022019

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Konzept

Judith Klaiber

Wertvolle Machtdämmerung

War lange Zeit das Diktum eines demütigen Dienens, das existierende Machtverhältnisse verschleierte, vorherrschend, so wird neuerdings das Tabu gebrochen, über Macht in der römisch-katholischen Kirche zu reden. Kaum verwunderlich, angesichts der gestiegenen Sensibilität und des stärkeren Bewusstseins gegenüber Machteliten. Die gestiegene Sensibilität geht u.a. damit einher, dass die Selbstverständlichkeit von Macht für viele Menschen nicht mehr ohne Legitimation plausibel ist. Durch diesen Verlust treten Machtfragen offen in den Blick (vgl. Inhetveen 2009: 254). Folgt man der gängigen Definition von Max Weber im sozialwissenschaftlichen Diskurs über Macht, wird deutlich, dass Macht in sozialen Gefügen allgegenwärtig ist: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance besteht.“ (Weber 1972: 28). Macht ist damit ein durch und durch relationaler Begriff (vgl. Inhetveen 2008: 256) – und zunächst neutral in dem Sinne, dass keine positive oder negative Prägung dem Begriff inhärent ist. So betont u.a. Foucault die Produktivität von Macht und richtet sich „gegen die Auffassung von Macht als negativ und repressiv. Ihre Wirksamkeit erhält Macht eben [auch, Anm. JK] durch ihren positiv-produktiven Charakter“ (Inhetveen 2009: 261). Erst in Ausfaltung Richtung Herrschaft oder Gewalt, wird Macht gefährlich. Neutral betrachtet, ist Macht zunächst eine wirksame Möglichkeit zur Gestaltung von sozialen Gefügen und deren Rahmen.

Die Selbstverständlichkeit von Macht ist für viele Menschen nicht mehr ohne Legitimation plausibel

Ein solches soziales Gefüge ist die römisch-katholische Kirche. Sie versteht sich in ihrer „Gemeinschaft, Organisation und Institution“ (Qualbrink 2019: 22) selbst als „Zeichen und Werkzeug für die innigste Vereinigung mit Gott wie für die Einheit der ganzen Menschheit“ (LG 1). Das hat nicht nur Auswirkungen auf die Frage nach dem kirchlichen Leitungsverständnis, auf amtstheologische Fragestellungen, auf die Frage nach Verleugnung und Tabuisierung von Macht (dadurch gleichsam Stabilisierung und Erhaltung des status quo); sondern vielmehr hat es Auswirkungen auf die je individuelle Ausgestaltung inhärenter Machtpotentiale von Führungspositionen und deren ethischer Rückkopplung an die Frage nach einem guten Leben für möglichst viele.

Dieses gewissen Positionen inhärente Machtpotential wird, laut aktuellem empirischen Datenmaterial, von Führungspersonen aus dem nicht-kirchlichen Bereich jedoch selbst als ambivalent, gefährlich und kritisch gesehen. Insbesondere in Konfrontation mit dem je eigenen Wertesetting, das sich im Führungsverständnis und -alltag widerspiegelt. Fragen nach einem wertebildenden Umgang und einer gewissermaßen wertvollen Balance mit dem Machtpotential von Führungspositionen werden dabei hier wie da zu selten gestellt und noch seltener bearbeitet. Um diesem Desiderat ein wenig entgegenzuwirken, werden im vorliegenden Essay relevante Diskurse zu Macht, Leadership und Werten nachgezeichnet. So wird versucht die gestellten Leitfragen zu beantworten: Welche Wertekonzepte kennzeichnen die aktuelle Führungspraxis und den Umgang mit Macht? Welche Wertekonzepte sind für eine zeitgemäße Führung und einen angemessen Umgang mit Macht hilfreich?

