012020

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Konzept

Patrick Todjeras

Pluralismusfähig. Im Angesicht zentrifugaler und zentripetaler Kräfte

Evangelische Ekklesiologie ist pluralismusfähig, das zeigt die Geschichte.1 Die Versammlung um das Wort Gottes und die ordnungsgemäße Austeilung der Sakramente (laut der Confessio Augustana [1530], Artikel VII) ist grundsätzlich das Fundament für eine schlanke lutherische Ekklesiologie. Zum einen ermöglicht die Beschränkung des Notwendigen auf Wort und Sakrament einen Gestaltungsfreiraum – also eine pluralismusfähige Kirchentheorie – etwa im Blick auf die Strukturen, Ordnungen und Ausübung der Praktiken evangelischen Lebens. Es gibt eine Koexistenz von verschiedenen Ausgestaltungen evangelischen Lebens. Zum anderen aber wird die evangelische Kirche durch die entstandene und entstehende Vielfalt herausgefordert. Vielfalt setzt Kräfte frei. Die Herausforderung besteht darin, die inhärenten zentrifugalen Kräfte mit gestalteten zentripetalen Kräften für die Einheit der Kirche zu verbinden.

Evangelische Ekklesiologie ist pluralismusfähig.

Besonders seit dem 19. Jahrhundert erleben die evangelischen Kirchen2 eine innerkirchliche Pluralisierung christlicher Sozialformen. Uta Pohl Patalong und Eberhard Hauschildt beschreiben dies beispielhaft als Konkurrenzsituation zwischen „der Organisationsform Parochie und nicht-parochialen Formen kirchlicher Organisation“3. Missionarische Gemeinschaften, diakonische Gemeinschaften, Orden und andere Sozialformen und Bewegungen sind Signale für eine milieu- und aufgabenspezifische Fokussierung, die seitdem zunimmt.4 Die Vervielfältigung betrifft nicht nur zusätzliche Sozialformen, sondern ebenso die Ortsgemeinde und ihre Angebote sowie kirchliche Berufe insgesamt, die sich seit den 1960er Jahren ausdifferenzieren und vermehren. Pluralisierung spiegelt sich z. B. in den Ergebnissen der Kirchgangsstudie der EKD 2019 wider, in der die Ausdifferenzierung des liturgischen und gottesdienstlichen Angebots deutlich wird.5

Vielfalt setzt Kräfte frei.

Der Göttinger Praktische Theologe Jan Hermlink macht deutlich, dass es vor allem drei Regeln sind, an denen sich die evangelische Pluralisierung gegenwärtig orientiert.6 Erstens, Integration, d. h. durch neue Angebote sollen Personen und Gruppen in die kirchliche Arbeit integriert werden. Zweitens, Addition, d. h. Angebote werden zusätzlich zum ‚Normalbestand‘ und den üblichen Rollen und Funktionen (z.B. Gemeindehaus, Pfarrerin, Hauptgottesdienst), sozusagen ergänzend ermöglicht. Drittens, Asymmetrie, d. h. das neue Angebot oder die neue Sozialform ist asymmetrisch zu den bereits bestehenden Angeboten oder Formen. Neues wird auf eine dominante bestehende Form gemeindlichen Lebens (oder Funktion) bezogen verstanden – und muss sich dafür auch rechtfertigen. Jan Hermelink folgert: „Insgesamt sorgen die genannten Regeln in der Kirche für eine Pluralisierungsdynamik, die vieles nebeneinander und miteinander bestehen lässt. Im Laufe der Zeit, so scheint es, gelingt es der evangelischen Kirche für fast alle kulturellen, ethischen und religiösen Differenzen die betroffenen Gruppen – jedenfalls im Prinzip – in das kirchliche Leben zu integrieren.“7

Im Laufe der Zeit, so scheint es, gelingt es der evangelischen Kirche für fast alle kulturellen, ethischen und religiösen Differenzen die betroffenen Gruppen – jedenfalls im Prinzip – in das kirchliche Leben zu integrieren.

