012021

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Bonustrack

Heinzpeter Hempelmann

Warum die Kirche keine Zukunft hat

11 Provokationen1

Persönliche Vorbemerkung

Dieser Text hat schon vor seiner Veröffentlichung Kontroversen ausgelöst. Ich rechne damit, dass er auch bei den Lesern der futur2 auf ebenso energischen, teilweise empörten Widerspruch stoßen wird wie auf dankbare Zustimmung. Möglicher Hauptangriffspunkt ist die notwendigerweise flächige, weit ausgreifende und nicht um tausend Differenzierungen bemühte Darstellung, die auch als gewalttätig, unfair und ungerecht empfunden wurde. Ich nehme diese möglichen Einwände hier bewusst vorweg und entwaffne mich damit ein Stück weit selber. Ich habe mich trotz der polarisierenden Wirkung, ja sogar wegen ihr zum Abdruck entschlossen. Und das vor allem aus einem Grund:

Es fehlt das Gesamtbild, das letztlich handlungsleitend und zielgebend sein muss.

  • Der moderne Diskurs, auch der über die Kirche, ist gekennzeichnet durch das Bemühen um Differenzierungen. So notwendig diese an ihrem Ort sind, so sehr kann Diskurs – auch der über und in der Kirche – eine im Endeffekt lähmende Wirkung entfalten. Schlicht formuliert: Man sieht vor lauter Bäumen, Ästen und Blättern den Wald nicht mehr. Technisch-administrativ gesprochen: Man versucht die noch bezahlbaren Immobilien gerecht auf die Gemeinden zu verteilen und entsprechend umzurechnen, und bemerkt nicht, was die Schließung von Kirchen für die Gesellschaft „bedeutet“; man versucht, die noch besetzbaren und bezahlbaren Pfarrstellen auf die immer kleiner werdende Zahl von Kirchenmitgliedern umzurechnen und in immer kürzeren Abständen das parochiale Netz neu zu stricken, und bemerkt nicht, dass es an vielen Stellen schon gerissen ist oder zu zerreißen droht. Es fehlt das Gesamtbild, das letztlich handlungsleitend und zielgebend sein muss. Bleibt es allein beim analytisch-kritischen Diskurs, kommt es nicht zum Tun, das die notwendigen Veränderungen bringt, und diese gehen eben nicht in rein technisch-administrativen Maßnahmen auf. Ein Pfarr-Plan ist eben noch kein Fahr-Plan. Umgestaltung setzt den Mut zum Risiko1 eines – ungeschönten – Gesamtbildes voraus. Ich könnte mir selbst bei jedem der 11 Gründe, warum diese Kirche keine Zukunft hat, x-fach in den Arm fallen, seitenweise Differenzierungen vornehmen und – verstummen.2 Ich möchte aber nicht mehr nur Bäume, Blätter, Äste zeigen, sondern den Wald selber sichtbar machen. Dabei schreibe ich nicht nur aus einer engagierten Insiderperspektive3, sondern beziehe auch das mit ein, was mir seit Jahren in Begegnungen außerhalb der kirchlichen Hauptamtlichen- und Funktionärsszene an Einschätzungen, Anfragen und Kritik begegnet.

So sehr wie sich die einen – in Kirchengemeinden oder aber auf Kirchentagen dominierenden Milieus – wohl fühlen, so klar spüren die anderen, die allermeisten: Das ist nicht unsere Welt.

Das Resultat ist ein Wucht-Text, aber kein Wut-Text; apodiktisch im Ton, ohne Ausreden und Schminke, sicherlich korrektur- und ergänzungsbedürftig, mindestens aber ein Versuch, verschiedene Gründe zu benennen, warum evangelische Kirche in dieser Gesellschaft immer mehr an Gewicht verliert, und sich dabei nicht auf die bekannten religionssoziologischen und soziokulturellen Rahmenbedingungen zurückzuziehen. Meine Überzeugung ist: So geht es nicht weiter. Dabei soll es aber auch von meiner Seite aus nicht bleiben. In einem bewusst zweiten, separaten Schritt, möchte ich in einer in Kürze erscheinenden Veröffentlichung4 benennen, unter welchen operationalisierbaren Bedingungen auch eine evangelische Kirche eine Zukunft hat. Diese Vorschläge und die ihnen voraussichtlich folgende Diskussion soll der vorliegenden Analyse aber nicht die Kraft nehmen.

(1) Kirche hat keine Zukunft, weil sie kommunikativ ihre Anschlussfähigkeit verloren hat.

Sie erreicht nur noch drei Lebenswelten in unserer milieufragmentierten Gesellschaft. Im SINUS-Sprech sind dies die bürgerliche Mitte, vor allem natürlich die Traditionsorientierten und – in Teilen – sozial-ökologisch bewegte Menschen. Sie sehen in der Kirche ihre Heimat und fühlen sich in ihr wohl. Sie dominieren das kirchliche Leben und prägen ihm ihren Stempel auf. Das Resultat, sattsam bekannt, aber wenig beachtet: So sehr wie sich die einen – in Kirchengemeinden oder aber auf Kirchentagen dominierenden Milieus – wohl fühlen, so klar spüren die anderen, die allermeisten: Das ist nicht unsere Welt. Wolfgang Huber spricht von der Milieugefangenschaft5 der Kirche.

In der Kirche dominiert immer noch die „Komm-Struktur“.

So sehr die einen inkludiert sind, so sehr wissen sich die anderen exkludiert. Die nach beiden Seiten wirksamen Distinktionsschranken tun ihr Übriges. Kirche ist entgegen ihrem Anspruch und Selbstverständnis nicht „für alle da“.

Kirche wird mit einem Milieu identifiziert, zu dem man definitiv nicht dazu gehören möchte. Konservativ-Etablierten ist Kirche und Gottesdienst einfach zu schlicht, Liberal-Intellektuellen ist sie zu unkritisch und unreflektiert, Performern zu unbeweglich, Expeditiven zu langweilig, Hedonisten ein Ort der Regeln und ohne Spaß u.s.w., u.s.f. Kommunikationsbarrieren kommen dazu. Menschen bewegen sich heute je nach Milieuzugehörigkeit in unterschiedlichen Medien, an ganz unterschiedlichen Orten, lassen sich von sehr unterschiedlichen Zeitbegriffen leiten, leben in sehr unterschiedlichen Sprachwelten, richten sich ein in krass gegensätzlichen Ästhetiken u.s.w. Wer sie erreichen will, muss sich jeweils auf sie einstellen. Heutige Kommunikationskonzepte tun genau dies. In der Kirche hat man das nicht nötig. In ihr dominiert immer noch die „Komm-Struktur“. Die Kirchengebäude und kirchlichen Immobilien wie Gemeinde- und Pfarrhäuser sind ja da. Sie müssen bespielt werden.

Das wird nicht immer so krass ausgedrückt wie im Votum des Pfarrers, der auf die Frage nach adressaten- und zielorientierten Veranstaltungen die Antwort gab: Wir machen doch schon jeden Sonntag Gottesdienst für alle.

