022019

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Konzept

Jan-Christoph Horn

Was ist Macht? Sozialwissenschaftliche und organisationstheoretische Hinweise

Macht als anthropologische Grundkonstante

Macht ist präsent. Sozialwissenschaftlich spricht man von Macht als anthropologischer Grundkonstante. Macht findet im sozialen Raum statt – ob man will oder nicht. Denn soziale Prozesse finden in einem beschreibbaren Raum statt, der mit den Achsen Status, Differenz und Selbstwirksamkeit aufgemacht sein kann. Egal, wo man in dieser Karte seinen Punkt setzt: Status, Differenz und Selbstwirksamkeit stehen immer in einer Wechselwirkung zueinander, die früher oder später umgangssprachlich als “Macht über jemanden haben” beschrieben wird.

Auch in diesem Moment haben Sie als Leser*in die Macht zu entscheiden, ob Sie sich von den ersten Worten dieses Text ansprechen haben lassen und Sie weiterlesen werden oder nicht. Das hängt auch davon ab, ob Sie mir als Autor eine gewisse Macht über Sie zugestehen – halt etwas mit Ihnen „zu machen“.

Willkommen.

Die systemische Funktion von Macht? Macht ordnet die Dinge, reduziert Komplexität, absorbiert Unsicherheit. Sie können sich ja nicht ewig damit aufhalten zu entscheiden, ob Sie jetzt weiterlesen oder nicht.

Macht ist kein Problem, sondern eine Lösung.

Mit Macht kann man etwas gestalten, eben: etwas machen. Aber dieser Machteinsatz und -einfluss ist ein Spannungsfeld.

Macht ist nicht einfach gut oder schlecht. Im Filmepos Star Wars, vor langer Zeit in einer weit entfernten Galaxis, sagte man: Es gibt eine helle und eine dunkle Seite der Macht. Der Ausspruch „Möge die Macht mit dir sein“ ist dort ein Segenswort. Die Botschaft dahinter lautet: „Macht ist ein Vermögen.“ (Helmut Popitz) Mit Macht kann man etwas gestalten, eben: etwas machen. Aber dieser Machteinsatz und -einfluss ist ein Spannungsfeld.

Schauen wir mal hin.

Prozesse der Machtbildung

Heinrich Popitz nennt verschiedene Prozesse der Machtbildung:

  • Die Macht der Ordnungssicherheit – Beispiel: Dem Staat wird zugesprochen, für Stabilität zu sorgen.
  • Die Macht überlegener Organisationsfähigkeit – Beispiel: Der Flottenkommandant übernimmt die Funktion des Leitschiffes für eigentlich souveräne Kapitäne, die einen Teil ihrer Kompetenz dafür abgeben. Anderes Beispiel: Es gilt die Regel, dass der Schiedsrichter entscheidet, weil nur so das Spiel funktionieren kann.
  • Die Macht der Solidarität – Beispiel: In Nachbarschaften räumt man sich gegenseitig Rechte ein. “Wie du mir, so ich dir”. Und Flüchtlinge erhalten Einfluss auf gesellschaftliche Wirklichkeit, weil man sich empathisch mit ihnen verbindet.
  • Die Macht eines Investitionswertes – Beispiel: Mitarbeiter unterstellen sich der Unternehmensführung, die ihrerseits für den Erhalt des Unternehmens und damit der eigenen Arbeit zu sorgen haben.
  • Machtgewinn durch strategische Staffelung – Beispiel: Die AfD ist gut darin, durch kleine Schritte, die jeder für sich unbedeutend und sogar lachhaft erscheinen, an Einfluss zu gewinnen.

Wer die Möglichkeit hat, die Unsicherheit anderer durch seine Entscheidung zu steigern oder zu verringern, hat Macht über sie.

