022016

Praxis

Carmen Dietrich und Gregor Merten

Engel der Kulturen

In den vergangenen Jahrzehnten ist eine Zunahme spaltender Tendenzen in Europa und weltweit zu beobachten, die durch den Terroranschlag auf das World Trade Center im Jahr 2001 eine neue Dimension erreichte. Wachsende Vorurteile und Ängste erschweren das Zusammenleben in unserer multikulturell geprägten Gesellschaft. Gleichzeitig intensivierten sich in diesem Zeitraum die Bemühungen um einen vor dem Hintergrund von Globalisierung, weltweiter Migration und Religionskonflikten notwendigen interreligiösen Dialog, den Austausch der verschiedenen Religionsgemeinschaften auf Augenhöhe und in gegenseitigem Respekt. Unsere Wahrnehmung war, dass Inhalt und Ergebnis des in Deutschland unter hochrangigen Religionsvertreterinnen und -vertretern geführten Dialogs aber die Bevölkerung nur in Fragmenten erreicht.

Kunstaktion Engel der Kulturen in Mülheim/ Ruhr – Religionsvertreter bei der Erzeugung eines temporären Sandbildes

In dieser Situation stellten wir uns als bildende Künstler die Aufgabe, diesen Dialog mit einem klaren Bild zu unterstützen, die Ebene zu wechseln und ihn um eine sinnliche Komponente zu erweitern. Unser Ziel war, auch bei jungen Menschen das Interesse zu wecken, sich für ein Zusammenleben in Gleichberechtigung und friedlicher Verbundenheit einzusetzen, und dem Wunsch der Mehrheitsgesellschaft nach einem gelingenden Miteinander Ausdruck zu verleihen.

Unser Ziel war, auch bei jungen Menschen das Interesse zu wecken, sich für ein Zusammenleben in Gleichberechtigung und friedlicher Verbundenheit einzusetzen, und dem Wunsch der Mehrheitsgesellschaft nach einem gelingenden Miteinander Ausdruck zu verleihen.

Zeichnerisch haben wir die Symbole der drei abrahamitischen Religionen – den Halbmond, den Stern und das Kreuz – in variierter Weise zu einander in Beziehung gesetzt, bis die vorliegende Konstellation entwickelt war, in der sie sich in ausgewogener Relation gruppieren. Die Symbole sind im Ring in größtmöglichem Abstand einander zugeordnet, um den Erhalt der jeweils eigenen Individualität zu verbildlichen.

Coburg: Verlegung der Intarsie

Kinder, Bürgermeister, Vertreter der Religionen und Regionalbischöfin bei der Einlassung der Bodenintarsie in Coburg

Die Zeichen der drei abrahamitischen Weltreligionen stehen stellvertretend für alle Kulturen und Religionen. Sie tauchen nur unvollständig aus dem umgebenden Ring auf, die komplette äußere Form wird erst durch die innere Wahrnehmung des Betrachters sichtbar, dazwischen, dahinter ist die ganze Vielfalt aller Kulturen vorstellbar. Auch die darin zu erkennenden drei geometrischen Grundformen, Quadrat, Dreieck und Kreis, zeigen größtmögliche Pluralität auf. Die Kreisform verweist nicht nur auf die gegenseitige Verbundenheit, sondern verdeutlicht die gemeinsame Verantwortung aller Religionen für den Erhalt der Schöpfung in der einen Welt. Anschaulich und begreifbar stellt diese Form dar, dass niemand und keine Gruppe aus dem Kreis herauszulösen ist, ohne dass alle anderen erkennbar mit beschädigt werden und steht so auch als klares Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit, Rechtsextremismus und Fundamentalismus.

Von uns unbeabsichtigt visualisiert diese Formation im Inneren die Gestalt eines Engels oder auch der Friedenstaube. In der Überlieferung aller drei Weltreligionen kommen Engel ungefragt und gelten als Beschützer und Botschafter des Göttlichen. Zur Unterstützung unserer Intention kam der Engel wie gerufen – und wir nannten unser Kunstprojekt Engel der Kulturen.