Ein halbes Jahrhundert Gemeindeaufbau- und Gemeindeentwicklungsprogramme haben als unhinterfragte Voraussetzung die „Komm-Struktur“. Auch für die ausgesprochen attraktionalen Programme gilt: Die Leute sollen in die Kirche, den Gottesdienst, in die kirchlichen Immobilien kommen. Alles andere wäre ja auch keine kirchliche Veranstaltung, kein „richtiger“ Gottesdienst u.s.w. So verliert man gerade die nachwachsende Generation, vermutlich auch schon einen erheblichen Teil der jetzt mittleren Generation. Junge Menschen gehen nicht in Kirche und Gemeindehäuser, wenn sie nicht müssen. Und nach der Konfirmation, zu deren Vorbereitung sie mussten, müssen sie nicht mehr. Die Komm-Struktur ist zum einen im immensen finanziellen Aufwand sichtbar, den diese steinreiche Kirche für ihre Immobilien treibt, von denen sie sich nur sehr schwer trennen kann, weil sie für ihre vergangene Größe stehen. Sie ist zum anderen auch identifizierbar in der Schwerpunktsetzung auf den Erhalt der Gemeindepfarrämter und die auch im frommen Flügel gegebene Bereitschaft, die sog. Sonderpfarrämter zu reduzieren. Die sind eigentlich nicht nötig, weil sie nicht „der Gemeinde“ dienen. Aber ausgerechnet mit diesen funktionalen Diensten ragt Kirche ja noch in die unterschiedlichen Lebenswelten der Menschen hinein. Die angebliche Konzentration auf die Kernkompetenz ist in der Sache die Monopolisierung der Kernmilieus, die man so lange es geht, bei der Stange halten will.

Theologisch bedeutet das, dass Kirche ganz unevangelisch Bedingungen aufrichtet für ein Mitleben in der Gemeinschaft der Heiligen: Wenn Du Christ sein willst, in der Kirche leben willst, musst Du unsere subkulturelle Prägung annehmen und teilen.6

(2) Kirche hat keine Zukunft, weil Kirche ein geschlossenes System und veränderungsunfähig ist.

Kirche, die sich auf diese mit mannigfachen Privilegien verbundene Monopolstellung und Struktur fixiert, hat ihre Zukunft hinter sich.

Kirche ist als System selbst-erhaltend, als Institution selbst-behauptend und als Milieu selbst-ergänzend. Viele kleine Anpassungen führen dazu, dass das System als solches überleben kann, ohne sich grundlegend ändern zu müssen. In der Konsequenz ist heute Kirche als Institution vor allem damit beschäftigt, die nötigen Anpassungsprozesse (wie Pfarr-Plan und Immobilienplan) zu organisieren. Da aufgrund des hohen Gegendrucks immer nur die notwendigsten Anpassungen passieren, werden diese angesichts der sich immer weiter verändernden Gegebenheiten in so kurzen Abständen nötig, dass Kirchenleitungen und Kirchengemeinden aus den Schrumpfungsprozessen gar nicht mehr herauskommen. Die Professionalität, mit der Verwaltungen die Änderungen administrativ umsetzen, wird Kirche geradezu zum Verhängnis.

Die Konsequenzen sind:

  • Kirche ist im Wesentlichen mit sich selbst beschäftigt.
  • Kirche erscheint als Institution, die im Wesentlichen mit Überleben und Selbstbehauptung beschäftigt ist; der es um sich geht und weniger um andere.
  • Systemanpassungen verhindern Systemänderung. Selbst das Setzen von Schwerpunkten durch Ressourcenkonzentration wird extrem schwierig, weil es angesichts knapper Mittel kaum noch konsensuell organisierbar ist.
  • Kirche erscheint als veränderungsresistent mit verheerenden Folgen für die, die sich z.T. schon sehr lange in ihr und für sie engagieren, ja an ihr leiden: Selbst Gutwillige suchen in Zeiten alternativer Optionen effizientere Alternativen als „Kirchenreform“. Warum sich abmühen, wenn ich ohne jede Mühe eine eigene Gemeinde gründen oder mich einer lebendigen, ästhetisch ansprechenden und meinem modernen Lebensgefühl entsprechenden Gemeindebewegung anschließen kann?

(3) Kirche hat keine Zukunft, weil Konstantinisches Kirchentum nur noch eine historische Größe ist.

Kirche ist historisch eine Größe, aber eben nur noch historisch.

Kirche ist als System selbst-erhaltend, als Institution selbst-behauptend und als Milieu selbst-ergänzend.

Kirche, die sich auf diese mit mannigfachen Privilegien verbundene Monopolstellung und Struktur fixiert, hat ihre Zukunft hinter sich. Ihre vergangene Größe ist ihr größtes zukünftiges Handicap. Ihre Zukunft sucht man dann in der Vergangenheit, in der Fixierung auf sie, in der Beschwörung einstiger Größe. Ihr angesammelter kultureller Schatz ist zugleich die größte Hürde und Barriere für kulturelle Neugewinne. Wir haben doch schon alles – übergenug.
  • Kirche hängt mental und strukturell in der Vergangenheit fest; sie ist nicht nur mental und kulturell ein Traditionsverein. Ihre parochiale und ortsgemeindliche Gliederung hatte Sinn, als sie für den Staat Funktionen der Kontrolle der Bevölkerung wahrnahm. Ihre behördenmäßige Administration hatte Sinn als gleichberechtigtes Gegenüber zum Staat. Ihr Religionsunterricht als ordentliches Lehrfach hatte Sinn, als sie die Institution war, der die moralische Prägung und weltanschauliche Orientierung der Bevölkerung oblag. Der staatliche Kirchensteuereinzug hatte Sinn, weil diese geregelte Form der Mittelbeschaffung die Finanzierung ihrer institutionellen Funktionen sicherstellte.
  • Kirche kann nicht Abschied nehmen von dem, was sie in einer 17 hundert Jahre dauernden Ehe mit dem Staat geworden ist.
  • Sie ist nicht bereit, den Epochenbruch wahrzunehmen, der das Ende der Konstantinischen Ära bedeutet – als Konsequenz der Trennung von Kirche und Staat; der Säkularisierung; der Privatisierung von Religion; der Relativierung von Christentum als der dominanten Glaubensform; der programmatischen Pluralisierung, die nicht nur Pluralität akzeptiert, sondern Pluralismus zum Programm macht und sich natürlich in erster Linie gegen die alten Platzhirsche wendet; gegen Traditionsabbruch und Verlust der Pastoralmacht (Michel Foucault); der Multioptionsgesellschaft, die auch Kirche den Marktkräften aussetzt und sie nicht besonders gut aussehen lässt.
  • Ihre Tragik ist, dass sie systemkonform, aber – wie die Corona-Krise gezeigt hat – nicht mehr systemrelevant ist. Offene Baumärkte sind für jedermann sichtbar wichtiger als offene Kirchen.7 Kirchen hätten protestieren müssen gegen das hunderttausendfache Massen-Elend ohnehin schon unter ihrer Isolation leidender Menschen; sie hätten protestieren müssen gegen eine Verabsolutierung der medizinischen Perspektive und der buchstäblich resultierenden sehr einseitigen Konstitution sozialer Wirklichkeit.8

(4) Kirche hat keine Zukunft, weil viele Christen sich schämen, zur Kirche zu gehören, und sich deshalb auch nicht gerne zu ihr bekennen.

Sie schämen sich für eine Kirche, die der Grund dafür ist, dass so viele – vor allem junge  Menschen nichts mehr vom Evangelium erwarten, Glauben für veraltet, überholt und unglaubwürdig halten und auch Jesus als Hoffnung abgehakt haben. Sie möchten sich am liebsten von einer Kirche und einem Christentum distanzieren, das dem, worum es geht, geradezu im Weg steht. In welchem Umfang engagiert sich diese – im internationalen Vergleich – unglaublich wohlhabende Kirche für die, die materiell und geistig arm sind? Wie nahe steht sie wirklich bei denen, deren Einstellungen schlicht sind? Wie heftig sind die Ekelschranken, die man gegenüber den Anschauungen im prekären Milieu vorfindet, von dem man sich nur avers abwenden kann?

