012013

Foto: Martin Fisch: Pinheads (#cc) (CC BY-SA 2.0), Bildausschnitt

Konzept

Martin Lörsch

Prinzipien sozialräumlicher Pastoral

1. Vorwort1

In sozialräumlichen und lebensweltlichen Perspektiven zu denken und zu handeln, ist keine Modeerscheinung der Pastoraltheologie zu Beginn des 21. Jahrhunderts. Vielmehr kennt dieser Ansatz vielfältige Vorläufer und Impulsgeber: Im Jahr 1974/75 bin ich während des Theologiestudiums mit einem Gemeinwesen-Projekt in der Gemeindepastoral in Kontakt getreten, in dem sich bereits sozialräumliche Bezüge nachweisen lassen2. Des Weiteren enthält das Synodenpapier „Ziele und Aufgaben kirchlicher Jugendarbeit“ (1975) Hinweise, die zur Neuausrichtung und Öffnung kirchlicher Jugendarbeit für eine sozialräumliche Perspektive, vor allem im Bereich der offenen Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit3, motivieren. Dieses Dokument hat einen interdisziplinären jugendpädagogischen Austausch4 um die Frage der strukturell-organisationalen Möglichkeiten und die individuell-subjektiven Chancen zur Aneignung von Räumen durch Jugendliche angeregt. Im Rückblick muss man festhalten, dass die Versuche sozialraumorientierter Arbeit im kirchlichen Kontext ein Sonderdasein gefristet haben. Dem Deutschen Caritasverband kommt das Verdienst zu, die Sozialraumorientierung in der diakonischen Pastoral theologisch reflektiert zu haben und die pastoraltheologische Diskussion um die Zukunft der Pfarrei im Kontext der Strukturdebatten zu befruchten5. Als „Thema hinter dem Thema“ steht die Frage nach der künftigen Sozialgestalt der Kirche vor Ort im Raum. Einige Überlegungen zu einer Kriteriologie sozialraumorientierter Pastoral möchte ich hiermit vor- und zur Diskussion stellen.

2. Begriffliche Annäherungen an die sozialraumorientierte Pastoral

Die Sozialraumorientierung steht in der Tradition der Gemeinwesen- und Stadtteil-Arbeit. In der Stadtentwicklung und Sozialpolitik versteht sich dieser Begriff als eine Art, einen Siedlungsraum wahrzunehmen: Es geht um das Beobachten eines überschaubaren sozialen Geflechts, in dem Menschen in unterschiedlicher Weise miteinander verwoben sind, um die Identifizierung von Orten als Knotenpunkte von Begegnung und Austausch, mit den dazugehörigen Angeboten des kulturellen und spirituellen Lebens und der Versorgung mit den existentiell bedeutsamen Lebensgütern wie Nahrung und Arbeit, Bildung und Gesundheit, Freizeit und Erholung… Sozialraumorientierte Ansätze haben sich, nicht zuletzt durch Individualisierung, Pluralisierung, Mobilisierung, Medialisierung, durch Multikulturalität und das Auseinanderdriften von Arm und Reich immer weiter ausdifferenziert. Bei aller Unterschiedlichkeit der Ansätze besteht Konsens darin, dass der Sozialraum als Konstruktion einer komplexen und mehrdimensionalen Wirklichkeit zu begreifen ist. Der Sozialraum-Ansatz mit den zugrundeliegenden philosophischen und sozialpolitischen Prämissen6 eröffnet Beobachtungs- und Gestaltungsperspektiven, mit denen die Akteure das Leben und Zusammenleben von Menschen und Gruppen (oft in prekären Lebens- und Wohnsituationen) wahrnehmen können. Sozialräumlich orientiertes Handeln zielt dabei vor allem auf Raumaneignung und Partizipation der Betroffenen, auf Stärkung ihrer Sozialkompetenzen, auf das Aktivieren der im jeweiligen Sozialraum vorhandenen sozialen Potentiale in ihrer Vielschichtigkeit und ihrem Reichtum. Das Handeln zielt auf eine zeitgemäße und ressourcenorientierte Lösungen für offensichtliche oder verdeckte soziale Problemanzeigen, nicht zuletzt, um situationsgerechte angepasste Formen der Selbstorganisation zu ermöglichen. Sozialraumorientierung verabschiedet sich damit auch von einem statischen oder rein topografischen Raumverständnis, vielmehr wir ihr ein dynamischer und relationaler Raumbegriff7 zugrunde gelegt.

