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Foto: Clark Tibbs / Unsplash

Konzept

Fritjof Schmidt

Die Produkte der Kirchen und die Sehnsucht der Menschen

Gebäude

Manches fällt einem erst auf, nachdem man es oft gesehen hat: Die Gotteshäuser, die in meiner rheinischen Wahlheimat eröffnet werden, sind keine evangelischen oder katholischen Kirchen. Es sind Freikirchen. Manchmal sektiererische Gruppen, manchmal freikirchliche Gemeinden, über die man vielleicht mehr wissen sollte. Es sind aucg Moscheen, zunehmend wirklich beeindruckende Gebäude und sicher mit berechtigtem Stolz errichtet. „Früher haben wir die Kirchen aufgemacht, heute sperren wir sie zu“, höre ich dagegen von den Pfarrern im Ruhestand.

Nicht mehr der Glockenschlag der Kirche bestimmt das Leben, sondern die Erfordernisse in den verschiedenen Lebensbereichen.

Was ist passiert? Ich unterscheide zunächst zwischen Kirche und Glauben. Dass ich nicht nur Christ, sondern auch kirchlich bin, halte ich für keine Selbstverständlichkeit. Schauen wir zuerst auf den Glauben.

Fundamente

Wenn ich heute im Kreise meiner Kollegen bin, wenn ich heute Freunde und Nachbarn treffe, dann hat sich in den letzten zehn Jahren ein bemerkenswerter Vorzeichenwechsel ergeben. Früher mag gefragt worden sein, warum man ein Atheist sei. Heute wird gefragt, warum man glaubt.

Früher mag gefragt worden sein, warum man ein Atheist sei. Heute wird gefragt, warum man glaubt.

Der feste Glaube ist kein oder allenfalls ein kaum noch tragendes Element in der Gesellschaft.

An seine Stelle tritt eine Haltung, die oft als Rationalismus missverstanden wird. Tatsächlich ist diese Haltung aber wohl besser beschrieben als Vernunftgläubigkeit oder als eine „vage Spiritualität“, wie es ein Allensbach-Forscher im letzten Jahr formulierte. Gewissheiten im Wertesystem lösen sich auf und werden durch fluktuierende Meinungstrends ersetzt. Fakten werden überholt durch „alternative Fakten“. In nicht gekannter Geschwindigkeit sind sie durch soziale Medien in die Köpfe eingedrungen und werden multipliziert durch einen Journalismus, der seine Recherche-Standards oft nicht mehr aufrechterhalten kann und kaputtgespart ist.

Von einem „traditionsgeleiteten“ Leben (so beschrieb der amerikanischen Soziologe David Riesmann in seinem Buch „Die einsame Masse“ die gesellschaftliche Entwicklung) und auch von einem „innengeleiteten“ Typus, bei dem das Leben des Einzelnen durch verinnerlichte Ideen, Werte, Normen wie durch einen  Kreiselkompass auf Kurs gehalten wird, kann ich nicht mehr so viel wahrnehmen. Vielmehr scheint der „außengeleitete Mensch“ der Wirklichkeit zu entsprechen. Der Mensch, der gleichsam eine unsichtbare Radaranlage mit sich führt, diesen Schirm, der ständig um sich selber kreist, Signale und Weisungen aus ganz unterschiedlichen Richtungen empfängt und ihn so von außen steuert. Anpassung ist das Gesetz des außengesteuerten Menschen.

Wir werden viel Forschung zur Kenntnis zu nehmen haben, warum Menschen sich vom christlichen Glauben abwenden. Sei es, weil sie andere religiöse spirituelle Angebote annehmen. Sei es, weil sie in ihrer Vernunftgläubigkeit Spiritualität leugnen. Sei es, weil sie einer politischen romantischen Idee folgen, wie wir es in vielen national-orientierten Regimes sehen können.

Die Zukunft der Kirche wird soweit nicht durch Quantität entschieden, sondern durch Qualität.

Vielleicht werden wir nie verstehen, warum Menschen glauben oder nicht glauben. Gewiss müssen wir uns allerdings damit auseinandersetzen, dass auf absehbare Zeit weniger Menschen – vielleicht überhaupt nur wenige Menschen – christlich glauben.

Die Zukunft der Kirche wird soweit nicht durch Quantität entschieden, sondern durch Qualität.

Produkte der Kirche

Was macht Kirche aus?