Natürlich ist Kirche ein durch und durch menschlich-allzumenschliches Unternehmen, und das wird sich auch bis zum „Jüngsten Tag“ kaum ändern. Schlimm ist aber, dass Menschen sich eben nicht nur von Kirche, sondern auch von Gott und vor allem von Jesus abwenden, weil auch das an vielen Orten beanspruchte Gutmenschentum im traditionellen oder bürgerlichen oder sozialökologischen Gewand geistlich eben nicht sattmacht. Muss man sich nicht geradezu von Kirche distanzieren, wenn man deutlich machen will, was christlicher Glaube bedeutet? Von allem Verknöcherten, Antiquierten, Vergangenheitsfixierten, Unmoralischen, Machtstreben und Selbstbehauptungswillen in frommem Gewand, aller bigotten, durch die Taten widerlegten Botschaft?

Sie schämen sich nicht ihres Glaubens oder Gottes, aber einer Kirche,

  • die immer noch als moralische Anstalt auftritt und ihre Rolle als sittlicher Zuchtmeister bis heute nicht ganz aufgegeben hat; die andere beschämt, aber zum (Fremd-) Schämen ist, weil sie den eigenen ethischen Standards nicht genüge tut (aktuelles Beispiel: die absolut unbefriedigende Aufarbeitung des Missbrauchsskandals; die unglaubliche Energieverschwendung durch das aufwendige Aufheizen ausgekühlter Steinungetüme für eine Stunde Gottesdienst, der auch im Gemeindehaus nebenan stattfinden könnte; die skandalöse Verwendung von Kirchensteuermitteln, die nur zu einem kleinen Teil diakonischen Zwecken dienen etc.);

    Sie schämen sich nicht ihres Glaubens oder Gottes, aber einer Kirche, die Wein trinkt und Wasser predigt

  • die in ihrer Traditionsverhaftung, in ihrer Beschäftigung mit sich selbst, in ihrem Hängen an alten Zöpfen und überkommenen Regeln nur peinlich ist; die seltsam wirkt, aus der Zeit gefallen, mit ihrem hohen Alter und ihrer Modernisierungsverweigerung, mit ihrem Ruch als Alte-Leute-Club und Traditionsverein, auch mit ihrer Fortschrittsskepsis und ihrer Leistungsfeindlichkeit, die aber immer noch beansprucht, allen etwas zu sagen zu haben;
  • die moralisch diskreditiert ist, weil sie sich über anderthalb Jahrtausende zum Büttel des Staates gemacht hat, die Bevölkerung kontrolliert und überwacht hat; weil sie meist auf der Seite des Stärkeren stand und viel zu wenig die Partei der Schwächeren eingenommen hat, die aber trotz allem immer wieder mit einem hochmoralischen Anspruch daher kommt;
  • die für Besserwisserei steht und Hochmut; die – bis heute – in unterschiedlicher Weise den Gottesstandpunkt für sich beansprucht, trotz aller Schuld, in die sie sich verstrickt hat, und allem Druck, den sie auf Menschen ausgeübt hat, ganz gleich ob sie sich durch individualethische, vorzugsweise sexualethische Restriktionen hervortut oder durch Weltuntergangsszenarien motivierte Fahr- und Essverbote oder politisch agitierende Kontaktverbote zu Menschen, deren mentale Einstellung ihre führenden Repräsentanten nicht nachvollziehen können; kaum eine gesellschaftliche Institution fordert mehr zu Toleranz auf, kaum eine zieht gleichzeitig mehr Distinktionsgrenzen und Ekelschranken hoch9;
  • die gar nicht merkt, wie sie sich mit den vorhersehbaren Verlautbarungen ihrer Repräsentanten selbst banalisiert und ihre gesellschaftliche Bedeutung bagatellisiert. Traut man sich wirklich nichts anderes mehr als “civil religion”?;
  • die trotz des Verlustes ihrer Pastoralmacht nicht davon lassen kann, anderen Menschen sagen zu wollen, wie sie zu denken, zu handeln und zu reden haben, ganz gleich ob das unter frommer, Öko- oder Genderflagge geschieht;
  • die gar nicht mehr merkt, dass die meisten sich von niemanden und auch von ihr, von ihr schon gar nicht – mehr sagen lassen, wie sie zu denken und zu leben haben; die nicht kapiert, dass der klassische normative Horizont von sehr vielen Menschen gar nicht mehr nachvollzogen werden kann; statt dessen übt sie sich – wieder peinlich – in Zivilisationskritik an Postmoderne als Verfallsprodukt, ohne zu kapieren, was die Stunde geschlagen hat und was es hier zu lernen und profitieren gibt10;
  • die für beispielloses Versagen bei überragender Verantwortung steht, aber von Ausnahmen abgesehen nicht zu ihrer mannigfachen Schuld steht; deren kritischer Habitus doch nur möglich ist, weil sie einen riesigen blinden Fleck hat, der es ihr ermöglicht, die Amalgamierung von Religion der Nächsten- und Gottesliebe und mit der Legitimation von staatlicher Gewalt wie eigener sozialer Macht-Praxis zu übersehen; wäre sie sich hier des Schadens bewusst, den sie mitverantwortlich angerichtet hat, würde sie dann nicht demütiger und nur noch um Heilung und Hilfe bemüht auftreten? Könnte Kirche nicht dann erst wieder glaubwürdig auftreten, wenn sie bewusst durch die schrecklichen Seiten der Christentumsgeschichte hindurchgegangen wäre? Und wie würde sie dann auftreten, wenn sie durch einen solchen Prozess hindurch gegangen wäre? Wären nicht Umdenken und Umkehr die zentralen Begriffe für eine Kirche, die sich ihr Versagen vergegenwärtigt, und nicht Kritik11 – vor allem an anderen?

    Muss man sich nicht geradezu von Kirche distanzieren, wenn man deutlich machen will, was christlicher Glaube bedeutet?

  • Wir erleben dagegen eine Kirche, die nach wie vor als moralische Institution12 auftritt und anderen predigt, aber selber – jüngstes furchtbares Beispiel: der schon angesprochene mannigfache sexuelle Missbrauch – nicht in der Lage ist, ohne Wenn und Aber ihre Schuld zu bekennen, aufzuräumen und den Betroffenen „angemessene“ Hilfe zu leisten (wenn es die denn überhaupt geben kann)13;
  • die Wein trinkt und Wasser predigt, die die Mittel hätte, sich in beispielloser Weise Menschen in prekären Lebensverhältnissen und diakonisch zu behebender Not zuzuwenden, aber lieber zu Spenden auffordert und einen befürchteten Rückgang von Kirchensteuern beklagt,
  • die – jedenfalls bei uns – über immer noch unglaubliche materielle Möglichkeiten und Humanressourcen verfügt, diese aber verschwendet14, weil sie sich nicht von überkommenem Denken lösen mag.

(5) Kirche hat keine Zukunft, weil sie nicht (mehr) lebensnotwendig ist.

Man weiß schlicht nicht mehr, warum man zu ihr halten soll, abgesehen natürlich von denen, die ihr kirchliches Leben als Traditions-Verein gestaltet haben und mit aller Macht diese Gemeinschaftsform als Kirche verteidigen – aus ihrer Sicht natürlich zu Recht. Kirche ist vom Konzept her eine Rettungsbootgemeinschaft, das allen in Not eine Zuflucht bietet. Bei einem Rettungsboot geht es nur darum, dass ich drin bin, mich an es klammere, unbedingt hinein will und drin bleiben möchte. Da interessiert nur sekundär, wer sonst noch drin ist und mit wem ich mich arrangieren muss.