Diskurse über Macht, Leadership und Werte

Macht

Der Macht-Begriff ist schillernd und kaum ein soziologisches Theoriekonzept kommt ohne den Rückgriff auf ihn aus. Hierin liegen für kirchliche/religiöse/theologische Reflexion relevante Bezugspunkte auf die Frage der Ausgestaltung des pilgernden Gottesvolkes mit dem Anspruch »Bei euch aber, soll es nicht so ein« (Mk 10,43): „Die Chancen, in Machtbeziehungen als Überlegener zu agieren, sind in keiner Gesellschaft gleich verteilt und sie sind nicht zufällig verteilt. In jeder sozialen Ordnung gibt es Prinzipien und Muster der Machtverteilung, der Bündelungen von Machtbeziehungen. Diese können sich zu überdauernden Mustern und schließlich zu Herrschaftsformen verfestigen.“ (Inhetveen 2009: 256). Die jahrelang scheinbaren Selbstverständlichkeiten in Bezug auf Autoritäten, Herrschaften und Machtverhältnissen brechen jedoch auf; nicht nur die römisch-katholische Kirche als Institution ist davon betroffen: Ungleichheiten und daraus resultierende Ungerechtigkeiten in Bezug auf Machtfragen werden sichtbar, Bestehendes wird hinterfragt, und Selbstermächtigung gewinnt einen hohen Grad an Qualität. Im bislang vorherrschenden »Verblendungszusammenhang« blieben Machtstrukturen unsichtbar. Widerstand war so lange unwahrscheinlich, bis die Menschen die Machtverhältnisse als solche erkannten, also „Machtverdacht“ schöpften (vgl. Inhetveen 2009: 260). Das ist hier und jetzt aber der Fall (Congar 1970): Betroffene merken, wie Macht ausgeübt wird. Mit Macht wird zugleich Potentialität und Faktizität bezeichnet und mit Hannah Arendt gesprochen, entsteht „Macht, wann immer Menschen sich zusammentun und gemeinsam handeln“. (Arendt 1970: 53).

Die Chancen, in Machtbeziehungen als Überlegener zu agieren, sind in keiner Gesellschaft gleich verteilt und sie sind nicht zufällig verteilt. In jeder sozialen Ordnung gibt es Prinzipien und Muster der Machtverteilung, der Bündelungen von Machtbeziehungen

„Tabu sind Machteffekte nur dort, wo Erwartungen und Ansprüche auf vernünftige Begründung das Feld beherrschen, und nur insoweit, als Macht-Diktate mit ihnen in Widerstreit geraten. Tabu ist die Rolle der Macht in organisationalen Entscheidungsprozessen, und zwar, wenn, weil und insofern sie erwartbarer, erwarteter Vernunft zuwiderläuft. (…) Legitimation dient einer Ökonomie der Macht. (…) Verhältnisse beschreiben, nämlich ‚den schleichenden Übergang von trivialer Gewalt über die Drohung mit Gewalt zu einer Form der Organisation von Ungleichheiten, die ihren Ursprung in Gewalt hinter der Fassade von Ordnung versteckt‘.“ (Ortmann 2012: 122)

Nicht nur wird die Kulisse der Machtverhältnisse brüchig, sondern das exklusive Gate-Keeping wird aufgebrochen. Dieser Mechanismus besagt, dass Themen und Fragestellungen von Menschen an wichtigen Kardinalspositionen wahrgenommen, aufgenommen und gegebenenfalls weitergegeben werden – aber nicht in jedem Fall. Diese Exklusivität beginnt sich zu fluidisieren: Menschen schaffen sich selbst ihre Gates (u.a. durch internetspezifische Dynamiken), verschaffen sich Gehör und Sichtbarkeit. Sie schaffen sich selbst ihren Raum, in welchem sie ihre Stimmen erheben und benötigen dazu keine als Türöffner*in funktionierende bzw. legitimierende Person, die ihnen das Stimmrecht erteilt. Das ist für eine Institution wie die römisch-katholische Kirche, die es lange Zeit gewohnt war, die Agenda alleinig zu setzen, eine Herausforderung. Die stattfindenden Aufbrüche innerhalb des Gottesvolkes wirken zugleich gegen Tabuisierung von Macht und fragen aktiv nach ihrer Legitimität.