Bodenintarsie Engel der Kulturen

Engel der Kulturen vor dem Hospiz zum Heiligen Franziskus in Recklinghausen

Bei dessen Umsetzung in verschiedene künstlerische Aktionen/ Performances werden seit 2008 breit angelegt die verschiedensten Bevölkerungsgruppen im In- und Ausland eingebunden und zu weiteren eigenen, gemeinsamen Aktivitäten angeregt. Vertreter und Vertreterinnen der Öffentlichkeit und der Religionsgemeinschaften bekunden bei den Kunstaktionen mit dem Engel der Kulturen in gemeinschaftlichen Zeichenhandlungen mit Bürgerinnen und Bürgern sowie vielen jungen Menschen ihren Willen zu einem friedlichen Zusammenleben aller Kulturen, indem sie sich zunächst daran beteiligen, die rollende Skulptur zu Glaubenseinrichtungen der verschiedenen Religionsgemeinschaften, Gedenkstätten, Schulen sowie anderen öffentlichen Einrichtungen und Plätzen zu bewegen, wo jeweils gemeinsam ein Sandabdruck der inneren Figur erzeugt wird, um die gegenseitige Verbundenheit sichtbar zu dokumentieren. Durch themenbezogene Wort-, Musik- und ähnliche Beiträge gestalten die Beteiligten diese Stationen mit. – Diese Aktion führten wir erstmals 2008, am 70. Jahrestag der Reichspogromnacht in Köln durch, wo wir mit der Skulptur Dom, Synagoge und die Moschee in Ehrenfeld, damals noch ein Provisorium vor dem Bau der neuen Moschee, besuchten und jeweils einen Sandabdruck erzeugten, auch damals schon gemeinsam mit Vertretern der jeweiligen Gotteshäuser, unter anderen mit dem Imam der Moschee.

Schon bei der Vorbereitung der Kunstaktionen in den teilnehmenden Städten kommt es zu einem regen Austausch von Angehörigen verschiedener Glaubensrichtungen und kultureller Prägung.

Zum Abschlusss jeder Aktion wird eine dauerhafte Bodenintarsie des Symbols an einem öffentlichen Platz verlegt und danach gemeinsam mit den Anwesenden mit dem Schneidbrenner eine Intarsie für den nächsten Verlegeort hergestellt. Auf diese Weise werden alle teilnehmenden Städte und Menschen symbolisch verbunden und es bildet sich eine soziale Skulptur – im erweiterten, von Joseph Beuys geprägten Kunstbegriff -, die dazu einlädt, aktiv und gestaltend zum Gelingen der multikulturellen Gesellschaft beizutragen.

Junge Menschen aller Altersstufen – hier auch Flüchtlingskinder – beteiligen sich an allen Handlungen und leisten eigene Beiträge

Die beim Ausbrennen ebenfalls entstehenden inneren Formen werden am Rand mit Ort und Datum der Entstehung beschriftet und liegend aufeinander geschichtet. So bilden sie die stetig wachsende Engel der Kulturen-Säule, die im Jahr 2018 in Jerusalem zur Aufstellung kommt und in folgenden Jahren dort weiter wachsen wird, um zu dokumentieren, wie viele Menschen eintreten für ein Zusammenleben in versöhnter Verschiedenheit und dafür an den verschiedensten Orten Zeichen gesetzt haben, aus denen sich gleichzeitig eine Skulptur der Solidarität für diese konfliktreiche Region formt. So soll die Vielzahl der handschriftlich entstanden Teile, aus denen diese Säule gebildet wird, auch im Nahen Osten einen Impuls geben, nicht nachzulassen im Bemühen um einen gerechten Frieden, und zum Ausdruck bringen, dass die Menschen in Europa und darüber hinaus an ihrer Seite stehen.