Positiv gefragt: Worin besteht die „Seenot“, aus der die Kirche rettet?

Dieses Rettungsboot ist einfach notwendig. In theologisch manchmal fragwürdiger und sehr problematischer Weise hat es Kirche über mehr als 1500 Jahre geschafft, sich als eine solche für das Leben notwendige Gemeinschaft zu etablieren. Zu nennenswerten Zahlen von Kirchenaustritten kam es erst seit Beginn des 20. Jahrhunderts. Für diese unverzichtbare „Systemrelevanz“ gab es politische, kulturelle und natürlich auch theologische Argumente, die wir heute aus guten Gründen nicht mehr teilen. Wie sieht aber eine alternative Begründung von Kirche aus? Ist ihre Noch-Existenz ihr stärkstes Argument? Positiv gefragt: Worin besteht die „Seenot“, aus der sie rettet? Haben wir die als Kirche nicht vielleicht selber durch universalistische Ansätze und religionstheologische Dialogkonzepte beseitigt? Sind wir uns vielleicht – im Gegensatz zu philosophischen Konzepten, die die abgründigen Nöte in dieser Welt vielfach viel radikaler und offener ansprechen – auch zu fein geworden, um das zu tun?

Wo ist Kirche heute die Speerspitze kultureller Entwicklung? Wo liefert sie – wie von J. Habermas15 gefordert – Beiträge, die für eine normativ kraftlos gewordene praktische Vernunft unverzichtbar sind? Wo ist vor allem ihr theologischer Anspruch geblieben, dass es an Jesus Christus vorbei keinen Weg zu Gott als Vater gibt? Wo liefert sie eine Weltanschauung, die den Abgründen und Greueln der täglich erfahrbaren Geschichte(n) gewachsen wäre? Wo sie, um nicht als unmodern zu erscheinen, ihren biblisch-theologisch begründeten soteriologischen und kosmologischen Rucksack über Bord geworfen hat, da hat sie gleichzeitig auch ihre Existenzberechtigung aufgegeben. Als gesellschaftliche Institution zehrt sie noch den über Jahrhunderte gewordenen Einfluss der Vergangenheit auf. Ansonsten ist eigentlich nicht mehr zu verstehen, warum man sich zur Kirche halten soll. Ein konventionelles Mitgliedschaftsmodell dominiert. Dieses ist aber sehr instabil. Es braucht nur eine kleine Irritation, um von Mitgliedschaft zu Austritt umzuschalten.

Was bietet mir Kirche, was ich lebensnotwendig brauche und was ich nur hier finde?

Spiritualität – gibt es woanders lebendiger und interessanter. Ewiges Heil – gibt es doch überall, wenn ich der dominanten universalistischen Verkündigung und pluralistischen Religionstheologie folgen darf. Diakonische und soziale Hilfe – liefern viele. Geselligkeit im Verein – finde ich auch woanders. Bildung und Kultur ebenso. Politisches Engagement – bringen doch schon die Parteien. Es ist nett, dass es das alles – genauso wie Sport- und Chorarbeit – auch in den Kirchen gibt. Aber die entscheidende Frage lautet doch: Warum soll ich mich zur Kirche halten? Was ist der Daseinszweck von Kirche? Was bietet mir Kirche, was ich lebensnotwendig brauche und was ich nur hier finde?

(6) Kirche hat keine Zukunft, weil Kirche falsch ausbildet, die falschen Leute ausbildet und auch noch stolz darauf ist.

Im Studium findet sich Althebräisch, Altgriechisch, Altphilologie und Althistorie, und wir sind zu Recht dankbar dafür, weil und wenn es uns hilft, einen vertieften Zugang zu Gottes Handeln in der Geschichte zu finden. Wir brauchen aber nicht nur theologische Wissenschaftler, sondern auch zu Gemeindegründung in der Großstadt fähige Entrepreneure, wir brauchen nicht nur Akademiker, sondern auch Manager, die auf die Herausforderungen eines siebenstelligen Haushaltsvolumens und der Personalführung vorbereitet sind; wir brauchen Kommunikateure, die milieusensibel Kommunikation in unterschiedlichen Lebenswelten einfädeln können. Das Studium ist zudem heute so angelegt, dass die Milieuverengung des hauptamtlichen Personals geradezu programmiert ist. Kinder aus Bildungshaushalten sind favorisiert.

Es gilt der im Studium verbreitete Grundsatz: je gemeindeferner, desto besser; je weniger Praxisrelevanz, umso mehr wissenschaftliche Bedeutung, mindestens Anerkennung.

Bestimmend sind stille, sanktionenbewehrte Voraussetzungen:

(1) Mittelpunkt kirchlichen Lebens ist das Pfarramt, sprich das Gemeindepfarramt. Konsequenz: der eine Geistliche wird zum bottleneck, der über Wohl und Wehe einer Gemeinde entscheidet.

(2) Der Theologe ist das non-plus-ultra kirchlicher Berufe. Konsequenz ist die Pfarrerkirche, die Rückführung der Diakonenstellen; die Reduktion ausgerechnet der Dienste, mit denen man in die Lebenswelten der Menschen hineinreicht.

(3) Es muss – natürlich theologische – Hauptamtliche geben, die die Gemeinde leiten. Sie dominieren; sie bestimmen, auch wenn sie von der Berufs- und Arbeitswelt derer, für die sie verantwortlich sind, kaum eine Ahnung haben, im Gegenteil von Privilegien zehren, die sie zunächst einmal unsensibel machen für die Herausforderungen, vor denen ein normales Gemeindeglied steht. Das Ehrenamt, die Mitwirkung in oder gar Leitung von Kirchen hat trotz jahrzehntelanger Debatten keine Chance und soll wohl auch keine haben. Sie wäre ja viel zu riskant und bürge die Gefahr revolutionärer Ideen und tiefgreifender Veränderung in sich.

Nota bene: Problematisch sind nicht gut ausgebildete, zu Reflexionen wie den vorliegenden fähige Theologen. Problematisch sind (1) die Theologenkirche und (2) die Ekklesiologie, die sie trägt und zugleich erfordert.

(7) Kirche hat keine Zukunft, weil Kirche eine Theologie duldet, akzeptiert und sogar fördert, die tödlich ist und geistliches Leben wie Gemeindewachstum zerstört.