Alle drei Regeln evangelischer Pluralisierung werden gegenwärtig aus der Praxis gelebter Religiosität sowie durch die kirchliche Wirklichkeit herausgefordert. Die konfessionelle Identität, die beispielsweise im Blick auf die Integration wesentlich erscheint, wird von jüngeren Generationen als weniger wichtig betrachtet wie beispielsweise die Studie von Rebecca John Klug in ihrer Forschung zu Gemeinden von und mit jungen Erwachsenen herausgefunden hat.8 Angesichts dieser Herausforderung stellt sich die Frage: Was ist ein erforderlicher Integrations-Grundwasserspiegel? Hinsichtlich der Addition verschiedener Angebote wird aufgrund knapper werdender Finanzen in vielen evangelischen Kirchen die Frage laut, was überhaupt noch ergänzt werden kann und gefördert werden soll, Bestehendes oder neues Ergänzendes? Im Blick auf das Prinzip der Asymmetrie, die Vielfalt aber nur zugunsten dominanter Formen zulässt, kann man beobachten, dass eine solche innerkirchliche Wertung von z. B. Haupt- und Nebenform, bei den Akteurinnen religiöser Praxis auf Kritik stößt. So nimmt beispielsweise die Zahl der Feiernden bei Hauptgottesdiensten (im Duktus innerkirchlichen Verständnisses eine Hauptform) ab, während die Zahl der Feiernden bei speziellen Gottesdiensten zunimmt (Nebenform)  9 Was, wenn diese scheinbar ordnende innerkirchliche Logik religiösen AkteurInnen weniger wichtig erscheint?

Im Zusammenhang der drei Regeln fragt Jan Hermelink danach, welche sozialen Formen und Strukturen die evangelische Kirche pluralismusfähig machen.10 Was muss also bereitgestellt werden, um die christliche Tradition als Ressource zugänglich zu machen? Für Jan Hermelink sind es drei kirchliche Strukturen, die die Konkurrenz kirchlicher Gruppenbildung (etwa in der Spannung von Bestehendem und Neuem) bearbeiten und als Medien eines Pluralismus der Gruppen gestaltet werden können:

Welche sozialen Formen und Strukturen machen die evangelische Kirche pluralismusfähig?

a) Gebäudestruktur (Gebäudekomplex bietet Raum für Gemeinschaftserleben von verschiedenen Gruppen),

b) rechtliche Verfahren (Regelung der Arbeitsbereiche und Ansprüche von z. B. verschiedenen DienstnehmerInnen und AkteurInnen.) und

c) Prägung des Glaubens durch Texte, Rituale und Themen (durch diese geschieht eine Moderation der Diskurse).11

Man merkt schnell an Jan Hermelinks Antwort, dass seine Maßnahmen zur Gestaltung von Gruppenpluralismus eine große Wertschätzung für die institutionslogischen Elemente einer volkskirchlichen Struktur mitbringen. Gebäude, Verwaltung und Text- und Ritualbestand sind vorgegebene Stützen der Institution Kirche, die Jan Hermelink zu nützen sucht.

Gibt es andere Wege einen innerkirchlichen Pluralismus zu gestalten?

Eine etwas andere Sprache, aber in der Sache vergleichbar, wählt der in der anglikanischen „fresh expressions of Church“-Bewegung prominente Theologe Michael Moynagh. Er schlägt für die ekklesiale Gesundheit einer pluralismusfähigen Kirche ein Prinzip vor: Er nennt es „focused-and-connected-church“.12 Menschen schließen sich sogenannten „affinity groups“13 an, vielfältige milieu- oder zielgruppenspezifische Sozialformen entstehen.14 Im Blick auf eine missionarische Kirche sei ein solcher kontextualisierter Zugriff unumgänglich. Christliche Sozialformen sollten sich demnach auf eine spezifische Kultur / Zielgruppe / Kontext fokussieren und gleichzeitig mit der konfessionellen Kirche vernetzt und verbunden bleiben. Beide Bewegungen, Fokussierung und Vernetzung, sieht Michael Moynagh als gleichwertig und gleichbedeutend an. Die Möglichkeit, sich als Teil einer größeren Gemeinschaft und nicht nur als Teil der vorfindlichen Gruppe zu erleben, stärke die Einheit.15

‚Fokussierung und Vernetzung‘ wollen gestaltet werden. Die Prinzipien können als sachlogisches Pendant zu den Begriffen zentrifugal und zentripetal verstanden werden.