Schon bei der Vorbereitung der Kunstaktionen in den teilnehmenden Städten kommt es zu einem regen Austausch von Angehörigen verschiedener Glaubensrichtungen und kultureller Prägung sowie zur Klärung der unterschiedlichen Positionen, die sich am Tag der eigentlichen Kunstaktion vertiefen und im Nachhinein fortgeführt werden. Auch in Schulen, Universitäten und sogar in Kitas setzt man sich vorbereitend mit dem Symbol und seiner Inhaltlichkeit auseinander. Dabei wird von uns entwickeltes didaktisches Material verwendet. Bei der kreativen Beschäftigung mit dem Symbol kann der respektvolle, neugierige und unvoreingenommene Umgang miteinander spielerisch erarbeitet und der Wille zu einem positiven Zusammenleben in unserer globalisierten Welt durch die Erweiterung der Wahrnehmung und des Wissenshorizontes zu einem möglichst frühen Zeitpunkt in Gang gesetzt werden. Mittlerweile wird in vielen Schulen der Themenkreis interkulturelles/ interreligiöses Zusammenleben mit dem Engel der Kulturen erarbeitet, was in den Ethik- und Religionsbüchern der renommierten Schulbuchverlage für alle Jahrgangsstufen durch Abbildungen des Symbols und entsprechende Aufgabenstellungen angeregt wird. Gerne unterstützen wir die Verlage zu diesem Zweck mit Informationen und Fotodateien, da es von Beginn an unser Anliegen war, besonders den jungen Menschen eine Anregung zu Austausch und interkultureller Verständigung sowie zur Gestaltung einer offenen Gesellschaft zu geben.

Die wachsende Engel der Kulturen-Säule für Jerusalem, die aktuell aus 99 Elementen besteht, die in den Stationen unseres Kunstprojekts entstanden sind

Während wir anfangs konkret und persönlich in den Städten geeignete Gruppierungen angesprochen haben und sie mit unserer – meist rein mündlichen – Darstellung des Kunstprojekts überzeugen mussten, dürfen wir inzwischen erleben, dass die Begegnung mit der Bildhaftigkeit des Zeichens sowie Erfahrungsberichte von einem zum Nächsten so viel Interesse in Gang setzen, dass uns immer umfangreicher Anfragen erreichen, mit uns zusammen zu arbeiten und gemeinsam die Kunstaktion umzusetzen. Wir sehen uns in unserem Ansatz bestätigt durch die vielfache Teilnahme von Vertreterinnen und Vertretern der verschiedenen Religionen und Kulturen, die in dieser Aktion die Kernaussagen eines breit geführten Dialogs zum Ausdruck gebracht sehen. Von Politikerinnen und Politikern wird häufig die Gelegenheit wahrgenommen, klare Statements abzugeben für die Notwendigkeit eines Zusammenlebens der verschiedenen Kulturen in gegenseitigem Respekt und auf Grundlage unserer freiheitlich-demokratischen Grundordnung.

Natürlich ist nicht alles glatte Fahrt – von Beginn an gab es auch Widerstände und Kritik, die Thematik in der von uns erdachten Weise zu behandeln und umzusetzen, – durchaus von verschiedenen Seiten. Da es sich bei diesen Kritikern eher um einzelne Stimmen handelt, möchten wir an dieser Stelle solche Störmomente nicht weiter thematisieren. Schließlich dürfen wir doch wahrnehmen, dass die Mehrheitsgesellschaft in den Städten auf unserem Weg an diesem Punkt, wie er durch den Engel der Kulturen definiert ist, schon lange angekommen ist. Und dahinter darf es aus unserer Sicht kein Zurück geben! Absetzbewegungen von dieser gesellschaftsrelevanten toleranten Grundhaltung werden sich unmittelbar auswirken auf das Kunstprojekt, das so als Seismograph dient, der anzeigt, wann eine öffentliche Diskussion über die Hintergründe unumgänglich wird.