Das gilt

  • systematisch-theologisch: Glaube ist akzeptabel artikulierbar lediglich als fides qua, als Bewusstseinszustand; fides quae, die Glaubensinhalte, ist potentielle Quelle für Konflikte. Eine Auseinandersetzung mit materialen theologischen Fragen findet kaum noch statt. So wird das Gespräch mit den Naturwissenschaften allenfalls unter ethischen Gesichtspunkten geführt. Wo kommt Gott noch als die alles bestimmende Wirklichkeit (Wolfhart Pannenberg) ins Spiel? Wo bleibt eine aus der Mitte des christlichen Glaubens heraus begründete evangelische Ethik?
  • biblisch-theologisch: „wissenschaftliche“ Exegese biblischer Texte geschieht unter Ausschluss des Gottesgedankens, ganz gleich, ob die Maxime des methodischen Atheismus sie in einen Dauerkonflikt mit ihrem Gegenstand bringt. Die durch den „Kirchenvater“ Immanuel Kant erzwungene und weithin gültige subjektphilosophische Voraussetzung kulturprotestantischer Theologie bedingt, dass theologisch nur noch Gottesvorstellungen16 thematisiert werden können. Von Gottes Wirk lichkeit darf – unabhängig von der Frage, ob sie sich historisch aufdrängt – a priori nicht mehr gesprochen werden. Akademisch wird die Bibel geköpft und um ihren eigentlichen Anspruch gebracht. So bringt man sich um die eigene Pointe, bricht den eigenen Aussagen selbst die Spitze ab und bagatellisiert sich akademisch und öffentlich selbst.
  • Praktisch-theologisch: Es gilt der im Studium verbreitete17 Grundsatz: je gemeindeferner, desto besser; je weniger Praxisrelevanz, umso mehr wissenschaftliche Bedeutung, mindestens Anerkennung. Der Bezug auf Glaube wäre unwissenschaftlich. Das Schielen nach praktischer Relevanz würde die beanspruchte wissenschaftliche Objektivität in Frage stellen. Theorie des Christentums, nicht aber Glaubenskommunikation ist der Fokus.
  • Kirchengeschichtlich: Kirchengeschichte degeneriert zur Theorie von Theorienbewegungen. Sie ist nicht mehr Geschichte der Auslegung der Heiligen Schrift (Gerhard Ebeling), verstanden als Missions-, Erweckungs- und Beispiel-, bestpractice-Geschichte.

Gott als Wirklichkeit kommt im Theologiestudium nicht vor; es wäre unwissenschaftlich, ihn als Realität ins Spiel zu bringen;

Konsequenz: Gott als Wirklichkeit kommt im Theologiestudium nicht vor; es wäre unwissenschaftlich, ihn als Realität ins Spiel zu bringen; eine Auseinandersetzung mit dem alles beherrschenden methodischen Atheismus des modernen Wissenschaftsbegriffs passiert nicht. Ist das Resultat einer „Gott-freien“ Theologie nicht konsequenterweise eine Kirche, der kaum etwas anderes bleibt als „G’schaftlhuberei“? Theologie löckt nicht wider den Stachel, wie es ihre Aufgabe wäre, deren Wahrnehmung allein – so noch mit Recht Karl Barth18 – ihre Existenz im Rahmen der universitas litterarum rechtfertigen kann.

In der Folge zerfällt vielen theologisches Studium und dann Vikariat und pfarramtliche Praxis in zwei unsägliche Teile: zunächst eine Theologie ohne Kirche(nbezug) und schließlich eine Kirche (kirchliche Praxis) ohne Theologie.

(8) Kirche hat keine Zukunft mehr, weil Kirche ihren Unique Selling Point (USP) verloren hat.

Wofür ist Kirche da? Wofür steht sie, sie allein? Was macht sie unverwechselbar? Was finde ich nur bei ihr? Was sollte mich in dieser Welt der Optionenvielfalt: der tausend religiösen Möglichkeiten und vielfältigen Lebensstil-Konzepte dazu bringen, Kirche in irgendeiner Weise für unverzichtbar zu halten?

Eine allgemein überzeugende Antwort gibt es nicht. Die unterschiedlichen Gruppen bringen in ihre total gegensätzlichen Definitionen und Konstitutionen von Kirche jeweils ihre speziellen Partikulareinsichten und -interessen mit ein. Das Ergebnis ist Kirche als „Selbstbedienungsladen“, in dem jeder seine Anliegen mit der spirituellen Weihe versehen lassen kann, er vertrete ja ein „kirchliches“ Anliegen. So verliert man Identität. Identität diffundiert, eben auch, weil nicht mehr gerungen wird um das, wofür Kirche vor allem steht; weil das nicht mehr sichtbar ist; ich unterstelle böse: auch nicht mehr sichtbar sein soll. Weil ein gut gemeinter Pluralismus19, der sich liberal begründet, für alles und jedes in der Kirche Platz sieht und jedes individuelle Anliegen kirchlich tauft, eben weil ja alle Individuen gleich viel wert sind, und – so schließt man schief – darum auch ihre Anliegen und Anschauungen. Man darf ja niemanden ausschließen20. Das Ergebnis ist ein Jahrmarkt, auf dem man (fast) alles findet. Aber warum soll man ausgerechnet den aufsuchen, wenn man seine Bedürfnisse und Wünsche eben auch woanders gut befriedigen kann; wenn es etwa den Fachmarkt um die Ecke gibt, dessen Personal qualifizierter ist und dessen Ware hochwertiger ist? Kirche reagiert auf diese Fragen nicht mit einer Konzentration und Fokussierung, sondern mit einer Verbreiterung ihres Angebotes.

Das Ergebnis ist Kirche als „Selbstbedienungsladen“, in dem jeder seine Anliegen mit der spirituellen Weihe versehen lassen kann, er vertrete ja ein „kirchliches“ Anliegen.

  • Warum soll ich mich in der Kirche für ökologische Anliegen einsetzen, wenn ich das woanders auch, ggf. besser tun kann?
  • Warum soll ich mich in der Kirche für soziale Anliegen einsetzen, wenn das die SPD und Linke auch, ggf. professioneller, macht?
  • Warum soll ich in der Kirche gegen Kriege protestieren, wenn die pazifistischen Vereinigungen das auch, ggf. überzeugender und effizienter, tun?
  • Warum soll ich mich zu Gottesdienst und Ständerling einfinden, wenn SportVereine mir ebenfalls Gemeinschaft bieten, womöglich viel ungezwungener?

Es ist ja nichts dagegen einzuwenden, dass es all das in der Kirche gibt. Es ist nur nicht einzusehen, warum man das in der Kirche suchen soll, positiv formuliert: was das jeweils mit ihrem Markenkern zu tun hat. Gehen wir deshalb heute noch zur Kirche?

(9) Kirche hat keine Zukunft, weil sie nicht mehr weiß, wer sie ist, und weil sie scheut und zutiefst ablehnt, was sie ist.

Genau deshalb kann sie zum Gemischtwarenladen werden, der keine Identität mehr besitzt. Statt Profil zu zeigen, ist sie – im verzweifelten Bemühen, Relevanz für viele/alle zu gewinnen – nur noch pro viel, für das Viele und vielerlei. Um es noch einmal mit dem postmateriell perhorreszierten Marketing-Sprech auszudrücken: „Alle ist keine Zielgruppe“21. „Allen alles recht getan, ist eine Kunst, die niemand kann“ und bei der man am Ende mit Sicherheit beides verliert: Identität und Relevanz.

Kirche weiß nicht mehr, wer sie ist und folgt unterschiedlichsten Identitäts- und Relevanzverlockungen, weil sie vergessen hat, wer sie ist.

Es ist der postmoderne italienische Philosoph Giorgio Agamben, der den Kirchen in seinem „Kommentar zum Römerbrief “ den messianischen Zeitbegriff in Erinnerung ruft, der für die Kirche kennzeichnend ist. Zwischen der Auferstehung und dem apokalyptischen Ende ist Zeit nicht einfach chronologisch ablaufende, sondern qualifizierte Zeit: „Sie ist […] die operative Zeit, die in der chronologischen Zeit drängt, die diese im Innern bearbeitet und verwandelt, die Zeit, die wir benötigen, um die Zeit zu beenden – in diesem Sinne: die Zeit, die uns bleibt.“22 Sie ist die „messianische Zeit“, „die Zeit, die die Zeit benötigt, um zu Ende zu gehen“23. Das definiert den Modus kirchlicher Existenz. Kirche lebt in der Zeit, die ihr – noch – bleibt, aber nicht in anhaltend verlaufender, kontinuierlicher, immer bleibender Zeit. Der hier von Agamben vertretene apokalyptische Zeit-Begriff begründet allererst Kirche und ihre spezielle Geschichte. Sie ist Kirche im apokalyptisch-eschatologischen Horizont. Seine Koordinaten geben ihr eine messianische Qualität, die wiederum ihre unverwechselbare Identität ausmacht, eine Identität, die sie sich nicht leihen muss, sondern die ihr ureigen ist.