Der Sozialraum als eine relevante praktisch-theologische Kategorie wird erst in jüngerer Zeit als Thema und Forschungsgegenstand Praktischer Theologie entdeckt. Dieser Ansatz kann den wissenschaftlichen Diskurs in der Theologie beleben. Er kann ferner Ausbildung-, Fort- und Weiterbildung von Haupt- wie Ehrenamtlichen in Caritas und Seelsorge befruchten. Diese Art praktisch-theologischen Denkens und Handelns befindet sich bereits mit verwandten Diskussionslinien in einem produktiven Austausch, z.B. dem Lebenswelt-Diskurs, der „Lebensraumorientierten Seelsorge“ (LOS) des Stadtdekanats Mainz8, die Sinus-Milieu-Studien (seit 2005)9usw. Die sozialraumorientierte Pastoral kann nicht zuletzt auf Pilotprojekte als Beispiele gelungener Praxis verweisen. In ihnen ist es gelungen, in ausgewählten Einheiten Caritas und Seelsorge konsequent miteinander zu verschränken und in Lernpartnerschaften (auf personaler und organisationaler Ebene) einzutreten10. Aus praktisch-theologischer Sicht kann man sozialraumorientierte Ansätze auf drei Ebenen betrachten und reflektieren:

  1. Die Handlungsebene im konkreten Praxis-Feld: Auf dieser Ebene geht es um die Umsetzung dieser Konzeption mit Hilfe von Sozialraumanalysen, aktivierenden Methoden der Ermächtigung, Partizipation und Raumaneignung, um das Implantieren des Sozialraumansatzes in kirchlichen Organisationen (Caritas-Geschäftsstelle, Pfarrei/ Pfarreiengemeinschaft, Dekanat, Bistum), den Umgang mit Widerstand und Konflikt, um (beabsichtigte und nicht beabsichtigte) „Risiken und Nebenwirkungen“, um die Kooperationskompetenz von Personen, Interaktionssystemen, kirchlich-caritativen Organisationen und ihren Partnern11.
  2. Die praktisch-theologische Handlungstheorie (Praxeologie): Die Praxistheorie mit ihren theologischen und humanwissenschaftlichen Prämissen verfügt zudem über eine spezifische Kairologie und Kriteriologie. Mit ihnen begründet sie praktisches Handeln und stellt zugleich Kriterien für die Evaluation von laufenden oder abgeschlossenen Maßnahmen, Programmen und Projekten zur Verfügung.
  3. Die wissenschaftstheoretische Reflexionsebene Praktischer Theologie (Metaebene), die im Hintergrund der konkreten Praxis und der Handlungstheorie angesiedelt ist. Auf dieser Ebene wird die sozialraumorientierte Pastoral z.B. unter folgenden Aspekten beforscht: Wie weit kann dieser Ansatz den Sozialraum als theologie- und praxisgenerative Zeitansage im Heute, als kairologischen „Zeit-Ort“, erschließen und für die künftige(n) Sozialgestalt(-en) von Kirche fruchtbar machen? Dieser Reflexionsebene kommt demnach die Aufgabe zu, Beobachtungskriterien (als „Beobachtung zweiter Ordnung“) zur Verfügung zu stellen. Diese Ebene hat ihre Einsatzfelder bei strategischen Entscheidungen, z.B. einer Bistumsleitung, bei der theologischen Überprüfung der Prämissen sozialraumorientierter Konzepte in Seelsorge und Caritas, vor dem Start von kirchlich-karitativen Pilotprojekten etc.

Dieser Artikel versteht sich als Diskussionsbeitrag, der für alle drei Ebenen Impulse setzen und den Diskus um die sozialraumorientierte Pastoral in der katholischen Kirche befruchten will.