Macht entsteht im sozialen Raum also, indem man sie teilt oder abgibt oder in ein System tritt, in dem man bereits Regulierungen vorfindet. „Macht wird verliehen.“ (Dacher Keltner) Wer etwas zu vermögen vermag, wird formal oder informell, bewusst oder unbewusst von anderen zugesprochen. Es gibt eine Akzeptanz in die Asymmetrie von Beziehungen, irgendwelche guten Gründe dafür. Dies gilt auch in der Zuspitzung, dass man gezwungen sein kann, in ein System mit einer dem Einzelnen vorgegebenen Machtlogik hineinzutreten. Der “gute Grund” muss ja nicht für jeden einsichtig sein.

Fritz B. Simon zieht im Rückgriff auf Niklas Luhmann die definitorische Grenze enger, wenn er schreibt, dass Macht dort entsteht „wo ein Entscheider über Unsicherheit anderer in Bezug auf seine eigene Entscheidung disponieren kann.“ Wer die Möglichkeit hat, die Unsicherheit anderer durch seine Entscheidung zu steigern oder zu verringern, hat Macht über sie. Dies schließt ein, dass dieser auch die Bedingungen dafür schaffen kann, dass die Unsicherheit überhaupt erst entsteht. – Wer mag da an die Kirche und ihre transzendent legitimierte Normalitätskonstruktion denken …?

Was für ein Club.

Die dunkle und die helle Seite der Macht

Die „helle Seite“ – Macht auszuüben bedeutet, etwas in der Welt zu verändern – steht also in einer unlösbaren Spannung zu ihrem Preis – alle Machtanwendung ist Freiheitsbegrenzung –, was eine ethische und normative Implikation mit sich bringt: Jede Macht ist rechtfertigungsbedürftig. Zudem gilt – und das hat in einen kirchlichen Kontext hineingesprochen Bedeutung: Machtordnungen sind nicht gottgegeben. Macht „passiert“ zwar unmittelbar, wird aber – und sei es im Bruchteil von Sekunden – ausgehandelt.

Und das heißt: Lass uns drüber reden.

Das Nutzen der Macht eines Augenblicks oder einer gesellschaftlichen Situation zum Sprung in einen anderen Zustand nennt man entweder Genialität oder Wahnsinn.

In der Geschichte der Menschheit diente Macht dann auch sowohl emanzipatorischer Entwicklung (… die Macht des Volkes gegenüber den machtvollen Herrschern) sowie diktatorisch-unterwerfender Repression (… die Macht einer totalitären Institution gegenüber ihren Mitgliedern). Das Nutzen der Macht eines Augenblicks oder einer gesellschaftlichen Situation zum Sprung in einen anderen Zustand nennt man entweder Genialität (Steve Jobs) oder Wahnsinn (Adolf Hitler). Das Aufbegehren gegen Macht nennt man, je nach Perspektive, entweder Mut oder Revolte.

Die Macht der Führung in Organisationen

In Organisationssystemen, auch in Kirche, wird Macht mit Mächtigkeit und deshalb verbunden mit der Führung erlebt. Warum ist das so?

Der Organisationssoziologe Stefan Kühl definiert Macht in Organisationssystemen als an die hierarchische Rolle der Führung/Leitung gebundenes Regulierungsprinzip der komplexen Führungsdynamik von Organisationssystemen. „Eine der wichtigsten Funktionen von Hierarchie ist, dass sie Kommunikation überflüssig macht“, so Fritz B. Simon. Die systemische Beraterin Mechthild Erpenbeck beschreibt an eine Führungskraft gebundene Machtausübung als Folge einer Grundentscheidung in funktionalen Bezügen: „Bis auf Weiteres ist Hierarchie als formales Ordnungsprinzip eine, wenn auch ziemlich angestaubte, so doch noch immer halbwegs praxistaugliche, zumindest aber real existierende Form, Komplexität zu reduzieren.“

Was sind die Vorteile der Machtdelegation an Führung – oder besser gesagt: die Delegation von Macht an durch Personen getragene Rollen, die man dann Führung nennt, weil sie Entscheider über die Unsicherheit anderer werden – für Organisationen? Mit Stefan Kühl:

  • Die Zwecke der Organisation lassen sich unabhängig von der persönlichen Achtung der Führungskraft durchsetzen. Führungskräfte können es sich ersparen, in jedem Einzelfall den Untergebenen die Sinnhaftigkeit einer Anweisung deutlich zu machen.
  • Ungewohntes, aber für die Ausrichtung an der Umwelt gefordertes, kann durchgesetzt werden.
  • Die Führung/Leitung übernimmt eine Überwachungsfunktion zugunsten der Zwecke der Organisation.