Kirche ist eingespannt zwischen Ankunft und Wiederkunft Christi. Schon Teil der neuen und noch Teil der alten Welt lebt sie bis zum Zerreißen aufgespannt zwischen altem und neuem Äon, ohne Möglichkeit sich zu etablieren, noch im Jetzt und zugleich im Noch-Nicht, nicht in bleibender Zeit, sondern im Medium der Zeit, die ihr – noch – bleibt.

Resultat ist die Erfahrung: Alle, die gottesfürchtig leben wollen in Christus Jesus, werden verfolgt werden (2Tim 3,12). Der Martys geht ins Martyrium. Die Offenbarung Johannes offenbart das Schicksal der beiden Zeugen, die für das Volk Gottes aus dem Alten und Neuen Testament stehen: Sie werden – von dem apokalyptischen Tier aus dem Abgrund – überwunden werden (11,7; 13,7). Kirche hat im letzten keine Zukunft, weil sie die apokalyptische Existenz scheut und das Zeuge-Sein, das notwendig ins Leiden führt, abwehrt.

An seine Stelle tritt die Suche nach – geliehener – Relevanz, sozial, politisch und kulturell; nach der Anerkennung der Eliten, die einem zusichern, dass man systemrelevant ist und etwas zu sagen hat.

(10) Kirche hat keine Zukunft, weil sie selbstsicher im Bewusstsein lebt, sie besitze eine Ewigkeitsgarantie.

Die über anderthalb Jahrtausende anhaltende, immer wieder modifizierte, aber lange Zeit stabile Amalgamierung von Staat und Kirche, Gesellschaft und Religion, das oft vorschnell angekündigte und dann doch noch nicht eingetretene Ende der Volkskirche und schließlich die „göttliche“ Bestandsgarantie nach Matthäus 16,18 „und die Pforten des Hades werden die ecclesia nicht überwinden“ haben zu einer trügerischen Sicherheit und anmaßenden Bestandserwartung geführt.

Kirche hätte zu jeder Zeit die Möglichkeit aufzubrechen. Aber sie tut es nicht. Wird sie es tun? Sie hat keine Zukunft, weil sie den Ernst der Lage nicht erkennt.

„Ich kenne deine Werke, dass du weder kalt noch heiß bist. Ach, dass du kalt oder heiß wärest! Also, weil du lau bist und weder heiß noch kalt, werde ich dich ausspeien aus meinem Munde.“ (Offb 2,5). Wie viele empirische Kirchen und Bewegungen in der Geschichte der Kirche sind aber bereits untergegangen und hatten keinen Bestand? Und muss man nicht – ebenfalls unter Bezug auf ein Herrenwort – damit rechnen, dass der auferstandene und erhöhte Herr einer Kirche den „Leuchter“ selber hinwegnimmt, wenn sie nicht umkehrt? Führt ein weit verbreitetes Missverständnis von CA VII nicht zu einer toxischen Verwechslung bzw. Identifikation von Kirche Jesu Christi und historischen Kirchentümern?

Nicht die Schrumpfung der Kirchenmitglieder um ein Drittel innerhalb von zehn Jahren, nicht der Rekordaustritt von mehr als einer halben Million Kirchenmitgliedern allein in 2019, nicht der für 2060 prognostizierte Rückgang sind letztlich das Problem. Kirche hätte zu jeder Zeit die Möglichkeit aufzubrechen. Aber sie tut es nicht. Wird sie es tun? Sie hat keine Zukunft, weil sie den Ernst der Lage nicht erkennt, weil sie nicht ernst macht mit ihrer Situation, weil sie – wie der Frosch im immer heißer werdenden Wasser – lieber verharrt im Weiterso, statt aufzubrechen, sich zu riskieren, wo sie bei Licht besehen gar kein Risiko mehr eingeht, weil das Verharren im Istzustand die garantierte Marginalisierung bedeutet.

(11) Kirche hat keine Zukunft, weil Kirche ihre Zukunftsfähigkeit verspielt, indem sie ihre Ressourcen für deren Reflexion aufbraucht.

Wenn nur 10% dieser Provokationen stimmen, wenn man nicht alles in dieser Zusammenschau als pauschalisierend, ungerecht und unfair zurückweisen kann, wäre der Zustand von Kirche schon schlimm genug und Anlass genug, sofort und radikal zu ändern.

Genau diese Debatten um die Zukunftsfähigkeit der Kirche nehmen ihr aber die Energien, die sie braucht, um Zukunft zu gewinnen.

Im Sinne der von Ernst Bloch getroffenen Unterscheidung zwischen biblischer und griechischer Prophetie darf man vorhersagen und ansagen: Die Rezeption auch dieses Beitrages wird sich – dem postmateriellen Mindset entsprechend – vielfach und verbreitet auf Reflexion beschränken: auf Kritik an Pauschalisierungen, auf Hinweise auf Ausnahmen, auf relativierende Belege, es sei doch nicht (ganz) so schlimm. Genau damit würde aber dann der Befund einer entwickelten Veränderungsresistenz bestätigt. Es braucht ein Aufsprengen der Milieubefangenheit protestantischer Funktionseliten. Debattiert wird in ihnen ja bereits Jahrzehnte über die Zukunft von Kirche. Genau diese Debatten um die Zukunftsfähigkeit der Kirche nehmen ihr aber die Energien, die sie braucht, um Zukunft zu gewinnen. Solche Debatten sind der milieuspezifische Stil wohl nicht nur protestantischer Eliten, mit Herausforderungen umzugehen. Gerade hier zeigt sich freilich einerseits die Milieuverengung des Leitungspersonals und andererseits, wie verhängnisvoll es ist, wenn dieses die Milieuverengung mit den ihr eigenen, nur begrenzten Lösungsressourcen perpetuiert. Gabenvielfalt wäre nötig. Liberal-Intellektuelle sollen analysieren, Sozial-Ökologische müssen kritisieren, Traditionsorientierte sollen beten, aber es braucht auch die Performer, die in Bewegung bringen, „machen“ und dafür sorgen, dass die Expeditiven ihre Kreativität und ihre Initiative einbringen können. Gabenvielfalt unter Milieuperspektive!

 

Warum dieser Text?