3. Sieben Prinzipien zur sozialräumlichen Pastoral aus praktisch-theologischer Sicht

Folgende Prinzipien sind einer sozialraumorientierten Pastoral zugrunde zu legen:

  1. Ein pastorales Konzept mit „pastoral-ethnologischer“12 Vorentscheidung: Der sozialraumorientierten Pastoral liegt konzeptionell eine Vorentscheidung zugrunde, die ich als „pastoral-ethnologische“ Sehens- und Vorgehensweise beschreibe: Die zugrundeliegenden Optionen, das praktisch-theologische Selbstverständnis sowie das Handlungskonzept setzen Haltungen, Prinzipien und Methoden voraus, die mit der in der Ethnologie praktizierten „teilnehmenden Beobachtung“ verwandt ist. Dieser Begriff korrespondiert mit dem Begriff „Insertion“13 (engl.: Einfügung, Einpassung), den man in der Praktischen Theologie der USA, Afrikas und Lateinamerikas antreffen kann. „Insertion“ meint, sich wie Ethnologen in ein pastorales Feld zu begeben, in eine unmittelbare Begegnung mit den Menschen in ihrem Alltag und ihren sozialen Bezügen zu treten. Pastoral-ethnologisch Vorgehen meint auch, im Sozialraum mit den Menschen im zweifacher Weise in Kontakt treten, für sie berührbar werden und sich von ihnen berühren lassen (vgl. Mt 8,1-3). Mit dieser Grundhaltung kann die Fremdheit des Sozialraumes von Praktischen Theolog/innen mit Sympathie wahrgenommen werden. Mit dieser Haltung können „die Anderen“ (Menschen und Gruppen) in ihrer Andersartigkeit als Adressaten der Frohen Botschaft und als Ausgangspunkt für eigene pastorale Entdeckungen gesehen und respektiert werden. Damit kann es gelingen, im Fremden und in den Fremden Gemeinsamkeiten zu entdecken. Denn mit einer „pastoral-ethnologischen Brille“ sieht man im (vordergründig) Gemeinsamen die Unterschiede, die Distinktionslinien und Brüche, die sozialen Ausgrenzungen und Verwerfungen. Die gewonnenen Erfahrungen können zum Ausgangspunkt des erneuerten pastoralen Handelns werden.
  2. Der Sozialraum wird als eigenständiger Kommunikationsraum mit den ihm inhärenten Gesetzen mit Respekt wahrgenommen.Sozialraumorientierte Pastoral kommuniziert mit den Betroffenen auf Augenhöhe. Die Begegnung mit den in diesem Raum lebenden Menschen und ihren sozialen Netzen erfolgt in einer Haltung „wertschätzender Erkundung“. Eigene Anliegen, erkenntnis- und handlungsleitende Interessen und Ziele werden vor den Betroffenen offen gelegt und mit ihnen ausgehandelt. Nur solche Beobachtungsinstrumente und Methoden kommen zum Einsatz, die Betroffene zu Beteiligten machen. Gewonnene Erkenntnisse, wie Kommunikationsstrukturen und spezifische Codes, Inklusions- und Exklusionsmuster des sozialen Raumes und zugrunde liegende Macht- und Ohnmachtsverhältnisse, werden im Austausch mit den Betroffenen generiert, die gewonnenen Erkenntnisse werden ihnen gegenüber transparent gemacht und an diese zurückgegeben. Als Methoden der Wahl empfehlen sich: teilnehmende Beobachtung, „grounded theory“, soziologische Netzwerkanalyse14 usw.
  3. Ressourcenorientierung ist zentrales Merkmal sozialraumorientierter Pastoral: Der Sozialraum wird ressourcenorientiert erkundet. Diese Perspektive wendet Kirche (Caritas, Territorial-, Kategorial-Seelsorge) auch auf sich selbst an, wenn sie sich als Kooperationspartnerin für die Entwicklung und Mitgestaltung des Sozialraumes ins Spiel bringt: Sie wirbt mit den eigenen und spezifischen Kompetenzen und Ressourcen (als Alleinstellungsmerkmale) und bietet ihre Dienste als (selbstlosen) Beitrag zur Ermächtigung der Betroffenen und zur Humanisierung15 des Raumes und im Raum an.
  4. „Wo Himmel und Erde sich verbünden“. Eine sozialraumorientierte Pastoral bewegt sich entlang der Differenz von Immanenz und Transzendenz: Aus theologischer Sicht amalgieren im Sozialraum die soziale und spirituell-transzendente Perspektive (vgl. LG 816). In ihm „berühren sich Himmel und Erde“. Die soziale Dimension des Raumes trägt die Dimension der Transzendenz in sich. Beide Wirklichkeiten können aus theologischer Sicht gleichursprünglich und gleichzeitig wahrgenommen werden. „Die Themen, mit denen wir uns künftig in der Pfarrseelsorge beschäftigen müssen, entdecken wir auf der Straße!