022016

Praxis

Matthias Leithe

Inklusion oder Exklusion – wie prägt Religion das Zusammenleben in unserer Gesellschaft? – Ein Beispiel aus Ratingen

Religionen stehen immer für Glaubenswahrheiten. Viele Glaubenswahrheiten haben Exklusivitätsanspruch. Deshalb erleben Menschen Religionen als Konkurrenten. In einer westlich geprägten Gesellschaft, in der wissenschaftliches Arbeiten zwischen These und Antithese Entscheidungen fordert, wird auch das Gegenüber im interreligiösen Dialog oft von den Negativgrenzen her wahrgenommen.

Das kann aber auch ganz anders funktionieren, wenn zunächst Gemeinsamkeiten gesucht werden. Gemeinsames Erleben verändert dann immer auch das, was zunächst als unüberwindlich trennend zwischen Menschen unterschiedlicher religiöser Prägung steht.

Das zu wagen und sich nicht abschrecken zu lassen durch vorübergehende Misserfolge oder auch Missverständnisse liegt ganz auf der Linie der Botschaft Jesu, wie ich sie verstehe. Sein ganzes Reden und Hören, Nachdenken und Verstehen war und ist eine einzige Parteinahme für den Menschen und die Menschlichkeit. Dafür sollen wir aufstehen und einstehen.

Insoweit ist sein Ansatz nicht exklusiv, sondern inklusiv, ohne dabei andere vereinnahmen zu wollen. In dieser Tradition das Gespräch mit Vertretern anderer Religionen zu suchen, öffnet Menschen füreinander und kann zum entscheidenden Motor für Integration werden.

Das haben wir in Ratingen über viele Jahre hinweg im interreligiösen Dialog so praktiziert. Dass wir so das Zusammenleben in unserer Gesellschaft positiv prägen können, haben wir zu Beginn des letzten Jahres erfahren. Nach den Anschlägen auf das Satiremagazin Charlie Hebdo wurden wir alle täglich mit der Frage konfrontiert, ob eine Gesellschaft ohne Religion nicht friedlicher sei. Und weil die Anschläge in Paris eindeutig religiös motiviert waren, mussten sich gerade auch unsere muslimischen Freunde in den darauffolgenden Tagen vermehrt für ihren Glauben öffentlich rechtfertigen.

Diese besondere Herausforderung an alle Religionen habe ich vor dem Hintergrund der Ereignisse von Paris deshalb auch zum Thema meiner Neujahrsansprache als Vorsitzender des Presbyteriums der evangelischen Kirchengemeinde Ratingen beim ökumenischen Neujahrsempfang in Ratingen gemacht.

Und es war ganz selbstverständlich, dass das nur gelingen kann, wenn wir Christen das mit unseren Freunden aus anderen Religionsgemeinschaften in Ratingen gemeinsam tun.

Mit Hilfe der Jahreslosung für 2015, „Nehmt einander an, wie Christus euch angenommen hat, zu Gottes Lob“ habe ich dafür geworben, mit dieser Losung Ernst zu machen. Programmatisch fordert sie, dass sich alle Menschen, auch die anderen Glaubens, bei uns angenommen fühlen sollen und können, – und zwar so wie sie sind. Das gilt auch für die vielen Flüchtlinge, die derzeit zu uns kommen, weil sie anderswo nicht so sein konnten, wie sie sind. Dazu bedarf es deutlicher Zeichen und Initiativen durch die Religionsgemeinschaften.

Noch auf dem Neujahrsempfang entstand dann unter den Anwesenden der Wunsch, in Ratingen ein deutliches, öffentlich wahrnehmbares Zeichen gegen Fremdenhass und für ein gutes Miteinander zu setzen. Schnell erwuchs daraus die gemeinsame Idee, auf die Straßen zu gehen und deutlich zu sagen, wofür wir stehen. Und es war ganz selbstverständlich, dass das nur gelingen kann, wenn wir Christen das mit unseren Freunden aus anderen Religionsgemeinschaften in Ratingen gemeinsam tun.

Mein katholischer Kollege Daniel Schilling und ich haben daraufhin einen Aufruf formuliert und mit Vertretern des alevitisches Kulturzentrum, der türkisch-islamischen Gemeinde DITIB, dem muslimisches Familienbildungswerk, dem jüdischen Kulturverein Ratingen Schalom und der islamischen Gemeinschaft Milli Görüs abgestimmt. Gemeinsam wurde innerhalb weniger Tage eine Demonstration geplant, die die Verbundenheit der Menschen aller Religionen in Ratingen deutlich macht.