Die stattfindenden Aufbrüche innerhalb des Gottesvolkes wirken zugleich gegen Tabuisierung von Macht und fragen aktiv nach ihrer Legitimität.

Von Heinrich Popitz stammt die Typologie der anthropologischen Grundformen von Macht. Er unterscheidet dabei zwischen Aktionsmacht, instrumenteller, autoritativer und datensetzender Macht. Die anthropologische Basis – insbesondere für die Aktionsmacht – liegt in der Verletzungsfähigkeit, Verletzungsoffenheit und in der Verletzungsphantasie von Menschen (vgl. Inhetveen 2009: 262f). Popitz hat darüberhinaus wichtige Kriterien für die Frage nach einem Institutionalisierungsprozess von Macht in Herrschaft herausgearbeitet: Entpersonalisierung von Macht und entpersonalisiertes Personengefüge mit geregelter Nachfolge, Formalisierung und gestiegene Regelorientierung von Macht und Grad der Integration von Macht in das soziales Ordnungsgefüge (vgl. Inhetveen 2009: 266f). Kriterien, die auf die römisch-katholische Kirche zutreffen und dabei das spezifisch christliche Menschenbild sowie die bereits angesprochenen amtstheologischen Grundlagen massiv anfragen. Hinzu kommt die spezifische Rolle von Religion in Machtfragen. Religion sei der soziale Ausdruck einer Beschäftigung mit einer nur der Religion eigenen Machtquelle und zwar der »heiligen Macht«: „Die heilige Macht kann zwar eine eigenständige Kraft sein, aber ihre Wirkmächtigkeit wird durch Ausrichtung auf die säkulare Macht gesteigert“ (Woodhead 2018: 94). Was aber bedeutet der Verweis auf die Ohnmacht des Kreuzes nach Sander?

„Keine christliche Rede von Gott kann an der Ohnmacht des Kreuzes vorübergehen, ohne das Zeugnis des Reiches Gottes zu verlieren, für das Jesus an diesem Kreuz gestorben ist. (…) Das Reich Gottes, von dem Jesus Christus erzählt, ist kein Machtereignis, im Sinne herkömmlicher Machterfahrungen. Es realisiert sich in der Gestalt einer Ohnmacht, deren Macht sich erst noch zeigen wird. (…) Ohnmacht, die nicht zum Untergang, sondern zu Formen der Auferstehung führt“ (Bucher 1999: 167)

Das Reich Gottes, von dem Jesus Christus erzählt, ist kein Machtereignis, im Sinne herkömmlicher Machterfahrungen. Es realisiert sich in der Gestalt einer Ohnmacht, deren Macht sich erst noch zeigen wird. (Bucher)

Leadership

Neben Eigenschafts-, Verhaltens- und Situationsansätzen werden Ansätze, in denen moralisch-ethische Argumente stärker berücksichtigt werden, wesentlicher. Haben sie doch durch vielfältige Wirtschafts- und Finanzkrisen sowie Unternehmensskandale einen gewissen Bedeutungsaufschwung erhalten. „In der Literatur über Ethik und Leadership werden persönliche Werthaltungen von Führungskräften und ihre Funktion als Triebfeder für die Verankerung ethischer Werte in der Organisationskultur diskutiert“ (Kirchler & Walenta, 2011: 488). Nicht nur, dass ethische Werte durch eine Person in ein ganzes Organisationssystem ausstrahlen können, sondern auch, dass sie für eine Auseinandersetzung auf personaler Ebene bedeutsam werden. So heißt es zum Beispiel in Peter Northouse’s Definition: „Leadership is a process whereby an individual influences a group of individuals to achieve a common goal“. Dabei sind vier relevante Momente für Führung bzw. Leadership zu finden (1) Einflussnahme, (2) Prozesshaftigkeit, (3) Intentionalität (teleologisch) und die (4) Relationalität von Individuen bzw. in Gruppen (Northouse, 2016: 6). Vor allem sind impact und influence als relevant zu markieren, üben doch Führungskräfte oftmals ein erhebliches Maß an Einfluss und Prägung auf ihre unmittelbare Umgebung aus, im Sinne der Gewinnung von Commitment auf ein (oder mehrere) Organisationsziele hin.