“ – So äußerte sich ein Pfarrer bei der Auswertung nach der Neuausrichtung der Territorialseelsorge in eine sozialraumorientierte Pastoral. Im Sozialraum leben Menschen im Alltag zusammen, machen Menschen Grenzerfahrungen und werden Menschen von Grenzen verletzt und gelähmt, erschüttert und positiv überrascht. Der Sozialraum wird von unterschiedlichen Mitgestaltern bespielt und geprägt. Institutionen, Organisationen und informelle Beziehungsnetze wirken ineinander und durcheinander, kommunizieren miteinander in nicht einsehbarer Weise und Vielfalt: Familien und Single-Wohnungen, Schulen und soziale Einrichtungen, Firmen und Dienstleister, Treffpunkte zur Gestaltung der Freizeit und Kirchengemeinden… Im Sinne des Zweiten Vatikanischen Konzils lässt sich der Sozialraum auf die Gegenwart des trinitarischen Gottes hin entschlüsseln. In seiner Immanenz kann die Transzendenz Gottes erfahren, kann die gedeutete Wirklichkeit als neue geistliche Erfahrung kommuniziert und theologisch generiert werden. Vor allem Madeleine Delbrêl hat (vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil) in den Alltags-Begegnungen, -Ereignissen, -Widerfahrnissen an den säkularen Orten das Geheimnis der Gegenwart Gottes entdeckt und erschlossen.17
  5. Der Sozialraum enthält implizit eine ekklesiologische Dimension, Dignität und Perspektive: „Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen.“(Mt 18,20) Diese Verheißung Jesu enthält einen weiteren Hinweis für die sozialraumorientierte Pastoral. An erster Stelle geht es nicht um den Fortbestand der Pfarrei. Entscheidend ist, dass Menschen in ihren sozialen Bezügen Jesus Christus begegnen und in der Begegnung mit Christinnen und Christen lebensmehrende Erfahrungen sammeln können: wenn Exklusionen aufgehoben werden, wenn jemand seine Würde wieder entdeckt, wenn in einem sozialen Brennpunkt Eigeninitiativen gestartet werden, die dem Gemeinwohl zugutekommen… Der konkrete Mensch und das Zusammenleben der Menschen am Ort stehen im Vordergrund dieses ekklesiologischen Konzeptes (vgl. GS 1). Im Sozialraum sind auch die “Zeichen der Zeit“ (GS 4) zu entdecken, um daraus angemessene Konzepte der Seelsorge, passende Sozialformen und entsprechende kirchliche Orte18
    abzuleiten. Das schließt Umkehr und Neuorientierung, Vernetzung und Kooperation, Konzentration und Dispersion der kirchlichen Dienste usw. zwingend mit ein. Sozialraumorientierte Pastoral versteht sich in diesem Sinne auch als ein Beitrag zur Umsetzung der Konzilsekklesiologie und zur Transformation der Territorialseelsorge als „Kirche am Ort“.
  6. In einer sozialraumorientierten Pastoral wird die Katholische Sozialethik „reloaded“: Die sozialraumorientierte Pastoral versteht sich als optionale Pastoral, die sich an den Grundprinzipien katholischer Sozialethik orientiert, um diese in einem dynamischen und relationalen Sinne auszudeuten und auf der Grundlage der vier Prinzipien der katholischen Soziallehre (Personalität, Solidarität, Subsidiarität, Gemeinwohlorientierung) zu aktualisieren:
  1. Personalität: Sozialraumorientierte Pastoral verpflichtet sich, für die Würde jedes einzelnen Menschen im Sozialraum einzutreten oder für sie zu kämpfen, wenn diese beschädigt oder wenn Menschen um ihre Würde gebracht werden.
  2. Solidarität: Sozialraumorientierte Pastoral trägt dazu bei, die Grenzen, kulturelle Barrieren und Muster der Exklusion zu analysieren und zu problematisieren. Sie versteht sich als eine emphatische und inkulturierte Pastoral und ist der Spiritualität von „Compassion“ (J.B. Metz)19 verpflichtet. Sozialraumorientierte Pastoral klagt Solidarität ein, wo sich Entsolidarisierungstendenzen breit machen.
  3. Subsidiarität: Sozialraumorientierte Pastoral vertraut auf die Energie, Motivation und Beziehungen der Einzelnen, auf die in sozialen Netzwerken vorhandenen Ressourcen, auf die zu aktivierenden Stärken von Personen und Gruppen. Diese haben strukturell Vorrang vor der jeweils übergeordneten Ebene, Organisation und Institution.
  4. Gemeinwohlorientierung: Sozialraumorientierte Pastoral pflegt und unterstützt „um der Menschen willen“ Kooperationen und Partnerschaften, über die eigenen kirchlichen und christlichen Grenzen hinweg. Kirche leistet so einen eigenständigen Beitrag zur Humanisierung vor Ort mit den dort lebenden Menschen.

