nicht-kirchlicher Akteur ein hohes Vertrauen in der Zielgruppe besitzt. Immer wieder wies die WochenKlausur in Gesprächen mit der Steuerungsgruppe darauf hin, dass bei vielen Menschen, mit denen das Gespräch gesucht wurde, eine Grundsorge im Hinblick auf Kirche im allgemeinen aber auch auf die Kirchengemeinde besteht: Kirche wird nicht zugetraut, dass sie ein echtes, zweckfreies Interesse an den Menschen hat. Immer stehen Aktivitäten der Kirche bzw. der Gemeinde im Verdacht, missionieren zu wollen. Menschen habe Sorge „Objekt“ zu werden und nicht als Subjekt ernstgenommen zu werden.

Das Projekt führte die Gemeinde an ihre Grenzen, hier bekommt Kirche „Beulen“.

Auch deshalb empfahl die Wochenklausur die Gründung eines eigenständigen, von der Gemeinde unabhängigen Vereins. Symbol der Eigenständigkeit des Vereins ist die Aushändigung eines „eigenen“ Schlüssels. Natürlich muss es zwischen Kirchengemeinde und Verein eine Verständigung geben, wer wann die Kirche nutzt. Und doch drückt der „eigene“ Schlüssel das Vertrauen der Kirchengemeinde gegenüber den Mitgliedern des Vereins aus, dass diese verantwortungsbewusst mit dem Schlüssel (und dem Kirchenraum) umgehen.

Was es am Ort St. Michael (wie wahrscheinlich an vielen anderen Orten auch) braucht, ist das Einüben in eine „absichtslose Pastoral“. Es gilt das Paradoxon: Die evangelisierende Kraft von Kirche ist am größten, wenn sie „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute“ teilt und absichtslos mit Menschen in Kontakt kommt (und eben gerade nicht das Gegenüber zum Objekt der eigenen Mission reduziert).

Innovation braucht Ressourcen

Offene Tür bis in den Abend

Die Erfahrungen am Standort St. Michael zeigen, dass Kirche auch in eher kirchenfernen Milieus (neue) Relevanz gewinnen kann. An diesem Standort könnte tatsächliche eine ganz neue Form kirchlichen Lebens wachsen: Eine sehr experimentelle Community als Herausforderung für die bestehende Ortsgemeinde, ein Touchpoint für Kirchenfremde, mit großen Freiräumen zum Ausprobieren. Eine Community, die sich selbstorganisiert, mit einem Programm, das wenig gemein hat mit dem klassischen Programm einer Gemeinde.
Um dieses Potential zu heben, müssen aber an unterschiedlichen Stellen Entscheidungen getroffen und Ressourcen freigegeben werde:

  • Es braucht inhaltlich die Freigabe seitens des Erzbistums, dass eine solche Entwicklung gewünscht ist und der experimentelle Charakter mitgetragen, im Zweifel auch gegen Widerstände abgesichert wird. Pastoraler Erfolg wird nach wie vor immer dann gesehen, wenn Projekte eine neue Anbindung von Menschen an die klassische Gemeinde erreichen. Hier braucht es ein Umdenken wie es der Fresh X-Bewegung gelungen ist. Neben den klassischen Gemeinden werden z.B. in der Angelikanischen Kirche sogenannte Fresh X-Gemeinden wertgeschätzt und (!) gefördert, als eigenständige das Alte ergänzende Ausdrucksform von Kirche.
  • Die Erfahrung mit dem Projekt Art & Amen zeigen, dass sich das Potential an diesem besonderen Standort mit den Kräften der Mitarbeitenden aus der Kerngemeinde (allein) nicht heben lassen. Dies ist auch im Kontext des Projektes der WochenKlausur nochmal sehr deutlich geworden:
  • Es braucht (zumindest im jetzigen Stadium der Entwicklung) hauptberufliche Kapazität z.B. durch einen Pastoralen Mitarbeiter, die befreit von anderen Aufgaben aus dem Standardprogramm, den Auftrag bekommt, die Entwicklung dieses Standortes konzeptionell zu begleiten.
  • Es braucht die Entschiedenheit Finanzmittel für Aktivitäten, Veranstaltungen und Ausstattung der Kirche freizugeben, die nicht primär von der jetzigen Kirchengemeinde genutzt werden. Dies heißt in der Konsequenz, dass Gelder umverteilt werden müssten. Menschen der von Art & Amen angesprochenen Milieus erwarten eine gewisse Ästhetik (Licht, Technik, Ausstattung usw.). Wenn Kirche ernsthaft diesen Standort als Touchpoint für diese Milieus etablieren will, dann wird dies nicht umsonst zu haben sein.

Gerade die Frage der Finanzen hat sich in der Vergangenheit als Gretchenfrage erwiesen. Dabei verhält sich das Erzbistum Köln widersprüchlich und uneindeutig. Einerseits wird der geladene Wettbewerb im Kontext des Projektes planquadrat mit einer beachtlichen Summe unterstützt, andererseits wird gleichzeitig die Projektstelle der Eventmanagerin nicht verlängert. Aus diesem Grunde muss seid dem Frühjahr 2018 das Programm von Art & Amen ruhen.