In ethisch-moralischen Theorien zu Führung wird der Spiritual Leadership Ansatz diskutiert, wobei u.a. Fry Spiritual Leadership als Zusammenfassung von Werten, Einstellungen und Haltungen definiert, die notwendig seien, sich selbst und andere intrinsisch zu motivieren, so dass ein Gespür für ein geistiges Überleben durch Gerufen-Sein und Zugehörigkeit entstehen könne (Gümüsay, 2018: 8). Wenn also theologisch von Leitung bzw. Führen die Rede ist, wird ein ganz bestimmtes relativierendes und relationales Axiom, die Existenz Gottes und dessen innerweltliche Wirkung, berührt. Das damit einhergehende Weltbild muss zwangsläufig mitbedacht werden: „Leitung hat ihren Ausgang in Gott: Gott ist und bleibt selbst der eigentliche Leiter. Und Leitung hat ihren Zielpunkt im Menschen, in dessen Heil“ (Schuster, 2001: 115). Dabei ist zu beachten, dass Leitung zwar immer einen „prinzipiellen Dienstcharakter“ impliziert, jedoch so, „dass das Wort vom ‚Dienen’ nicht bloß der Verschleierung von Herrschaft dient“ (Schuster, 2001: 117). So stehe nach Schuster im Zentrum von Leitung ethisch verantwortete Menschenführung und auf Einzelne Einfluss zu nehmen: „Dabei handelt es sich nicht um Gesetze, Vorschriften und Paragraphen, sondern um Orientierungshilfen zum Leben. (…) Darum ist Leitung theologisch gesehen vom nicht verfügbaren Geheimnis Mensch aus zu reflektieren“ (Schuster, 2001: 118).  Mit dem Anspruch „Orientierungshilfen zum gelingenden Leben“ zu geben, geht dieser theologisch formulierte Leitungsansatz klar über gängige Führungsdefinitionen hinaus und scheint m.E. für ein zukunftsfähiges Verständnis von Führung und Leadership bedeutsamer zu werden.

In Bezug auf die römisch-katholische Kirche bleibt zu fragen, in wie weit spezifische amtstheologische Denkmuster, strukturelle Machtbefugnisse und kirchenrechtlich-systemische Ausgestaltungen Persönlichkeiten mit Dark-Leadership-Motiven anziehen und deren „Karriere“ begünstigen.