Auf der Kehrseite steht an Nachteilen:

  • Faktisch fallen Informationen über die Umwelt der Organisation nicht nur „oben“ an. Damit kann systemrelevantes Wissen verloren gehen, nicht gesehen werden oder zu spät bei Entscheidern ankommen.
  • Der Vorteil der Trennung zwischen Rolle und Person kann ins Gegenteil umschlagen, indem nämlich die Person die ihr zugewiesene Kompetenz persönlich ausnutzt und für das eigene Bedürfnis nach Selbstwirksamkeit die Selbstwirksamkeit anderer einschränkt. Hier – wenngleich nicht nur hier – entsteht Machtmissbrauch.
  • Koordination durch Führung verliert ihre Notwendigkeit in Situationen, in denen genug Zeit zur Kommunikation gegeben ist.
  • Grundsätzlich paradox ist, dass die Führung ihre Funktion in dem Moment verloren hat, in dem sie installiert wurde. Wo es keine ungeordnete Kommunikation mehr gibt, braucht es kein Ordnungssystem. Entfällt das Ordnungssystem allerdings, geht es wieder „drunter und drüber“. Diese Paradoxie führt auch zum Stressphänomen der Wechselseitig von Überwachung (Chef > Mitarbeiter) und Unterwachung (Mitarbeiter > Chef).

Das Postulat der machtfreien Organisation ist eine gefährliche Verleugnung

Aber wenn Macht in Organisationen einer Entscheidung zur Komplexitätsreduktion vorausgeht, könnte es mit der Führung/Leitung von Organisationssystemen nicht auch anders gehen? Wenn man eine andere Weise findet, die komplexe Führungsdynamik zu bearbeiten?

Ja, sagt Stefan Kühl. „Theoretisch könnte man die Ausbildung von Führung in Organisationen dem freien Spiel der Kräfte überlassen. Die Rangordnung in einer Organisation könnte bei jeder Entscheidung immer wieder neu ausgerangelt werden. Jeder Mitarbeiter, jede Mitarbeiterin müsste dabei begründen, warum gerade sie in dieser Frage eine Führungsrolle zu übernehmen beansprucht. Abhängig von der jeweils im Mittelpunkt stehenden Sachfrage könnte mal der einem mal der andere Mitarbeiter ‚in Führung‘ gehen.“

Macht nicht austreiben, sondern ihren Fokus, ihr Objekt und damit ihre Spielweise, die Machtlogik verändern, in dem die Ziele der Organisation reformuliert werden.

Verblenden sollte man sich vom ‚freien Spiel der Kräfte‘ aber nicht, so Mechthild Erpenbeck eindringlich: „Seit auf allen Fahnen ‚Wertschätzung‘, ‚Eigenverantwortung‘ und ‚Partnerschaftlichkeit‘ steht, alles irgendwie ‚Team‘ heißt, wird der explizite Diskurs über Macht zunehmend als politisch inkorrekt angesehen. So entstehen Tabus. Alles, was mit Macht oder Rangordnung zu tun hat, wird kurzerhand aus der Selbstbeobachtung ausgeschlossen. Als würde es das nicht mehr geben, wenn man es nicht mehr so nennt.“

Dem ist zuzustimmen, angesichts des Diskurses um alternative Organisationsmodelle (Soziokratie, Frederic Laloux, Bernd Oesterreich) und seinen innerkirchlichen Spiegelungen. Den Diskurs zu führen ist sinnvoll, aber hat dann auch ein Diskurs über Organisationsmodelle von Macht zu sein. Das ist er noch zu wenig.

