012013

Foto: Nico Kaiser: Baustelle (CC BY 2.0), Bildausschnitt

Statements

Christian Hennecke

Aus den Kinderschuhen herausgewachsen: Kirche geht weiter

Vier Anmerkungen zum Rückblick von Valentin Dessoy

Ist Lokale Kirchenentwicklung nur eine geschickte neue Verpackung für ein altes Thema? Geht es um Bibelteilen und Kleine Christliche Gemeinschaften? Ist es wirklich so, dass hier eine Kirchenentwicklung „von unten“ einer Kirchenentwicklung „von oben“ entgegengestellt wird – und deswegen auch subversive Tendenzen wahrnehmbar werden? Hat also Lokale Kirchenentwicklung einen antihierarchischen Impuls?

Handelt es sich im Kontext weltkirchlicher Erfahrungen um eine Art “copy and paste” von Erfahrungen, die pragmatisch übertragen werden sollen? Geht es um die Bildung einer Kleingruppenstruktur – und wird Lokale Kirchenentwicklung dann nicht auch zu einem Containerbegriff für all das, was in den letzten Jahrzehnten vergeblich geträumt wurde?

Und schließlich: Liegt hier nicht eine einseitig binnenorientierte Communioekklesiopraxis vor? Alle diese Fragen stellt Valentin Dessoy in seinem Rückblick, und sie verdienen Nachdenklichkeit, aber auch Beantwortung. Das soll hier in der gebotenen Kürze geschehen.

1. Noch lange in den Kinderschuhen

Wann immer weltkirchliche Erfahrungen faszinieren, riskiert in einem ersten Schritt die Faszination den eigentlichen Anliegen und Erfahrungen nicht zu entsprechen. Dann rezipieren wir die eigene Bedürftigkeit. Dies geschah und geschieht zum Teil noch heute im Blick auf das Thema des Kongresses. Wer in den 70er Jahren sich von lateinamerikanischen Basisgemeinden inspirieren ließ, nahm einen sehr politischen und antihierarchischen Impuls auf, der aber nicht das Grundgefüge der lateinamerikanischen Entwicklung aufnahm. Und ebenso gilt: Als in den 80er Jahren die Erfahrung Kleiner Christlicher Gemeinschaften und ihrer spirituellen Mitte über die Bemühungen von Missio im deutschen Sprachraum bekanntgemacht wurden, kam es zu einer Rezeption, die zwar einerseits auf Defizite antwortete, die die kriselnde Gemeindepraxis kennzeichneten – die spirituelle Grundschwäche und die individualisierte Gemeinschaftsvergessenheit -, zugleich aber andererseits Prozesse, Grundhaltungen und Grundziele eines pastoralen Ansatzes gar nicht erst in den Blick bekamen, die wesentlich den Entwicklungsweg der Kirchen bestimmten. Das gilt zum Beispiel auch für den Rezeptionsprozess der Entwicklungen im französischen Erzbistum Poitiers: Wenn dort nämlich – nach einem langen Entwicklungsweg – die gemeinsame Verantwortung aller durch örtliche Equipen wahrgenommen wird, ist das nicht dasselbe, wie der Versuch, örtliche Gemeindeleiter einzusetzen, wenn Pfarrer fehlen.

Von diesen abgeschnittenen und kurzlebigen Rezeptionsbewegungen aus hat sich das Thema der Kleinen Christlichen Gemeinschaften auch im Kontext der jüngsten Rezeptionsgeschichte ereignet: Bibelteilen wurde herausgelöst aus einem Prozess der Ekklesiogenese, und so kam es zu spirituellen selbstreflexiven Gemeinschaften, die eine zusätzliche Gruppenstruktur am Rande der Gemeinde, für “Spirituelle”, ermöglichten.

Es ist in der Tat so, dass das Thema der Kleinen Christlichen Gemeinschaften von dieser Erfahrung her wahrgenommen wurde, aber genau das hat sich seit einigen Jahren verändert. Es ging in der Suchbewegung, die sich in Sachen Kleiner Christlicher Gemeinschaften in Deutschland ereignet, immer weniger um die Etablierung von Sozialformen, sondern zuerst und vor allem um eine Kultur der Kirchenentwicklung, ja um eine grundlegende pastorale Vision, um einen Pastoralansatz. Immer mehr wurde deutlich, dass die Sozialgestalt die Frucht, das Resultat einer partizipativen Kirchenentwicklung sein muss, die wir – in ihren Grundwerten und Grundhaltungen – von weltkirchlichen Erfahrungen lernen können, hier aber – in seiner konkreten Gestalt – neu zu inkulturieren haben.