Grundsätzlich wird in der Literatur jedoch von einer – im ethischen Sinne – guten Führungskraft ausgegangen, die idealiter das Wohl der Gesamtorganisation bzw. das Gemeinwohl im Blick hat. Die Bedeutung des Machtkonzepts und der personalen Einflussnahme von Führungspersonen tritt mittlerweile stärker in den Blick, was u.a. mit am Prozess der Dämmerung von Macht liegt. In diesen Macht-Einfluss-Ansätzen wird argumentiert, dass das gesellschaftliche Bild von Führungskräften scheinbar untrennbar mit Macht verbunden sei: Macht sei die Essenz von Führung – vor allem dann, wenn der »great-man Archetyp« der Führungskraft bedient werde (von Ameln & Kramer, 2012: 190). Eine weitere These besagt, dass eine ‚effektive‘ Führungskraft über ein hohes kontrolliertes Machtmotiv verfüge (Emmersberger, 2015: 6). So würden Machtmotivierte ein aggressiveres Verhalten zeigen, prestigeträchtige Objekte erwerben, Berufe und Positionen anstreben, bei welchen sie Kontrolle und Einfluss ausüben können, sie würden um Aufmerksamkeit buhlen und wären risikoreich (Emmersberger, 2015: 10). Aktuelles empirisches Datenmaterial zeigt allerdings einen hohen Grad an Ambivalenz und Aushandlungsbedarf hinsichtlich des Machtpotentials und der Machtfülle von bestimmten Führungspositionen; sowie das Bedürfnis das komplexe und herausfordernde Spannungsverhältnis von Verantwortung und Macht zu bearbeiten (vgl. Klaiber 2019). Zudem bedürfen asymmetrische und verschleierte Machtverhältnisse einer Bewusstseinsbildung und der notwendigen Anerkennung im Sinne eines »power with« nach Hannah Arendt. Die sogenannte „dunkle Seite von Führung“ wurde lange Zeit ignoriert und ist noch nicht umfassend erforscht (vgl. Furtner 2017: 27). Erste Arbeiten hierzu verwenden Begriffe wie unethische, destruktive, toxische oder missbräuchliche Führung. Der Dark-Leadership-Ansatz nach Furtner untersucht narzisstische, machiavellistische und psychopathische Führung. Deutlich wird, dass ein hohes (selbstsüchtiges) Machtmotiv und soziales Dominanzverhalten, Gefühls-/Herzlosigkeit, Unverträglichkeit im Sinne der Big-Five-Persönlichkeitseigenschaften, Unehrlichkeit und Selbstgefälligkeit der gemeinsame Kern für Dark Leadership sein könnten (vgl. Furtner 2017: 27f). Konkretisiert in Bezug auf die römisch-katholische Kirche bleibt zu fragen, in wie weit spezifische amtstheologische Denkmuster, strukturelle Machtbefugnisse und kirchenrechtlich-systemische Ausgestaltungen Persönlichkeiten mit Dark-Leadership-Motiven anziehen und deren „Karriere“ begünstigen.

Werte

Werte haben Konjunktur – insbesondere in alltagssprachlichen-gesellschaftlichen Diskursen. Der Begriff selbst stammt aus dem ökonomischen Kontext und wurde als „langfristiger Gleichgewichtspreis“ definiert (s. LThK3). Bis dahin war in philosophisch-theologischen Diskursen vielmehr von »Maximen«, »Tugenden«, »Prinzipien« und »Normen« die Rede; bis heute ist eine gewisse Distanz bei Philosoph*innen und Theolog*innen in Bezug auf den Werte-Begriff vorhanden. Paradigmatisch kann dies am Titel von Andreas Urs Sommers Essay aus 2016 aufgezeigt werden: „Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt.“ Die Grundproblematik spiegelt sich im Verhältnis von Pluralität und Universalität wider: Werte gibt es immer nur im Plural und zugleich bedürfen Werte unbedingt der Rückkopplung an die ethische Frage nach einem guten Leben für möglichst alle. Werte benötigen also einen Referenz- und Bezugsrahmen, um zu klären, ob ihre Lebbarkeit ethischen Ansprüchen gerecht wird oder nicht. Zugleich dynamisieren Werte menschliche Beziehungsgefüge, indem über den hohen Grad der Anschlussfähigkeit des Werte-Begriffs Menschen dazu aufgerufen sind, zu klären, was sie persönlich und ganz individuell als »wertvoll« erachten: wie sie also einen Be-Wertungs-Prozess setzen.

Werte sind aber nicht statisch fixiert, sondern vielmehr eine wandelbare, d.h. kulturell, geschichtlich abhängige, erfahrungs- und alltagsbezogene Größe. Werte werden deshalb u.a. als Konzepte des Wünschenswerten definiert (Joas 1997; Schwartz 1992). Seit den 1970er Jahren ist die Werte- und Wertewandelforschung stärker differenziert worden. Als Orientierungssystem kann dabei zunächst folgendes Schema (Polak 2009) verwendet werden:

  • Milton Rokeach (1968; 1973; 1979) unterscheidet Terminalwerte (Frieden, Gerechtigkeit, Freundschaft) von instrumentellen Werten (Ehrlichkeit, Treue, Pflichterfüllung, gutes Benehmen). Während der erste Typus Werte benennt, die von vielen Menschen als Ziele definiert werden, bezeichnet der zweite Typus Handlungsanweisungen zur Erreichung der erwünschten Endzustände.
  • Helmut Klages (1985; 1992) differenziert Werte nach Art der Erziehung und Akzeptanz. Sie konstatieren einen Wandel von Pflichtwerten (Fleiß, Ordnung, Disziplin) hin zu Akzeptanzwerten (Selbstverwirklichung, Unabhängigkeit, Genuss).
  • Ronald Inglehart (1989; 1998) unterscheidet zwischen materialistische Werten (Sicherheit, Wirtschaftswachstum, nationale Ordnung) und postmaterialistischen Werten (Beteiligung und Mitsprache, freie Meinungsäußerung).

    Der Prozess der Wertebildung ist an mindestes drei Dimensionen aufgespannt (Fónyad-Kropf 2013): Eingebundenheit in Erfahrungsprozesse, Eingebundenheit in Diskussion und Reflexion sowie eingebunden in die ethische Rückkopplung an die Frage nach einem guten Leben.

Den hohen Grad der Kontextabhängigkeit sowie der Passung zu individuellen Lebensrealitäten von Werten können aber auch diese Orientierungsschemata nicht nivellieren, weshalb m.E. die Definition von Banks (2012) stimmiger ist: „… values can be regarded as particular types of belief, that people hold about what is worthy or valuable.“ Hierin wird die Deutungshoheit und Deutungsmacht in Bezug auf den Wertebegriff beim Individuum belassen. Die Definition kommt keiner Relativierung gleich, sondern nimmt vielmehr die einzelne personale Perspektive in wohlwollender und würdiger Weise wahr und ernst. Der Prozess der Wertebildung ist an mindestes drei Dimensionen aufgespannt (Fónyad-Kropf 2013): Eingebundenheit in Erfahrungsprozesse, Eingebundenheit in Diskussion und Reflexion sowie eingebunden in die ethische Rückkopplung an die Frage nach einem guten Leben. Werte entstehen in Situationen der Selbsttranszendenz, wir werden emotional ergriffen (Joas 1999). Wertebildung nimmt biographisch-individuelle Erfahrungen und kollektiv-kulturelle Maßstäbe ernst, führt in (sozial-)ethische Bewertungsmuster ein und fördert eine mündige, handlungsfähige und eigenständige Passung des je eigenen Werte-Settings. In theologischer Ausrichtung ist Wertebildung zudem nicht nur ein intellektueller Akt, sondern »existentiell«; sie betrifft also alle Dimensionen und Tiefen des menschlichen Lebens und hilft zur Herausbildung einer „differenzsensiblen Verständigung“ (Polak 2019: 298).

Resümee und Ausblick

Nur ansatzweise konnte aufgezeigt werden, dass die Reflexion auf das je eigene Werte-Setting, das eigene Machtverständnis in Führungskontexten in steigenden Komplexitäten, wachsenden Unsicherheiten und größeren Diversitäten unabdingbar ist. Daher in aller Thesenhaftigkeit ein Resümee:

  • Führung ist alltäglich mit Machtfragen konfrontiert und benötigt Raum für intra- und interpersonale Aushandlungsprozesse.
  • Führungspersonen stehen ihrer eigenen Machtfülle durchaus kritisch gegenüber und nehmen diese teilweise eher ablehnend als affirmativ an.
  • Es braucht notwendigerweise ein Korrektiv und Regulativ um Machtausübung zu kontrollieren.
    • Das könnte der Verweis auf die »Ohnmacht am Kreuz« sein, aber ohne die ganz weltliche Ausdehnung von Macht zu spiritualisieren und damit zugleich unantastbar bzw. unveränderbar zu machen.
  • Vielmehr ist ein kritisches Bewusstsein über das eigene Werte-Setting ein Bewertungsmaßstab, um sensibilisiert mit Machtfragen umgehen zu können.
  • Differenzsensibilität und Ambiguitätstoleranz sind unabdingbare Kompetenzen für Führungskräfte.
  • Zur Ausbildung dieser Kompetenzen benötigt es kritische aber zugleich wohlwollende Resonanz, Reflexion und Begleitung.
  • Die notwendige Anerkenntnis der positiven Dimension von Macht und ihrer Produktivität, bei aller Klarheit über die verschiedenen Zuständigkeiten.
  • Es ist gut und wichtig, dass Tabuisierung und Verschleierung von Machtverhältnissen (und damit Abhängigkeiten) ein Ende finden; sodass eine offene, transparente, aufgeklärte, zeitgemäße und mündige Bearbeitung des Themas für alle Betroffenen möglich ist.
  • Es braucht die anthropologische Dimension mit der Frage danach, wer meine Nächste ist und ob ich ihr wirklich auf Augenhöhe und mit Respekt sowie Vertrauen in ihre Perspektive umgehe.

