022019

Foto: Miriam Espacio/Unsplash

Konzept

Ludger Verst

Der Homo hierarchicus

Über das Ende klerikaler Macht

Fast 2000 Jahre hat der römische Katholizismus das Abendland geprägt. Philosophische und theologische Entwürfe großen Stils haben weit über Europa hinaus die Welt geordnet und für ein klares Zukunftsbild gesorgt. Päpste, Kardinäle und Bischöfe konnten in den großen Fragen des Lebens ihre geistliche und politische Macht wirkungsvoll in Szene setzen. Monumentale Gotteshäuser und gelegentlich auch Gottesdienste erinnern noch an den Anspruch eines ehemals fast grenzenlosen Imperiums. Von diesem gewaltigen Anspruch ist im Leben der Kirche mit Ausnahme der Caritas so gut wie nichts mehr übriggeblieben. Ihr symbolischer Reichtum ist vordergründig noch von kulturellem Wert, ihre geistliche, ihre spirituelle Macht, die sie für alle verbindlich aus dem Göttlichen ableiten konnte, hingegen endgültig verspielt.

An die Stelle Jesu rückte die Bastion einer Männermacht

Die Gründe für den Niedergang der Kirche sind vielfältig; sie aufzuführen, sprengte den hier beabsichtigten Rahmen. Es sind nicht Managementfehler, die gemacht wurden. Und auch Gott ist nicht tot. Es sind vielmehr das Verständnis und die Handhabung von Gewalt und Macht. Hier liegt das Kernproblem einer Kirche, die, als hätte sie es vergessen, auf die Botschaft einer ganz und gar gewalt- und machtlosen Gründungs- und Identifikationsfigur zurückgeht. An die Stelle des Jesus von Nazaret rückte von Beginn an die Bastion einer Männermacht, die sich in allem Pragmatismus beim Gang durch die Zeit als freiheitsresistent erwies —, die als Antwort auf die Freiheitsforderungen der philosophischen Aufklärung schließlich die Schutzmauern eines bigotten Klerikalismus errichtete, in deren Innern der Klerus nun selbst zu ersticken droht: programmatisch, moralisch und kommunikativ ein Desaster. Der Umgang mit der Machtfrage entpuppt sich als eine einzige naiv getarnte, große Scheinheiligkeit.

 

Macht wird missbraucht, wenn sie zwar zum Dienst (ministerium) erklärt wird, den Dienst aber in einer Form geistlicher Herrschaft (sacra potestas) ausübt, die sich verabsolutiert.

„Macht wird missbraucht, wenn sie zwar zum Dienst (ministerium) erklärt wird, den Dienst aber in einer Form geistlicher Herrschaft (sacra potestas) ausübt, die sich verabsolutiert. Sie scheint dann zwar spirituell entmachtet, hat sich aber in Wahrheit selbst ermächtigt, um sich gegen Kritik und Kontrolle zu immunisieren. Sie beansprucht eine göttlich verliehene Vollmacht, übergeht aber, dass zwischen der Macht Gottes und ihrer menschlichen Bezeugung deutlich zu unterscheiden ist“, bringt es das Synodalforum „Macht und Gewaltenteilung in der Kirche“ in seinem im September veröffentlichten Arbeitspapier auf den Punkt.

Zu dankbarer Unterwerfung verpflichtet

Die in den Gewändern klerikaler Sprachspiele verborgene Arroganz der Macht verrät ein Verständnis von (göttlicher) Offenbarung, das sich vordergründig als „Déformation professionnelle“, hintergründig als eine „Metaphysik des starken Absenders“ (P. Sloterdijk) lesen lässt. Der besonderen Übermittlungsweise einer Offenbarung entspricht der besondere, sprich: (ein-)geweihte Übermittler: Er verpflichtet den Empfänger zu dankbarer Unterwerfung. In diesem Licht gesehen gehört das Konzept „Offenbarung“ zur Welt des homo hierarchicus. Es impliziert eine Analogie zwischen einem Feudalverhältnis, Herr und Diener, und einer Erkenntnisbeziehung, Objekt und Subjekt — bei klarem Primat von Herr und Objekt. Der Wille zum Glauben erscheint unter solchen Vorzeichen als eine Suche nach Dienst und Unterwerfung und weist den glaubenden „Laien“ ein in (s)eine gottgegebene Unterordnung. In der feudalen Welt hat man immer den homo hierarchicus zu fixieren versucht. In einer Welt hierarchisierter Beziehungen möchte man fromme Menschen hervorbringen, denen es leichtfällt, sich unterzuordnen, weswegen Partizipationsbestrebungen grundsätzlich gedämpft werden müssen — hin zum Idealismus einer kirchlichen Beamtenschaft, die in völliger Selbstlosigkeit nur dienend Macht ausübt.