Über der diesen Beitrag begleitenden Thematik hinaus stellt sich die Frage: Wie kann „connecting“ (Vernetzung) gestaltet werden?

‚Fokussierung und Vernetzung‘ wollen gestaltet werden. Die Prinzipien können als sachlogisches Pendant zu den Begriffen zentrifugal und zentripetal verstanden werden.

Um ‚Verbundenheit / Vernetzung‘ („connecting“) zu gestalten, lässt sich weiter fragen: Welche Praktiken widmen sich der Konkurrenz kirchlicher Gruppenbildung in der evangelischen Kirche und machen sie damit pluralismusfähig?

Es sind Fragen, die die Kirche nicht erst seit dem 20. Jahrhundert sondern schon seit dem Urchristentum umtreiben. Was verbindet Kontextualisierung und Einheit?16 Was verbindet Vielfalt und Eins-Sein? Was verbindet Fokussierung und Vernetzung?

Klaus Haacker verweist für das Neue Testament auf drei Praktiken, die übertragen auf die gegenwärtigen Fragestellungen neu berücksichtigt werden können: Das Vaterunser als gemeinsames Gebet, die Taufe als gemeinsamer Eintrittsritus, das Herrenmahl als regelmäßig wiederholte Feier.17 Wie könnten diese drei Praktiken die Konkurrenzsituation kirchlicher Gruppenbildung bearbeiten? Wie kann eine pluralismusfähige Kirche in eben diesen Handlungen ihre zentripetale Kraft entfalten? Wo geschieht dies bereits und was kann man davon lernen?

Im Blick auf die Herausforderungen einer pluralismusfähigen evangelischen Kirche kann die Erinnerung an eine zentrifugale Urchristenheit anregend sein, die immer wieder bemüht war, zentripetale Kräfte zu entwickeln. Es waren gemeinsame Praktiken, die einen gemeinsamen Weg und Einheit sicherten.18 Von da aus wurden Differenzen thematisiert und Diskurse angeregt.

 

 

  1. So pointiert die Veröffentlichung von: Haigis, Pluralismusfähige Ekklesiologie. Zum Selbstverständis der evangelischen Kirche in einer pluralistischen Gesellschaft (2008).
  2. Die evangelische Kirche in Deutschland besteht aus Landeskirchen, die je ein rechtlich selbstständiges Gebilde mit Regelungen, Bestimmungen und Terminologie sind. Es gibt Landeskirchen mit lutherischem, reformiertem oder uniertem Bekenntnis. In unierten Gemeinden entscheiden die Gemeinden über das Bekenntnis.
  3. Hauschildt / Pohl-Patalong, Kirche (2013), 258-260.
  4. Siehe dazu: Pohl-Patalong, Ortsgemeinde und übergemeindliche Arbeit im Konflikt. Eine Analyse der Argumentationen und ein alternatives Modell (2003).
  5. https://www.liturgische-konferenz.de/download/Kirchgangsstudie%202019_Ergebnispapier_END.pdf am 20.05.2020. Ein buntes Bild einer vielfältigen Praxis des Glaubens wird in den EKD-Erhebungen zur Kirchenmitgliedschaft (jüngst 2015 KMU V) erhoben, das innerkirchlichen Pluralismus zeigt. Zentral erscheint dabei, dass dieser nicht individuell, sondern gemeinschaftlich ist. Man fühlt sich zusammengehörig in der Praxis und der Überzeugung. Bedford-Strohm / Jung (Hg.), Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft (2015).
  6. Hermelink, „Die evangelische Vergemeinschaftung religiöser Pluralität. Einige empirische und theologische Überlegungen“ (2018).
  7. A.a.O., 278.
  8. Klug, Kirche und Junge Erwachsene im Spannungsfeld: Kirchentheoretische Analysen und eine explorative Studie zur ekklesiologischen Qualität ergänzender Ausdrucksweisen des christlichen Glaubens (2020).
  9. https://www.liturgische-konferenz.de/download/Kirchgangsstudie%202019_Ergebnispapier_END.pdf am 20.05.2020.
  10. Hermelink, „Die evangelische Vergemeinschaftung religiöser Pluralität. Einige empirische und theologische Überlegungen“ (2018), 277.
  11. A.a.O., 289-290.
  12. Moynagh, Church for Every Context. An Introduction to Theology and Practice (2012), 171-180.
  13. Moynagh, Church in Life. Innovation, Mission and Ecclesiology (2017), 220. „An affinity group is a group formed round a shared interest or goal, to which individuals formally or informally belong. People normally choose to affiliate.“
  14. Aktuell für den deutschsprachigen Raum: Hempelmann / Schliesser u. a., Handbuch Milieusensible Kommunikation des Evangeliums: Reflexionen, Dimensionen, praktische Umsetzungen (2019).
  15. Moynagh, Church for Every Context. An Introduction to Theology and Practice (2012), 172.
  16. Dass sich die Begriffe nicht scharf gegenüberstehen, wird etwa bei Christian Grethlein deutlich, der von kulturübergreifenden und einheitsstiftenden Aspekten der Kontextualisierung spricht. Grethlein, Kirchentheorie. Kommunikation des Evangeliums im Kontext (2018).
  17. Haacker, „Die Einheit der Kirche in neutestamentlicher Sicht“ (2019).
  18. Ein Vorschlag zu einem gemeinde- und kirchenentwickelnden Handeln in der Vielfalt kommt von dem Praktischen Theologen Michael Herbst, der von regiolokaler Kirchenentwicklung spricht. Für ihn wird regiolokales Handeln als geistliche und organisatorische Verantwortung für die Region wahrgenommen. Herbst, „Ordnungsgemäß berufen, regiolokal leiten, mündiges Christsein fördern“ (2017); Herbst / Pompe, Regiolokale Kirchenentwicklung. Wie Gemeinden vom Nebeneinander zum Miteinander kommen können (2017).