Das Bild, dass sich uns unmittelbar erschließt, zeigt sich neben den regelmäßigen Gottesdiensten in den Amtshandlungen von Taufe, Konfirmation beziehungsweise Kommunion über Hochzeit bis hin zur Beerdigung. In den entsprechenden Lebensabschnitten sind präsent: Kinderarbeit, Jugendarbeit, Erwachsenenarbeit, Seniorenarbeit. In allen Lebenslagen ist die Kirche seelsorgerisch und karitativ unterwegs.

Im Fachchinesisch eines Beraters sprechen wir von einer „mece“-Struktur. Das Angebot der Kirche ist „mutual exclusive and collectively exhaustive“, also überschneidungsfrei konsistent und umfassend. Das Angebot der Kirche ist komplett.

Machen wir den Versuch einer explorativen Bewertung dieser Angebote.

  • Positiv ist: Die Gottesdienste finden flächendeckend statt. Viel Mühe von haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern wird investiert. Aber: Die Gottesdienstbesuche nehmen bekanntlich massiv ab. Die Altersstruktur in den Gottesdiensten ist zu hoch. Die Gottesdienstgestaltung und Liturgie spricht viele nicht mehr an.
  • Positiv ist: Zu den Amtshandlungen von Taufe oder Hochzeit kommen viele Besucher. Die Amtshandlungen sollen Segen stiften und Anregung geben. Aber: Sie werden aber von vielen eher als Folklore verstanden. Im Gottesdienst interessieren dann die Textilien der Geistlichen mehr als deren Texte.
  • Positiv ist: In der Jugendarbeit und deren Veranstaltungen werden viele durchdachte und sehr engagierte Angebote aufgestellt. Aber: Es gibt für die Jugendlichen einen gefühlten Angebotsüberhang für die Freizeitgestaltung. Auch die Nutzung von sozialen Medien und die Einführung des Nachmittagsunterrichtes führt zu weniger Nachfrage. Die Kirchen erleben das nicht allein. In den Sportvereinen klagen Kursleiter über hohe Fluktuation. Tagungsstätten schließen.
  • Positiv ist: Mit der Seniorenarbeit wird ein wichtiger Pfeiler für selbstbestimmtes und vernetztes Leben auch im Alter gesetzt. Aber: Mit dem Wegzug in die Seniorenheime verliert diese Struktur an Relevanz.
  • Positiv ist: Es wird viel Kraft in Seelsorge gesteckt. Nicht nur in Präsenz, sondern auch in Vorbereitung und Begleitung der Seelsorger selbst. Aber: Auch Menschen in Krisensituation nehmen das Angebot oft nicht mehr an. Im Krankenhaus kann man erleben, dass die Seelsorge Leistenden darüber frustriert sind.
  • Positiv ist: Die Kirche wird als „Marke“ für gut geführte karitative Einrichtungen wahrgenommen. Aber: Regelmäßig sind die Standards nicht besser erfüllt als in anderen Einrichtungen. Der Finanzierungsanteil der Kirchen ist eher gering, die Ausrichtung an besonderen Werten manchmal nicht wahrnehmbar.

Das sind die Produkte der Kirche. Und wenn wir die einzelnen Angebote genauer anschauen, dann rumort es deutlich.

Sehnsucht der Menschen

Wenn das Angebot leidet, dann schlägt die Stunde der Berater für „Optimierungen“: Kann man hier optimieren? Sicher. Beantworten wir damit die Zukunftskrise der Kirche? Keinesfalls.

Fragt man kirchenferne Leute, kann man folgende Antwort auf die Frage zur Zukunft der Kirche erhalten: „Es ist gut, dass die Kirchen Schulen, Krankenhäuser und Altersheime betreiben. Dafür brauchen wir die. Das sollen die weitermachen.“ Wenn uns allen nicht mehr einfällt, als die bestehenden Angebote noch professioneller zu betreiben – dann hat Kirche schon verloren. Für Folklore, Sozialarbeit und karitative Aufgaben ist die Kirche voll ersetzbar. Und wahrscheinlich noch nicht einmal schlecht.

Alles, was Kirche anbietet, macht nur Sinn, wenn es spirituell gemeint ist. Wenn es die Sehnsucht der Menschen nach christlicher Spiritualität beantwortet.

In allen Bausteinen war aber die wichtigste und zentrale Aufgabe der Kirche nicht direkt angesprochen. Heimat für die christliche Gemeinschaft zu sein. Spiritualität. Das ist der Kern von Kirche – weltlich ausgedrückt „Markenkern“ und „Mission Statement“. Alles, was Kirche anbietet, macht nur Sinn, wenn es spirituell gemeint ist. Wenn es die Sehnsucht der Menschen nach christlicher Spiritualität beantwortet.