4. Sozialraumorientierte Pastoral – Impulsgeber für eine „hörende, dienende und pilgernde Kirche“ (Erzbischof Robert Zollitsch)?

Die Öffnung für ein sozialraumorientiertes Pastoralkonzept mit seinen theologischen, philosophischen und sozialwissenschaftlichen Prämissen könnte – über die bisher schon erprobten Kooperationen von Caritas und Seelsorge hinaus – einem Beitrag zu einer Neubesinnung der Pastoral insgesamt leisten. Das soll anhand von zwei Beispielen illustriert werden:

Von der Krankenhaus-Seelsorge zur sozialraumorientierten Krankenpastoral: Angesichts immer kürzerer Verweildauer in den Akutkliniken könnte eine sozialraumorientierte Krankenpastoral auf die (mit und trotz Krankheit) weiter bestehenden sozialen Ressourcen von Patienten/innen, der kranken und/ oder alten Menschen, aufmerksam machen und zur ihrer Aktivierung mit ihren Kompetenzen beitragen.

Im Juni 2013 wird zum dritten Mal die 72-Stunden-Aktion des BDKJ „Uns schickt der Himmel“20 durchgeführt. Diese Erfolgsgeschichte könnte eine weitere Qualitätssteigerung erfahren, wenn junge Menschen mit der Sozialraumperspektive auf diese Aktion vorbereitet werden und ihr Projekt auf dieser Grundlage realisieren können. Junge Leute könnten mit dieser Perspektive lebensbedeutsame Entdeckung machen und als Erfahrungen reflektieren: Wie haben sie Menschen und Gruppen im Aktionsraum wahrgenommen? Wie weit ist es ihnen gelungen, Fremde als Kooperationspartner anzusprechen? Konnten sie die Gestaltungsfähigkeit des sozialen Raums kennenlernen? Mit diesen Reflexionsfragen will ich auf die Art von Erfahrungen aufmerksam machen, die über den Abschluss der 72-Stunden-Aktion sowohl bei Jugendlichen als auch bei ihren Projektpartnern nachhaltig weiterwirken könnten.

Diese ausgewählten Beispiele sollen motivieren, den Transfer in andere Praxisfelder von Caritas und Seelsorge zu leisten. Denn wer in dieser Haltung zu „wertschätzenden Erkundungen“ aufbricht, sei es in der pastoralen Praxis oder in der Praktischen Theologie, dem erschließen sich vielfältig und vielortig (Bischof F.J. Bode) neue Zugänge zur Seelsorge und Theologie. Die sozialraumorientierte Pastoral leistet zu diesem Aufbruch einen wertvollen Beitrag.