Nicht nötig zu betonen, dass diese apodiktisch vorgetragenen Thesen ungerecht sind. Sie werden nicht annähernd dem gerecht, was es in Kirche(n) an Engagement, Erneuerungswillen, Reformgeist und – immer noch und immer wieder – an Hoffnung gibt. Spannend ist aber, dass genau die, die hier unterwegs sind, in verschiedenen mentalen und theologischen Lagern, in den Gesprächen, die ich geführt habe, der Analyse weitgehend zugestimmt und ihre Veröffentlichung befürwortet haben. Ich beanspruche, für ganz viele zu sprechen, denen die Erneuerung der Kirche ein Herzensanliegen ist, genau wie mir auch. Darum zum Schluss noch drei Klarstellungen:

  1. Auch wenn der Frust an kirchlicher Unbeweglichkeit, Traditionsverhaftung, an ihrem Erscheinungsbild und an unfruchtbarer Theologie sicher spürbar ist, möchte ich Lust machen zum Widerspruch: „Nein, es ist nicht so. Es gibt so viel mehr, was erst noch richtig sichtbar werden muss von Kirche als Reich Gottes!“ – und zum Widerstand gegen die skizzierten Zustände: „Nein, wir lassen das nicht stehen. Wir geben nicht auf.“ Kirche als creatura verbi, als dabar bedeutet ja: Hier gewinnt Gott selbst Gestalt, hier gewinnt sein Reden eine anschaubare, wahrnehmbare, wirkungsvolle Realität. Danach sehne ich mich. Dazu möchte ich – auch durch harte – Provokationen beitragen. Ob die geschilderten Umstände Dilemmata sind, denen wir nicht entrinnen können, oder Probleme, die uns herausfordern, entscheidet sich an unserer Reaktion.
  2. Ich möchte die Irritation, aber nicht die Resignation. Irritation bedeutet: nicht sofortige Flucht ins Engagement oder – für postmaterielle Eliten gängig – in die Metaebene der Reflexion. Irritation bedeutet den Freiraum, etwas aushalten zu müssen, worauf man nicht sofort reagieren kann. Wenn der Eindruck einer gewissen Ausweglosigkeit entsteht, ist auch der gewollt. Wenn er uns innehalten lässt, kann er aber gerade helfen, für neue Wege offen zu werden.
  3. Um genau diesen Freiraum, dieses Inne-Halten zu ermöglichen; um sich in Ruhe irritieren und aus der Ruhe bringen zu lassen; um nicht die Flucht in Reflexion oder Engagement zu ermöglichen, mag ich an dieser Stelle nicht fortfahren mit eigenen Vorschlägen, wie und welche Kirche Bestand haben und Zukunft gewinnen kann.24 Ich liebe Kirche, meine Kirche, auch meine evangelische Kirche aber viel zu sehr, als dass ich hier schließen, gar mit ihr abschließen könnte und wollte.25
  1. Die folgenden Ausführungen beziehen sich in erster Linie auf Erfahrungen in evangelischen Landeskirchen. Man wird viele parallele Phänomene in der katholischen Schwesterkirche assoziieren, zumal die breite, auch akademisch gebildete Öffentlichkeit wenig geneigt ist, noch konfessionell zu trennen. – Auch wenn es sich um 11 Provokationen handelt, beziehe ich mich nur der Sache nach auf die Themen, nicht aber auf die 11 Thesen des EKD-Papiers zur Zukunft der Kirche.
  2. Nicht nötig zu betonen, dass es mir nicht um eine Kritik derer geht, die mit erheblichem Engagement in dieser Kirche arbeiten und sich für ihre Zukunftsfähigkeit vielfach bis an die Grenzen ihrer Kräfte einsetzen. Sie haben mich selber in den vergangenen Jahrzehnten immer wieder ermutigt.
  3. Diese umfasst sowohl den Pfarrdienst in den Gemeinden wie verschiedentlich Funktions- und Sonderpfarrämter, Leitungsaufgaben im Neupietismus wie Mitarbeit in einem der EKD-Thinktanks, Referententätigkeit für Kirchenleitung wie – als Schwerpunkt der letzten Jahre – teilweise mehrjährige Beratertätigkeit in verschiedenen EKD-Kirchen wie auch darüber hinaus in Österreich und der Schweiz.
  4. Warum/Wann/Wenn Kirche Zukunft hat. Sieben Zusagen (Arbeitstitel), in: Martin Reppenhagen/Thomas Schlegel: Festschrift für Michael Herbst, Leipzig 2021.
  5. „Unsere Berührungsängste richten sich auf diejenigen, die an den Rand geraten, genauso wie auf diejenigen, die in Entscheidungszentren und Verantwortungsberufen tätig sind. Unsere Berührungsängste halten uns von vielen kulturell Kreativen genauso fern wie von wirtschaftlich Erfolgreichen. Mit dieser sozialen geht eine geistliche Milieuverengung einher. Wir wollen dem Volk aufs Maul schauen, aber wir hören nicht, was es sagt. Das ist geistlich besorgniserregend. Denn wir kennen den Kummer vieler Menschen nicht und auch nicht ihre Freude. Wir ahnen die Zweifel nicht, die sie in sich tragen, aber auch ihre Glaubensfestigkeit ist uns fremd. Wir würdigen das Engagement der Eliten nicht und sind sprachlos gegenüber den Ausgeschlossenen an den Rändern der Gesellschaft. Milieugrenzen zu überschreiten, ist der Kirche der Freiheit aufgegeben. Die Befreiung aus der Milieugefangenschaft ist für die Reform unserer Kirche zentral.“ (W. Huber: „Du stellst unsere Füße auf weiten Raum“. Rede zur Eröffnung der Zukunftswerkstatt am 24. September 2009 in Kassel, dokumentiert in: ThBeitr 41 [2010; Heft 1], 68–78, 2009).
  6. Hier ist direkt die Frage der Ressourcenverteilung und Ressourcengerechtigkeit tangiert. Wenn der überwiegende Teil der Finanzmittel der Kirche in die Erhaltung des kirchengemeindlichen Lebens fließt (inkl. Gemeindepfarramt etc.), dann werden hier vor allem zwei Milieus „bedient“ und massiv bevorzugt (das traditionelle Milieu und die bürgerliche Mitte).
  7. Dabei geht es nicht darum, dass Singen „gefährlicher“ ist als shoppen. Die Aufenthaltszeit und die Personendichte in den gut besuchten Märkten dürfte ein ähnliches Gefährdungspotential haben wie ein Gottesdienst einer kleineren Schar in einem ohnehin zu großen Kirchenraum. Freikirchen und Künstler machen es ja vor, wie man für seine Anliegen lieber Freiräume sucht, entdeckt und ausschöpft, als Grenzen einzuhalten und noch zu schärfen.
  8. Verschiedene Systeme und ihre wissenschaftlichen Repräsentanten stiften verschiedene Perspektiven auf Wirklichkeit und konstituieren unterschiedliche Räume, die sie gleichzeitig auch zur Geltung bringen. Medizin ist dies gelungen, auch Wirtschaft, Theologie mit ihrem eher seelsorgerlichen Anliegen eher nicht. Wo war der stellvertretende Aufschrei für Hunderttausende alter und pflegebedürftiger Menschen, die sich durch monatelange Isolation einer massiven Verschlechterung ihrer Krankheit (etwa Demenz) ausgesetzt sahen? Wo haben wir Widerstand geleistet, als die Corona-Seelsorge an allein Sterbenden untersagt wurde? Das weitgehende Versagen in der Corona-Krise ist hier Indiz für die gesellschaftliche Rolle, die sich Kirche zuweisen lässt und die sie systemtheoretisch einnimmt.