Ein Anweg dazu, veränderte Machtprozesse in Kirche zu gestalten, verbirgt sich in dieser unbescholten daherkommenden Aussage von Fritz B. Simon: „Die faktische Macht in Organisationen hat immer der, dessen Funktion für das Überleben oder die Zielerreichung der Organisation bzw. ihrer Untereinheiten weniger austauschbar ist als die des anderen.“ Das heißt: Macht nicht austreiben, sondern ihren Fokus, ihr Objekt und damit ihre Spielweise, die Machtlogik verändern, in dem die Ziele der Organisation reformuliert werden. Beispielsweise, wenn nicht mehr das „Heil der Seele“ (also das von ihr abzuwendende Unheil), sondern der Sinn des Lebens (also die Umformung des ganzen anzutreffenden Unsinns in den Lebensbezügen) im Mittelpunkt kirchlichen Lebens steht. Rückt dieses (zugegeben simplifizierte) Ziel in den Fokus, braucht es Vereinbarungen, wie diese erreicht werden. In Folge dessen gäbe es auch Machtprozesse – freilich keine ethisch besseren (denn Macht bleibt Macht), aber andere, vermutlich an das heutige Referenzsystem adaptivere. Machtprozesse, deren Bedingungen im Kontext unseres Moments von Kirche in der Einwohnungsgeschichte Gottes bei den Menschen Einsichtig sind.

Damit wäre viel gewonnen.

Finale: Das Macht-Paradox

Dacher Keltner, der bei aller Paradoxität die positiven Möglichkeiten des Gebrauchs von Macht hervorhebt, hat 20 Prinzipien der Macht formuliert. Diese eignen sich zur weiteren Aneignung des Themas – sowohl zur Auseinandersetzung in Prozessen der Organisationsentwicklung als auch für Führungskräfte zur Selbstreflexion, z.B. im Rahmen von Supervision und Coaching.

  1. Macht bedeutet, den Status anderer zu ändern.
  2. Macht steckt in jeder Beziehung und in jeder Interaktion.
  3. Macht steckt in all unseren Alltagshandlungen.
  4. Macht gewinnen wir, indem wir die anderen in den sozialen Netzen stärken und ihnen Macht verleihen.
  5. Gruppen verleihen denen Macht, die das Gemeinwohl fördern.
  6. Gruppen verleihen Ansehen, das die Einflussmöglichkeiten bestimmt.
  7. Gruppen belohnen die, die mit ihrem Status und ihrem Ansehen das Gemeinwohl fördern.
  8. Gruppen bestrafen die, die das Gemeinwohl mit Klatsch untergraben.
  9. Dauerhafte Macht erwächst aus Empathie.
  10. Dauerhafte Macht beruht auf Geben statt Nehmen.
  11. Dauerhafte Macht beruht darauf, Dankbarkeit zu zeigen.
  12. Dauerhafte Macht beruht darauf, Geschichten zu erzählen, die zusammenführen.
  13. Macht führt zu Defiziten an Empathie und moralischem Handeln.
  14. Macht für zu einem eigennützigen, impulsiven Wesen.
  15. Macht führt zu Unhöflichkeit und Respektlosigkeit.
  16. Macht führt zu überheblichen Geschichten von Einzigartigkeit.
  17. Machtlosigkeit heißt, permanent Bedrohungen vor Augen zu haben.
  18. Stress führt zur Erfahrung von Machtlosigkeit.
  19. Machtlosigkeit untergräbt die Fähigkeit der Einzelnen, zur Gesellschaft beizutragen.
  20. Machtlosigkeit macht krank.

Verwendete Literatur

  • Mechthild Erpenbeck: Wirksam werden im Kontakt. Die systemische Haltung im Coaching. Carl Auer, 2018.
  • Dacher Keltner: Das Machtparadox. Campus, 2016.
  • Stefan Kühl: Organisationen. Eine sehr kurze Einführung. VS, 2011.
  • Heinrich Popitz: Phänomene der Macht. Mohr Siebeck, 1992.
  • Fritz B. Simon: Einführung in die systemische Organisationstheorie. Carl Auer, 2018.

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