5. Schlusswort

„Fahr hinaus auf den See“ (Lk 5, 1-11). Mit diesem Wort, das Jesus an Simon Petrus richtet, beginnt eine Abenteuer-Geschichte, die im Leben des Jüngerkreises ihren Anfang genommen hat und die seit fast 2.000 Jahren erzählt und fortgeschrieben wird. An das Jesus-Wort anknüpfend verstehe ich die sozialraumorientierte Pastoral als Einladung, sich auf die Abenteuer-Geschichte des Glaubens, der Hoffnung und der Liebe heute einzulassen: Wie Petrus im eigenen Lebensraum „in die Fremde zu gehen“: Mehr auf das Wort des Herrn als auf das eigene Lebenswissen zu achten. Wie Petrus können wir Entdeckungen machen, die unseren Blick, vielleicht unsere Einstellung zum Leben verändern. Unsere Entdeckung könnten Gesichter und Lebensgeschichten von uns bisher unbekannten Menschen und Gruppen sein, ihre Lebensart und ihre Kultur, ihre Ressourcen und ihre sozialen Kompetenzen. Diese Entdeckungen finden wir nicht auf dem See Genezareth, sondern in uns fremden Straßenzügen und auf unbekannten Plätzen. Vielleicht ist das unser reicher Fischfang: Die Begegnung mit der Sehnsucht und dem Wunsch der Menschen, in Würde leben zu können, mit ihren Kompetenzen anerkannt zu sein und einfach dazu zu gehören.