Vor ein Problem stellt uns die Zusammenarbeit mit den Medien. Obwohl wir in den Jahren seit 2008 mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln die Verbreitung unseres Kunstprojekts forcieren, um die Menschen zu erreichen und den Prozess der sozialen Plastik in Gang zu setzen, – und obwohl in jeder der vielen Stationen die lokale Presse umfangreich in Wort und Bild berichtet, – erreicht uns immer wieder die Frage: “Warum kenne ich dieses Projekt nicht?” Leider war es in all der Zeit nicht möglich, überregionale Medien für unsere Arbeit zu interessieren. Weder Informationen über die Aktion “Abraham-Karawane”, die uns 2010 zur symbolischen Verbindung der Europäischen Kulturhauptstädte über den ganzen Balkan bis nach Istanbul führte und bei der wir den Engel der Kulturen erfolgreich in acht Städten installiert haben, noch die Aktion am Europa-Parlament in Brüssel gemeinsam mit EU-Parlamentspräsident Martin Schulz, noch die Installation eines großen Wandobjekts mit dem Symbol in Tel Aviv und die gleichzeitige Realisierung einer LandArt-Installation bei Bethlehem im Westjordanland – um nur einige Beispiele zu nennen -, führten zu irgendeiner Reaktion der überregionalen Presse.

Resümierend betrachten wir das Kunstprojekt als nachhaltige Bereicherung unseres Lebens, nicht zuletzt in der Reflexion unserer eigenen religiös-kulturellen Werte.

Eine mögliche Erklärung fanden wir in Tel Aviv: Ein junger Journalist, der sowohl in der Schweiz als auch in Israel tätig ist, zeigte sich zwar begeistert von unserem Projekt, lehnte aber eine Berichterstattung über die Aktion in Tel Aviv ab mit der Begründung “Only bad news sell …That’s the business”. Diese Haltung, die wohl auch von hiesigen Medien geteilt wird, finden wir bedauerlich und einseitig, da die Fülle der Berichterstattung negativer Ereignisse mit Sicherheit die Gesellschaft immer weiter auseinander treibt, wenn nicht auch gleichzeitig über positive Entwicklungen informiert wird. Resümierend betrachten wir das Kunstprojekt als nachhaltige Bereicherung unseres Lebens, nicht zuletzt in der Reflexion unserer eigenen religiös-kulturellen Werte.

Am Mittwoch, 20. Mai, erreicht die Kunstaktion Engel der Kulturen die Essener Innenstadt. Im Mittelpunkt der Aktion steht ein rund 1,50 Meter hohes Rad aus Metall, geschaffen von dem Burscheider Künstlerpaar Gregor Merten und Carmen Dietrich. Das Rad trägt stellvertretend für die unterschiedlichen Kulturkreise die Symbole der drei abrahamitischen Religionen in sich: Davidstern, Kreuz und Halbmond. Gregor Merten mit einer Kölner Schulklasse auf der Kettwiger Straße in Essen. 20. 05. 2009, Foto: Prengel

Bei der Planung unserer Aktionen erleben wir Menschen unterschiedlichster gesellschaftlicher und kultureller Zugehörigkeit, die miteinander in Kontakt kommen, sich nicht selten erstmals begegnen und an einen Tisch setzen. Dabei kommt nicht nur untereinander ein dauerhafter Austausch zustande, sondern es finden in nahezu allen beteiligten Städten turnusmäßig durchgeführte interreligiöse, interkulturelle Fest-, Friedens-, Gedenk- und Mahnveranstaltungen sowie Ausstellungen, Vorträge etc. in der Öffentlichkeit – rund um die Engel der Kulturen-Bodenintarsie – statt. Diese von uns erhoffte Verwurzelung, aber auch die Begegnung mit den vielen Kindern und jungen Menschen, die Ergebnisse ihrer kreativen Auseinandersetzung mit der Botschaft des Engels der Kulturen und ihre intensive Mitwirkung an den Aktionen beflügeln uns. Daraus schöpfen wir die Kraft, die Möglichkeiten des Projekts weiter auszubauen, um dieses Bild in den Köpfen und Herzen der Menschen zu verankern im Gedanken unserer gemeinsamen Verantwortung für eine gelingende Zukunft.

Weitere Informationen und Kontakt:

Atelier Carmen Dietrich und Gregor Merten
Herkensiefen 6
51399 Burscheid
Tel. 02174 – 780258

www.engel-der-kulturen.de

Schlagworte

IntegrationInterreligiösKunst

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