Der Demonstrationszug führte vom Platz vor der zentralen katholischen Kirche in Ratingen, „Peter und Paul“ vorbei an der evangelischen „Stadtkirche“ und dem alten jüdischen Friedhof (eine Synagoge gibt es in Ratingen nach den Exzessen der Nazis in der Reichsprogromnacht nicht mehr) zum Platz der Moschee von DITIB am Westbahnhof. Dort haben wir dann gemeinsam mit allen gebetet. Unserer Initiative haben sich der Bürgermeister der Stadt Ratingen, alle Fraktionen im Rat der Stadt und die gesamte Verwaltungsspitze angeschlossen.

Als wir am 18. Januar 2015 loszogen, kamen so viele Menschen zusammen, dass die letzten noch auf dem Marktplatz vor Peter und Paul starteten, während die Spitze des Demonstrationszuges schon den Platz vor der Moschee erreichte.

Es war die größte Demonstration in der Geschichte Ratingens. Über 5000 Menschen sind laut Schätzungen der Polizei mitgelaufen. Und das ist sicherlich ein gutes Beispiel dafür, wie Religionen das Zusammenleben in der Gesellschaft positiv prägen und inklusiv wirken können.

Der gemeinsame Aufruf aller Mitinitiatoren ist dieser:

WIR GEHEN MITEINANDER – FÜREINANDER

Sonntag, den 18.01.2015 um 19 Uhr

Aufruf evangelischer und katholischer Kirchen, der islamischen Gemeinden, der alevitischen Gemeinde und des jüdischen Kulturvereins gemeinsam mit den Bürgermeistern und den Mitgliedern des Rates der Stadt Ratingen für ein deutliches Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit und für ein offenes Miteinander

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,

uns als Vertreter verschiedener Religionen eint die Erfahrung, von Gott angenommen zu sein.
Diese Erfahrung macht Mut sich in und für die Welt zu engagieren, unseren Nächsten anzunehmen, und uns von unserem Nächsten annehmen zu lassen.

Sie gibt Halt, Kraft und Mut für das Miteinander von Menschen unterschiedlichen Glaubens und unterschiedlicher Kulturen.

Das ist uns vor dem Hintergrund der aktuellen Ereignisse in Frankreich ein ganz besonderes Anliegen. Die terroristischen Anschläge dort haben offensichtlich einen fanatischen Hintergrund.
Wir trauern um die Opfer. Unser Mitgefühl gilt ihren Familien.

Wir akzeptieren nicht, dass Menschen wegen der Freiheit der Meinungsäußerung und der Religionsausübung getötet werden.

Das es so etwas aber gibt, macht vielen Menschen in Deutschland Angst. Deshalb gibt es leider Tendenzen, den Islam unter Generalverdacht zu stellen. Dem treten wir ganz entschieden entgegen.

Wir fühlen uns untereinander freundschaftlich verbunden.

Seit vielen Jahren pflegen wir in Ratingen den interreligiösen Dialog zwischen den Kirchen, den Moscheevereinen, der alevitischen Gemeinde und dem jüdischen Kulturverein.

Natürlich gibt es Unterschiede im Glauben und der Weltsicht.

Aber das darf und soll auch so sein. Darum hören wir einander zu, lernen voneinander und leben miteinander. Schließlich geht es uns Menschen unterschiedlichen Glaubens doch in erster Linie darum, wie wir gut und in Frieden, Freiheit und Toleranz miteinander leben können.

Schon seit langem sind aus vielen Nachbarn unterschiedlichen Glaubens Freunde geworden.

Dass wir einander annehmen, gilt auch für die vielen Flüchtlinge, die zu uns kommen, weil sie anderswo nicht so sein, leben und glauben konnten, wie sie sind. Alle sollen wir annehmen als Menschen. Damit das gelingt, braucht es Zeichen und Initiativen von uns.

Wir alle wissen, dass es keinen Weltfrieden ohne Religionsfrieden geben kann.

Deshalb machen wir uns als Menschen aller Glaubensgemeinschaften in Ratingen heute gemeinsam auf den Weg, um so ein deutliches Zeichen gegen Fremdenfeindlichkeit und für eine offene und tolerante Gesellschaft zu setzen.

Lasst uns nun gemeinsam laufen – miteinander füreinander, – gegen Fremdenfeindlichkeit und für ein offenes Miteinander in dieser Stadt.

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