Dieser Wachstumsweg im Erkennen führte zum Grundverständnis einer lokalen Kirchenentwicklung: Und dabei wurde auch klar, dass es im wesentlichen nicht darum geht, Blüten anderer Kirchenentwicklungen (etwa Kleine Gemeinschaften, Ehrenamtlichenteams) einfach zu übernehmen, sondern das Procedere, den Prozess zu wagen, der als partizipativer Prozess der Bewusstseinsbildung unter der Herausforderung steht, über einen längeren Zeitraum die Kultur des Kircheseins, wie sie das II. Vatikanum profetisch formuliert hat, in unsere Zeit zu über-setzen.

Die Werkzeuge dazu, die notwendigen Prozesswege, die Instrumente und Mittel stehen uns erst langsam zur Verfügung, und das Symposion in Lingen spiegelte diesen anfänglichen Wachstumsprozess.

2. Jenseits angenommener Subversivität

Wirklich spannend ist die Frage, ob die Dynamik Lokaler Kirchenentwicklung letztlich eine Entwicklung von unten gegen eine Kirche von oben stellen möchte. Sie ist spannend, weil sie mehr über den Rezipienten verrät, als über das Anliegen: Lokale Kirchenentwicklung ist nämlich ein jeweils von der Leitungsebene anzustoßender Prozess – oder er wird nicht stattfinden. Weltkirchlich, ob in Frankreich, Papua-Neuguinea, Indien oder den Philippinen gilt: Eigentlich kann eine Entwicklung partizipativer Kirche nur dort gelingen, wo Bischöfe und Presbyterien, wo pastorale Teams mit ihren Pfarrern sich auf einen Entwicklungsweg einlassen wollen, der – auf dem Horizont der Ekklesiologie des II. Vatikanums – gerade in neuer Weise das Verstehen des Kircheseins aller Getauften befördert und damit zugleich auch das sakramentale Dienstamt und alle Berufe in der Kirche neu profiliert: als ermöglichende Dienste, die letztlich gründen in der sakramentalen Grundgestalt der Kirche: Es geht wieder und wieder darum, durch Verkündigung, Heiligung und Leitung dem Volk Gottes ermöglichend zu dienen: damit alle Getauften den Leib Christi erbauen können.

Hat damit Lokale Kirchenentwicklung einen antihierarchischen Impuls? Das wäre so, wenn man, wie das klassische vorvatikanische Kirchenverständnis, in der Perspektive von “oben” und “unten” denkt und damit eine zwar gewohnte, theologisch aber nicht korrekte Vorstellung der Hierarchie aufgreift, die Hierarchie als ein Abhängigkeits- und Machtverhältnis vom Papst bis zum Gläubigen denkt. Dann stünde eine Kirchenentwicklung von oben gegen eine Entwicklung von unten, dann müsste um Machtanteile gerungen werden.

Nun liegt es gerade in der Dynamik Lokaler Kirchenentwicklung, die wichtige Erkenntnis von Lumen Gentium 10 Ernst zu nehmen: das Priestertum des Dienstes und das gemeinsame Priestertum der Gläubigen unterscheiden sich nicht lediglich dem Grade nach, sondern dem Wesen. Diese theologische Bestimmung verhindert nun genau jene allzu gewohnte Machtfragendiskussion, die sich auf dem Hintergrund eines ekklesiologischen Paradigmas einschleichen kann, dass Dienst des Priesters und Initiative und Verantwortung der Christgläubigen in Konkurrenz sieht.

Dort, wo dieses Verhältnis konkurrenziell gesehen wird, dort kommt in der Tat die Machtfrage ins Spiel – aber es ist gerade dieser Ansatz einer Lokalen Kirchenentwicklung, der die Rolle der amtlichen Leitung “vom Kopf auf die Füße stellt”: Es geht darum, einen wichtigen und unentbehrlichen sakramentalen Dienst am Volk Gottes zu tun und es damit zu seiner eigenen Wirklichkeit des Leibes Christi zu bringen.