  1. Stefan Nober (Trier) möchte ich für seine Gedanken, Impulse und Initiativen zu diesem Thema danken. Seine Überlegungen, Anregungen aus unseren Gesprächen wie auch Erfahrungen mit den von ihm mit angeregten und geleiteten Projekten, z.B. Die Fortbildung: Diakonische Pastoral „Caritas und Seelsorge im Sozialraum“ der Diözesen Mainz und Trier (in Kooperation mit dem TPI-Mainz), sind in diesen Artikel eingeflossen.
  2. Pfarreigründung und Gemeindeentwicklung in der Trabantenstadt München-Neuperlach unter der Leitung von Pfarrer Normann Hepp als Pilotprojekt des Erzbistums München-Freising.
  3. „Jugendarbeit der Kirche – Jugendarbeit der Christen – stellt sich darauf ein, daß sie Räume und Lernfelder zu schaffen versucht, in denen junge Menschen, junge Christen Leben zu erfahren, zu verstehen und zu gestalten lernen.“ (Ziele und Aufgaben kirchlicher Jugendarbeit, in: Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik Deutschland (Offizielle Gesamtausgabe), Freiburg-Basel-Wien 2012, 289). Diesen Ansatz hat vor allem Martin Lechner, Benediktbeuern bis in die jüngste Zeit weiter verfolgt.
  4. Vgl. Böhnisch, L./ Münchmeier, R.: Pädagogik des Jugendraumes. Zur Begründung und Praxis einer sozialräumlichen Jugendpädagogik, Weinheim-München 1990.
  5. Vgl. Neher, P.: Sozialraumorientierung in der Caritasarbeit. Diskussionspapier für die verbandsweite Debatte, in: Neue Caritas 112 (2011) Heft 8, 36-43.
  6. Vgl. Günzel, S. (Hg.): Lexikon der Raumphilosophie, Darmstadt 2012.
  7. Vgl. Löw, M.: Raumsoziologie, Frankfurt/M. 2001.
  8. Vgl. Ebertz, M./ Fuchs, O./ Sattler, D. (Hg.): Lernen, wo die Menschen sind. Wege lebensraumorientierter Seelsorge, Mainz 2005; Hilberath, B.J./ Kohl, J./ Nikolay, J. (Hg.): Grenzgänge sind Entdeckungsreisen. Lebensraumorientierter Seelsorge und kommunikative Theologie im Dialog: Projekte und Reflexionen, Ostfildern 2011.
  9. Stellvertretend verweisen wir an dieser Stellen auf das jüngst erschienene Milieuhandbuch 2013: „Religiöse und kirchliche Orientierungen in den Sinus-Milieus“ (im Auftrag der MDG Medien-Dienstleistung GmbH), Heidelberg / München 2013.
  10. Vgl. die Themenhefte mit den thematischen Beiträgen in der Zeitschrift „Lebendige Seelsorge“: „Diakonie im Kontext“. LS 54 (2003) Heft 5, und „Caritas“ LS 62 (2011) Heft 6; Schmälzle; U. (Hg.): Menschen, die sich halten – Netze, die tragen. Analysen zu Projekten im lokalen Lebensraum, Berlin 2008.
  11. Vgl. Lörsch, M.: Kirchen-Bildung. Eine praktisch-theologische Studie zur kirchlichen Organisationsentwicklung, Würzburg 2005, 106-163.
  12. Der Begriff “pastoral-ethnologisch“ wird an dieser Stelle in die praktisch-theologische Diskussion eingeführt. Ein verwandter Begriff findet sich bei Matthias Sellmann: Im Kontext einer pastoraltheologischen Milieuforschung und einer milieusensiblen Pastoral(-theologie) formuliert er „Grundlinien theologisch inspirierter Ethnologie“; vgl. Sellmann, M.: Zuhören – Austauschen – Vorschlagen. Entdeckungen pastoraltheologischer Milieuforschung, Würzburg 2013. 21ff.
  13. „Insertion meint die direkte Erfahrung der Situation, die im Hinblick auf pastorales Handeln analysiert werden soll. Der Pastoraltheologe ist aufgefordert, soweit wie möglich die Situation von innen her zu erleben. Das ist eine Bedingung, die von dem Inkarnationsgeschehen selbst gefordert ist, und nichts kann diese direkte Erfahrung ersetzen. Der Zweck der Insertion ist nicht nur die Sammlung von Daten über die Situation, sondern der Versuch, das Leben existentiell mit zu vollziehen, so wie die Menschen, die in dieser Situation leben. Dieses Einlassen auf eine reale menschliche Erfahrung benötigt Zeit.“ Zitiert aus: Janssen, H.: Der pastorale Zirkel – eine Einführung, in: Pankoke-Schenk, M./ Evers, G. (Hg.): Inkulturation und Kontextualität. Theologie im weltweiten Austausch, Frankfurt/M. 1994, 225.
  14. Vgl. Lörsch, M./ Wagner, U. (Hg.): Projekt 2020. Impulsheft 2 „Ungewohnte Blickwinkel einnehmen – Neue Sichtweisen gewinnen – Grenzen erweitern“, Trier 2006; Deinelt, U. (Hg.): Methodenbuch Sozialraum. Lehrbuch, Wiesbaden 2009; Gamper, M./ Reschke, L./ Schönhuth, M. (Hg.): Knoten und Kanten 2.0. Soziale Netzwerkanalyse in Medienforschung und Kulturanthropologie, Bielefeld 2012.
  15. Als Beispiel für eine sozialraumorientierte Gemeindeentwicklung verweise ich auf die Pfarreien St. Theodor und St. Elisabeth im rechtsrheinischen Stadtteil Köln-Vingst unter Pfarrer Franz Meurer.
  16. Vgl. Lörsch, M.: Kirchen-Bildung, a.a.O., 28 u.a.
  17. Vgl. Madeleine Delbrêl: Gott einen Ort sichern. Texte, Gedichte, Gebete, hrsg. von Annette Schleinzer, Ostfildern, 2002.
  18. Vgl. Herbst, M.: Church Planting – Was lernen wir von neuen Gemeindegründungen?, in Themenheft „Fresh Expressions of Church“, LS 64 (2013) Heft 1, 2-7 und Hennecke, C.: Können Katholiken Gemeinden gründen?, a.a.O, 8-13.
  19. Vgl. Metz, J.B.: Mystik der offenen Augen, Freiburg-Basel-Wien 2011, 15-23.
  20. In 2013 wird diese einzigartige Sozialaktion des BDKJ zum ersten Mal deutschlandweit realisiert. Weitere Informationen unter:http://www.72stunden.de (Stand: 22.02.2013)

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