Literatur:

Bedford-Strohm, Heinrich / Jung, Volker (Hg.): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft, Gütersloh 2015.

Grethlein, Christian: Kirchentheorie. Kommunikation des Evangeliums im Kontext, Berlin und Boston 2018.

Haacker, Klaus: „Die Einheit der Kirche in neutestamentlicher Sicht“, in: Theologische Beiträge 19 (2019), 136-150.

Haigis, Peter: Pluralismusfähige Ekklesiologie. Zum Selbstverständis der evangelischen Kirche in einer pluralistischen Gesellschaft, Leipzig 2008.

Hauschildt, Eberhard / Pohl-Patalong, Uta: Kirche, Gütersloh 2013.

Hempelmann, Heinzpeter / Schliesser, Benjamin / Corinna Schubert / Patrick Todjeras / Markus Weimer: Handbuch Milieusensible Kommunikation des Evangeliums: Reflexionen, Dimensionen, praktische Umsetzungen, Gütersloh 2019.

Herbst, Michael: „Ordnungsgemäß berufen, regiolokal leiten, mündiges Christsein fördern“, in: PTh 106 (2017), 6-12.

Herbst, Michael / Pompe, Hans-Hermann: Regiolokale Kirchenentwicklung. Wie Gemeinden vom Nebeneinander zum Miteinander kommen können, Dortmund 2017.

Hermelink, Jan: „Die evangelische Vergemeinschaftung religiöser Pluralität. Einige empirische und theologische Überlegungen“, in: Pastoraltheologie 107 (2018), 275-290.

Klug, Rebecca John: Kirche und Junge Erwachsene im Spannungsfeld: Kirchentheoretische Analysen und eine explorative Studie zur ekklesiologischen Qualität ergänzender Ausdrucksweisen des christlichen Glaubens, Göttingen 2020 (BEG Bd. 31).

Moynagh, Michael: Church for Every Context. An Introduction to Theology and Practice, London 2012.

Moynagh, Michael: Church in Life. Innovation, Mission and Ecclesiology, London 2017.

Pohl-Patalong, U.: Ortsgemeinde und übergemeindliche Arbeit im Konflikt. Eine Analyse der Argumentationen und ein alternatives Modell, 2003.

 

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