Eine schöne Idee: dass die Macht selber unegoistisch werden soll, um die Welt besser zu machen

Was für die Ausbalancierung verschiedener im Menschen um Verwirklichung ringender Kräfte wünschenswert ist, führt(e) in der römischen Kirche zu einer Spiritualisierung von Macht, um sie sowohl gegenüber Kritik als auch gegenüber der Forderung nach Begrenzung, Kontrolle und Rechenschaftspflicht nachhaltig zu immunisieren. Kein Wunder also, warum das Modell einer hierarchischen Klerikerkirche mit diktatförmigem Verlautbarungsgestus in Gesellschaften, die durch Demokratisierung und Teilhabegerechtigkeit gekennzeichnet sind, zwingend scheitern muss(te).

Nicht mehr die Hierarchen urteilen und sprechen Recht; sie sind in Medien und sozialen Netzwerken längst selbst zu Verurteilten geworden

Inzwischen haben sich die sozialen Anerkennungsverhältnisse nahezu verkehrt. Nicht mehr die Hierarchen urteilen und sprechen Recht; sie sind in Medien und sozialen Netzwerken längst selbst zu Verurteilten geworden. Eine von Missbrauch und Skandalen überzogene Kirche erweist keinem Amtsträger mehr Ruhm und Ehre. Gehörten sie früher zu den Honoratioren des öffentlichen Lebens, zeigen sie inzwischen das Verhalten von Amputationspatienten, die statt über Kirchenvölker zu herrschen, zu Restgrößen eines abgewirtschafteten Systems geschrumpft sind. Ihr Autoritätsverlust wird selbst durch pastorale oder synodale Prozesse nicht mehr zu kaschieren sein.

Es ist ein einziger Phantomschmerz, der sich ausbreitet, weil etwas wehtut, das man nicht mehr hat: Macht.

Manche Bischöfe und Kardinäle, wie Burke und Brandmüller etwa, verhalten sich allerdings, als ob ihr Phantomglied namens Macht immer noch vorhanden sei. Für sie fühlt es sich sicher so an. Dabei sehen Außenstehende längst, dass ihr Gebaren zwar noch ein beträchtliches Eigenleben entfaltet, ihren Hirtenworten oder „Dubia“ aber so gut wie niemand mehr folgt.

Manche Bischöfe und Kardinäle, wie Burke und Brandmüller etwa, verhalten sich allerdings, als ob ihr Phantomglied namens Macht immer noch vorhanden sei.

Es bedarf keiner mutigen Prophezeiung mehr: Mit dieser Sozialgestalt von Kirche wird es in absehbarer Zeit zu Ende sein. Aus bischöflicher Sicht formuliert: „Wir selbst sind mit unserem Rollenspiel am Ende. Und weil wir es endlich ernst meinen, legen wir Mitra und Hirtenstab ab und kleiden uns nicht mehr wie in barockem Hoftheater. Denn im Grunde sind auch diese Utensilien längst entwertet und nicht mehr da; sie sind Teil dieses großen Phantomschmerzes. Wir Inhaber früherer Macht und Herrlichkeit sind lange schon nackt. Und dürfen es nun endlich einsehen.“

Erst wenn der Phantomschmerz als ohnmächtige Einbildung spürbar wird, werden die eigene Wut und der Zorn über den wahren Zustand der Kirche sich entladen, werden sie nach und nach sich in Trauer verwandeln können, die notwendig ist, wenn überhaupt etwas gesund und neu werden soll. Erst solcherart Desillusionierung dürfte heilsam sein. Sie könnte zu der Entdeckung führen, dass der Geist Gottes das Kleine und Unscheinbare groß macht, das Mächtige und Missbräuchliche aber entmachtet.

„Ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben“

Papst Franziskus selbst macht auf diese kleinen und unscheinbaren Schritte auf dem gemeinsamen Glaubensweg aufmerksam, wenn er schreibt: Es ist unmöglich, „sich eine Umkehr des kirchlichen Handelns vorzustellen ohne die aktive Teilnahme aller Glieder des Volkes Gottes. Mehr noch: Jedes Mal, wenn wir versucht haben, das Volk Gottes auszustechen, zum Schweigen zu bringen, zu übergehen oder auf kleine Eliten zu reduzieren, haben wir Gemeinschaften, Programme, theologische Entscheidungen, Spiritualitäten und Strukturen ohne Wurzeln, ohne Gedächtnis, ohne Gesicht, ohne Körper und letztlich ohne Leben geschaffen“ (Papst Franziskus, Schreiben vom 20.08.2018).

Es bedarf keiner mutigen Prophezeiung mehr: Mit dieser Sozialgestalt von Kirche wird es in absehbarer Zeit zu Ende sein.

Eine neue Solidarität im Kleinen und Zerstreuten könnte entstehen. Der Exodus gebiert bekanntlich die überzeugendsten Zeugnisse. Es wäre die Wiederbesinnung auf ein biblisches, ein jesuanisches Vermächtnis: „Ich war nackt, und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank, und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis, und ihr seid zu mir gekommen“ (Mt 25,36).

Die Befreiung aus der Gefangenschaft des Klerikalen und Bevormundenden wird durch den Geist Gottes begleitet sein, durch einen Geist, von dem es heißt, dass er „weht, wo er will“ (Joh 3,8). Wo dieser Geist weht, da ist Freiheit, da ist Zukunft für viele.

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