  9. Menschen aus dem hedonistischen Milieu sind viel zu unpolitisch; Personen aus dem prekären Milieu leben verabscheuungswürdige Geschlechterklischees und tendieren dazu, rechtsextrem zu wählen und zu denken; die Adaptiv-Pragmatischen denken nur an sich und wie sie weiter kommen; die Bürgerliche Mitte ist viel zu brav und familienbezogen; die Postmodernen ticken zu individualistisch und haben keinen Blick für die Gemeinschaft, ganz zu schweigen von den egotaktischen Adrenalinjunkies, die nur noch ihre Selbstfindung suchen; die Traditionsorientierten sind – nun ja – einfach nur im Weg, wenn es um Veränderungen geht; die konservativ-etablierte Elite hat nur Interesse an der Stabilität des Systems, ähnlich die Performer, die sich als Workaholics kaputt arbeiten. Eigentlich richtig und wichtig sind nur die Menschen mit einer postmateriellen Einstellung, am besten sozial-ökologisch zugespitzt.
  10. Hier muss der Hinweis genügen auf Heinzpeter Hempelmann: Nach der Zeit des Christentums, Gießen 2009.
  11. Da, wo man auf Missstände stößt, reagiert man kulturprotestantisch in spezifischer Milieuverengung: Man kritisiert sie. Bei der Behebung bleibt man freilich vielfach buchstäblich in den Worten stecken. Man kritisiert diskriminierende Redeweisen an „prekär“ und „Schichten“, an „Neger“ und „Negerkuss“ und gendert die Sprache bis zur Erschöpfung, eine Bibel in gerechter Sprache inklusive, und man wacht darüber, dass andere sich korrekt ausdrücken. Was aber ändert sich konkret am Leben eines „Prekären“, wenn ich seine Lebensverhältnisse nicht mehr als das bezeichnen kann, was sie sind, eben „prekär“? Was ändert sich durch eine Gesetzgebung, die Prostitution „regelt“, und Sprachregelungen, die gesellschaftlich integrieren, an den furchtbaren Lebensverhältnissen von osteuropäischen Frauen, die hier durchkommen müssen, – was außer dem guten Gewissen derer, die „etwas getan“ haben? – Umgekehrt ist es ebenso beschämend, dass es für „evangelische Diakonie“ immer weniger „Evangelische“ gibt und die entsprechenden Werke vielfach in ihrer Mehrheit Konfessionslose anstellen müssen, um ihre Werke der Barmherzigkeit zu tun – trotz einer aufbrechenden evangelikal-charismatischen Szene, die sich eine Erweckung zur Nächsten- und Gottesliebe auf die Fahnen geschrieben hat.
  12. Nicht der ethische Anspruch ist das Problem, sondern die Ambiguität und Gespaltenheit in Theorie und Praxis, in der dieser erscheint und die ihm die normative Kraft nimmt.
  13. Vgl. jüngst Felix Bohr: Die Sündenfälle, Der SPIEGEL 7. 7. 2020.
  14. Zu denken ist an das implizit immer noch zu findende ekklesiologische Konzept des full service in jeder Kirchengemeinde. Alle müssen dieselben Komplett-Leistungen erbringen. Es wird durch das oftmals gegebene Konkurrenzdenken zwischen benachbarten Gemeinden noch angeheizt („wenn die, dann wir auch“). Zu denken ist an die in Groß- und Mittelstädten immer noch zu findenden, mit erheblichem Aufwand vorbereiteten und parallel durchgeführten Gottesdienste, die sich nahezu zur selben Zeit an nahezu dasselbe Publikum wenden und das im Regelfall nicht wegen Überfüllung. Was für Möglichkeiten der Milieuüberschreitung gäbe es hier, wenn die Ressourcen sinnvoller eingesetzt würden und Menschen in der Großstadt (und selbst auf dem Land!) zugemutet würde, was sie doch auch sonst schon üben: mobil und etwas flexibel zu sein.
  15. Etwa: ders.: Glauben und Wissen. Friedenspreis des Deutschen Buchhandels 2001, 2001, 9–31; ders.: Ein Bewusstsein von dem, was fehlt, in: M. Reder/J. Schmidt: Ein Bewusstsein von dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas, 2008, 26–36; ders./Joseph Ratzinger: Dialektik der Säkularisierung. Über Vernunft und Religion, Freiburg 2005.
  16. Diese Rückfrage bedeutet keine fundamentalistische Beanspruchung der allein richtigen Perspektive oder die These, es sei möglich, eine Position zu beziehen, die nicht selber Deutung und insofern spezifische, bedingte Vorstellung sei. Im Gegenteil ist ja gerade von der hebräisch-biblisch gegebenen Semantik von „Erkennen“ her die Standortbezogenheit und Perspektivität jeder Gotteserfahrung konstitutiv. Glaube ist immer „Deutung“, freilich von etwas. Fundamentalistisch erscheint eine methodische Voraussetzung, die dieses „etwas“, das für Theologie, Kirche und Glaube fundamental ist, als nicht diskursfähig und diskurswürdig ausschließen will (Gotteserfahrung und akademische Theologie schließen sich für Propagandisten beider Seiten zum Schaden beider Seiten meist aus). Die methodologische Perspektive, die ihr begrenztes Recht hat, darf nicht ontologisiert werden. Die methodisch notwendige Restriktion (die Betrachtung als etwas) darf nicht zu einer Verkürzung des Gegen-Standes führen. Konkret: der akademisch-wissenschaftliche Habitus darf die praxis pietatis nicht als unseriös und irrational verdrängen. Exegetisch und biblisch-theologisch muss deutlich werden, dass hinter den verschiedenen „Theologien“ (ein modernes Konstrukt!) und „Gottesvorstellungen“ im biblischen Kanon die zentrale theologische These ein-und-derselben Wirklichkeit steht, die diesen hat überhaupt werden lassen. Alternativ fällt biblische Theologie in ein Ensemble polytheistischer, schwer miteinander zu vereinender Gottesvorstellungen auseinander,– was nun wieder historisch angesichts der über Jahrtausende währenden Traditionsweitergabe des Korpus nicht plausibel wäre. Es gehört zur wissenschaftlichen Redlichkeit zu betonen, dass die sich disziplinär vollziehende Gegenstandskonstitution jeweils nur ein Bild, ein Modell, eine Perspektive bedeutet, die die dem Erkenntnisakt vorgegebene Wirklichkeit nicht als solche zu erfassen vermag. (Wo) wagen wir als Theologen noch, unverblümt von der Wirklichkeit Gottes zu reden?
  17. Es lassen sich für alle theologischen Fächer auch Ausnahmen benennen. Für den Bereich der Praktischen Theologie seien hier ausdrücklich genannt: Michael Herbst in Greifswald, Peter Zimmerling in Leipzig, Ralph Kunz in Zürich.
  18. KD I,1, 5ff.
  19. Nota bene: Nicht problematisch, vielmehr gewünscht ist eine lebensweltlich vielfältige Gestaltgebung des Propriums der Kirche. Aber dieses Proprium als solches muss neu klar werden.
  20. Außer denen natürlich, die man ausschließen muss, worüber eine mit mentaler Gewalt durchgesetzte political correctness entscheidet.
  21. Vgl. die bemerkenswerte, konstruktiv-kritische Analyse bei Evelyn Finger: Glaube ohne Worte. Noch nie haben so viele Menschen die Kirche verlassen wie heute. Daran ist sie selbst schuld, aber nicht sie allein, in: DIE ZEIT Nr. 28/2020, 2. Juli 2020.
  22. Die Zeit, die bleibt. Ein Kommentar zum Römerbrief, Frankfurt 2006, 81 (es; 2453).
  23. Ebd.
  24. Solche Impulse würden ja nur Gelegenheit bieten, sich an ihnen abzuarbeiten, mit dem möglichen Ergebnis, dass der postmateriell übliche Diskurs wieder nur in gegenseitiger Lähmung erstarrt.
  25. Schon länger in Arbeit ist ein korrespondierender Folgebeitrag. In ihm versuche ich, Konsequenzen für eine Kirche im Übergang zu ziehen und konkrete Vorschläge im Hinblick auf die hier artikulierten Herausforderungen zu machen. Vgl. Anm. 4!

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