Das verlangt eine intensive Bewusstseinsbildung der Priester und ihrer Teams einerseits, des Gottesvolkes andererseits: Welches Kirchenbild prägt eigentlich letztlich noch, wenn Kirche vor allem als versorgende Dienstleistungsinstitution gesehen wird, und wenn – aus einer Professiononalitätslogik heraus – amtliche und berufliche Pastoral als “eigentliche” Pastoral und Seelsorge gesehen werden? Welches Kirchenbild insinuiert die Rede von den Ehrenamtlichen?

Diese Veränderungen werden möglicherweise auch als Verschiebung von Machtverhältnissen wahrgenommen – aber diese Wahrnehmung ist zu kurz gegriffen: Es geht nicht um Machtverschiebungen innerhalb eines gegebenen Gefüges, sondern um die Wandlung eines Gesamtverstehens des Gefüges.

3. Kirche mit den Menschen sein

Die Rezeptionsgeschichte des pastoralen Ansatzes Lokaler Kirchenentwicklung nimmt ihren Ausgang in der Tat aus einer sendungsvergessenen Communiopraxis kleiner Gruppen. Nicht umsonst wurde im deutschsprachigen Kontext der sendungsorientierte 6. Schritt des Bibelteilens immer ausgelassen.

Doch die Pointe Lokaler Kirchenentwicklung liegt in ihrer Sensibilität für den Sozialraum, in der Sendung zu den Menschen. Das erwies und erweist sich als herausfordernd: Dort, wo sich kleine Gemeinschaften schon gebildet haben, entwickeln sie sich in der Regel nicht sozialraumorientiert, sondern folgen einer exklusiven Gemeinschaftslogik. Dort, wo gemeinsam mit interessierten Gemeindemitgliedern versucht wurde, den Sozialraum zu erschließen, erwies sich dies nicht selten als schwierig – weil ungewohnt: Kirchliche Gemeinschaftsformen haben sich in der Regel nicht von ihrer Sendung her konstituiert, sondern waren sammlungsorientiert.

Hier liegt wahrscheinlich der wichtige nächste Schritt: Es geht ja in der Tat durchaus um die Frage, welche Gestalt die Kirche in Zukunft haben wird. Und von den Erfahrungen der Weltkirche gilt es zu lernen: Es ist immer eine – wie die anglikanische Kirche formuliert – “mission shaped church”, einer Kirchengestalt, die sich aus der Sendung in einen konkreten Kontext her ergibt.

Entsprechend zeigt sich das Projekt einer lokalen Kirchenentwicklung eben nicht als einfache Modulation der klassischen Gemeindetheologie in Netzwerke vieler kleiner Gemeinden desselben Typs, sondern als ein offener Prozess, der sozialraumorientiert das Evangelium vor Ort neu lernt, im Angesicht der Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen, und so neue Sozialformen des Kircheseins ermöglicht.

4. Kein Containerbegriff

In der Tat greift die Rede von Prozessen Lokaler Kirchenentwicklung viele Fäden auf, die in der pastoralen Theologie der vergangenen Jahrzehnte wichtig geworden sind. Dabei ist allerdings eine Perspektive zu bedenken, die diesen vielen Grundhaltungen, Werkzeugen und Instrumenten einer solchen Entwicklung eine Ausrichtung gibt: Im Hintergrund steht die Vision einer Kirche, die sich vor allem in Lateinamerika, Asien und Afrika als Gemeinschaft von Gemeinschaften zeigt. Die Erfahrung der Kleinen Christlichen Gemeinschaften ist Ergebnis eines intensiven Rezeptionsprozesses des II. Vatikanischen Konzils. Am Anfang stand hier immer die Frage, wie Menschen vor Ort aus der Kraft ihrer Taufe und gestärkt durch das Wort Gottes die Sendung der Kirche in Gemeinschaft leben können. Daraus ergab sich ein sehr partizipativer Ansatz der Kirchenentwicklung, der gründet in einem großen geistlich gegründeten Vertrauen in die Kraft der Taufe und des Geistes Gottes. Es ist dieser geistlich gegründete Ansatz, der auch in einem postsäkularen europäischen Kontext inkulturiert werden will. Es geht auch hier darum, das Evangelium neu zu erden und zu entdecken, dass wahrscheinlich eine große Vielfalt und Buntheit örtlicher Gemeinschaften und Gemeinden entsteht, die zusammen und erst miteinander ganz Kirche sind.

Der Kongress „Kirche geht“ wollte Anfänge dieses Weges skizzieren und Mut machen, am jeweiligen Ort solche Prozesse der Kirchenentwicklung zu wagen.

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