Wir schauen uns ein Beispiel aus der Erwachsenenarbeit an:

Wir veranstalteten Gesprächsreihen, zu denen wir zunächst unter der Überschrift „Offene Abende im Pfarrhaus“ einluden. Später nannten wir die Abende „Sozialseminare“. Zur Vorbereitung hatte wir etwa 12 bis 15 Personen ins Pfarrhaus gebeten, Frauen und Männer unterschiedlichen Lebensalters und unterschiedlicher Berufe. In dieser Gruppe berieten wir, welchem Gesamtthema wir uns zuwenden wollten, welche Aspekte dabei zu berücksichtigen wären und welche Referenten uns dabei helfen könnten. Themen waren: „Beruf und Familie heute“, „Öffentliche Meinung und Einzelner“, „Kinder und Jugendliche in ihrer Umwelt“. Die Gesprächsreihen waren auf jeweils 10 Abende angelegt. Es kamen etwa 60 bis 80 Personen, die im Kindergarten (das war, glaube ich, verboten) auf den kleinen Stühlchen und Tischen Platz fanden. Das Interesse an der Orientierung in den Grundfragen des Lebens in einer veränderten Welt war ziemlich groß. Und in den Gesprächen konnte oft sehr plötzlich ein biblisch-theologischer Zusammenhang auftauchen, wenn es um die Frage nach den „Maßstäben des Menschlichen“ ging.

Dieser Bericht ist aus der Vergangenheit, aus einem ländlichen Pfarrhaus im Aufbruch der sechziger Jahre. Das Beispiel soll zeigen: Man kann Kirche nicht „für“ die Gemeinde entwickeln. Man kann Kirche nur mit der Gemeinde entwickeln. Im Beispiel mit einem „Entwicklerteam“ von 12 bis 15 bunt gemischten Gemeindemitgliedern wird Spiritualität mitten in der Gemeinde lebendig.

In der Industrie reden wir hier heute von einer grundlegenden Veränderung im Entwicklungsprozess – weg von der Hierarchie, hin zur einer „agilen Organisation“.

Das berührt auch das Führungsverständnis in der Organisation Kirche: Der Pfarrer und der Kirchenvorstand müssen ihre Leitungsaufgaben wahrnehmen. Das ist notwendig, damit alles was entwickelt worden ist, auch läuft. Und Kirche muss eine verlässliche Heimat für die christliche Gemeinschaft sein. Dazu gehört auch die Erklärung der Traditionen.

Kirche muss sich aber genauso auch ständig weiterentwickeln, um den Christen die spirituelle Heimat zu geben und zu versichern. Kirche darf nicht stillstehen. Diese Entwicklungsaufgabe ist Teil des Gemeindelebens. Die Gemeindemitglieder insgesamt sind die spirituellen Entwickler – nicht die Pfarrer allein und auch nicht der Kirchenvorstand allein.

Wenn es aber Pfarrer und Kirchenvorstand schaffen, der Gemeinde den vertrauensvollen Rahmen für die kontinuierliche Entwicklung zu geben, vielleicht auch: anzustiften, dann wird Kirche leben. Agil leben.

Es zeigt sich immer wieder, dass wir in der Welt, in der sich so viele Linien der Zumutungen und Erwartungen schneiden, einen Raum brauchen, in dem wir die Fragen der eigenen Lebensgestaltung und unserer Verantwortung partnerschaftlich besprechen können.

Dort liegt die Sehnsucht der Menschen.

 

 

Fritjof Schmidt (1969) hat seine volkswirtschaftliche Ausbildung immer als politische Wissenschaft verstanden. Die Faszination für betriebswirtschaftliche Projekte ergriff ihn zusätzlich während des Studiums und hat ihn seither nicht mehr losgelassen. Nach Stationen als nationaler, europäischer und globaler Strategiemanager bei Deutsche Post DHL gründete er 2010 die Managementberatung SOICON und 2017 die Digitalisierungsberatung DCCG, beide in Köln.

Als eingerückte Textteile sind Zitate seines Vaters Joachim Schmidt (1929-2012) aufgenommen. Nach evangelischem Pfarramt und Superintendentur leitete er das Pastoralkolleg Loccum. Die Zitate entstammen seinem Text „Wie bin ich zum Pastorenberuf gekommen“ (2008), in dem Erfahrungen von den vierziger bis in die siebziger Jahre verarbeitet sind.

 

 

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