Literatur in Auswahl

  • Ameln von, F. / Kramer, J. (2012): Macht und Führung. Gedanken zur Führung in einer komplexer werdenden Organisationslandschaft, in: Gruppendynamik und Organisationsberatung 2 (43), 189-204.
  • Arendt, H. (1970): Macht und Gewalt. Piper: München.
  • Banks, S. (2012): Ethics and Values in Social Work. Red Globe Press: Basingstoke.
  • Emmersberger, A. (2015): Führungsverhalten aus Sicht der Motivforschung. Die Motive Macht, Leistung und Anschluss und die Wirksamkeit von Leadership-Trainings. Hamburg: Diplomica Verlag.
  • Fónyad-Kropf, E. (2013): Wo bilden sich Werte? Orte der Wertebildung in Institutionen und Organisationen. Skizzen (trans-)disziplinärer Forschung. Unveröffentlichtes Manuskript: Wien.
  • Friesl, C. et al. (2009): Die Österreicher/innen. Wertewandel 1990-2008. Czernin: Wien.
  • Fry, L. (2003): Toward a theory of spiritual leadership, in: The Leadership Quarterly 6 (14), 693-727.
  • Gümüsay, A. (2018): Embracing religions in moral theories of leadership, in: Academy of Management Perspectives. Im Erscheinen.
  • Inhetveen, K. (2008): Art. Macht, in: Baur, Nina et al. (Hrsg.): Handbuch Soziologie. Springer: Wiesbaden.
  • Klaiber, J. (2020): WerteBildung in Führung. Eine pastoraltheologische Studie zur Rolle von Werten bei Führungskräften und dem Design einer wertebildenden Führungskräftepastoral, in: Angewandte Pastoralforschung Bd. 8. Echter: Würzburg.
  • Kirchler, E. et al. (2011): Arbeits- und Organisationspsychologie. WUV: Wien.
  • Ortmann, Günther (2012): Macht in Organisationen und die Bürde des Entscheidens. Zehn theoretische Einsichten für die Praxis, in: Gruppendynamik und Organisationsberatung 2 (43), 121-136.
  • Qualbrink, Andrea (2019): Pressegespräch „Studie Frauen in Leitungspositionen“, Frühjahrs-Vollversammlung der DBK, Lingen; abrufbar unter: URL
  • Sander, Hans Joachim (1999): Macht der Ohnmacht. Eine Theologie der Menschenrechte, in: Quaestiones disputatae, Bd. 178. Herder: Freiburg i. Br.
  • Schuster, N. (2001): Theologie der Leitung. Zur Struktur eines Verbundes mehrerer Pfarrgemeinden. Matthias Grünewald: Mainz.
  • Sommer, Andreas Urs (2016): Werte. Warum man sie braucht, obwohl es sie nicht gibt. J.B. Metzler: Stuttgart.
  • Verwiebe, Roland (2019) Hrsg.: Werte und Wertebildung aus interdisziplinärer Perspektive. Springer: Wiesbaden.
  • Woodhead, Linda (2018): Geschlecht, Macht und religiöser Wandel in westlichen Gesellschaften. Herder: Freiburg i. Br.

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