An diesem Standort könnte tatsächliche eine ganz neue Form kirchlichen Lebens wachsen: Eine sehr experimentelle Community, ein Touchpoint für Kirchenfremde, mit großen Freiräumen zum Ausprobieren. Eine Community, die sich selbstorganisiert, mit einem Programm, das wenig gemein hat mit dem klassischen Programm einer Gemeinde.

Auch im Erzbistum Köln ist man sich einig, dass Innovation und ein neues Lernen in Kirche dringend gebraucht werden. Doch wer Innovation will, muss die Prioritäten neu justieren. Valentin Dessoy ist zuzustimmen, wenn er sagt, dass Kirche Plausibilität und Relevanz gewinnt, „wenn sie konsequent die Fragen, den Nutzen und die Ästhetik der (neuen) Adressaten im Blick hat. “12

Für eine solche neue Praxis braucht es aber Raum: „charismenorientiert und experimentell arbeiten, die Bedürfnisse der Adressaten wahrnehmen, Produkte weiterentwickeln, Innovationen generieren, Prozesse beteiligungsorientiert gestalten, angemessen transparent und verbindlich kommunizieren, Risiken eingehen, Konflikte zulassen und aus Fehlern lernen kann man nicht, solange 95% der Ressourcen in die Produktion des Althergebrachten gesteckt werden. Maximal ein Drittel sind aus OE-Sicht angeraten.13

Die Kirchengemeinde hat ihre Entscheidung getroffen. Sie ist bereit das Experiment am Brüsseler Platz weiterzugehen und „ihre Binnenorientierung“ aufzugeben und ihre Aufmerksamkeit den 90-95% zuzuwenden, die sie heute nicht bzw. nicht mehr erreicht, um so ihrem Sendungsauftrag nachzukommen.

„Es könnt alles so einfach sein …“

Und noch ein Bild bleibt nach dem Projekt der WochenKlausur in meinem Kopf hängen. Da steht ein unscheinbarer Tisch vor Kirchentüre, darauf Kekse, eine Kanne Kaffee, ein paar Flaschen Wasser, Tassen, Gläser und ein paar Stühle. Auf einigen Stühlen sitzen die Mitglieder der WochenKlausur. Auf den freien Stühlen lassen sich immer wieder Menschen nieder, die zufällig über den Platz kommen und sich in ein Gespräch verwickeln lassen.

Es könnt alles so einfach sein… (Foto: WochenKlausur)

Ein Stuhl, Kaffee und Zeit und schon beginnt die Kommunikation und die Begegnung. Es könnt alles so einfach sein. Dazu braucht es die Entschiedenheit das Bisherige hinter sich lassen und, befreit vom volkskirchlichen Betrieb des Gemeindelebens, ganz neu lernen zu wollen, wie Gott im Leben aller Menschen seine Geschichte schreibt, die erlebt, gefeiert und gedeutet werden will. So kann Kirche und christlicher Glaube ganz neu bedeutsam werden und an Relevanz gewinnen, auch für „die vielen“.

Wie nannte die Künstlergruppe Ihre Dokumentation? Macht was draus!

  1. Vgl. Dessoy, V.: Kirche braucht Profis – aber keine Gemeindereferenten. Skizze einer neuen Rollenarchitektur, in: das magazin 4/2017.
  2. Vgl. ebd.
  3. In der Kirche finden regelmäßig eine Werktagsmesse für Senioren und eine Vorabendmesse statt. In die Vorabendmesse kommen um die 30 überwiegend alte Personen. Auch das ein Indiz dafür, dass das klassische Gemeindeleben an diesem Kirchort nicht mehr vorhanden ist.
  4. Vgl. http://www.wochenklausur.at/methode.php?lang=de.
  5. http://niehlerfreiheit.de.
  6. http://www.wochenklausur.at/katalog_koeln.pdf.
  7. Vgl. Irmgard Fuchs, Hannah Rosa Oellinger, Manfred Rainer, Stefan Wirnsperger: MACHT WAS DRAUS! Neue Nutzungsmöglichkeiten für die Kirche St. Michael am Brüsseler Platz. WochenKlausur in Köln. 15.04.2018 bis 13.05.2018, S. 31
  8. Ebd., S. 29.
  9. Ebd., S. 28ff.
  10. Das aktuelle Programm finden sich hier: http://fb.com/922m2.
  11. Dessoy, V.: Kirche könnte gehen … In: C. Hennecke, D. Tewes, G. Viecens (Hrsg.): Kirche geht … Die Dynamik lokaler Kirchenentwicklung. Würzburg 2013, 23-42.
  12. Dessoy, V.: Kirche braucht Profis – aber keine Gemeindereferenten. Skizze einer neuen Rollenarchitektur. In: das magazin 4/2017.
  13. Dessoy, V.: Wie Kirche zu einer lernenden Organisation werden kann. In: Lebendige Seelsorge 4/2012, S. 245.

futur2 möglich machen

Hinter der futur2 steht ein Verein, in dem alle ehrenamtlich arbeiten.

Für nur 20 € pro Jahr machen Sie als Mitglied nicht nur die futur2 möglich, sondern werden auch Teil eines Netzwerks von Leuten, die an der Entwicklung von Kirche und Gesellschaft arbeiten.

» MEHR ERFAHREN