22018

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Konzept

Gunther Fleischer

Vorsicht mit den Leichen

Eine vielleicht ungewöhnliche Betrachtung zu Führung und Leitung anhand von Ex 13-14.

Einleitung

Zwei Themen beherrschen die Heilige Schrift: Gott und Mensch.

Im Blick auf Gott ist sie “Offenbarung”, insofern sie – zumindest im Kontext des Glaubens – verstanden wird als Selbstmitteilung Gottes im Wort (was deutlich zu unterscheiden ist vom fundamentalistischen Missverständnis einer [Selbst-]Information über Gott in Wörtern). Sie ist Zubahnung Gottes zu sich selbst als dem, zu dem der Mensch aus sich heraus keinen Zugang schaffen könnte. Er kann sich nur auf den von Gott als letztem Grund von Allem eröffneten Bahnen bewegen.

Glaube ich selbst den Grundsätzen, und vor allem dem Gott, die bzw. den ich verkünde und für den ich nach außen stehe, oder bin ich nur dessen selbst nicht überzeugter Propagandist?

Im Blick auf den Menschen ist die Heilige Schrift “Offenbarung” im Sinne des Zuspruchs von Gott her, welcher in der Selbstmitteilung enthalten ist. Formen des Zuspruchs sind u. a. Verheißung, Trost, Mahnung, Belehrung, Ermutigung, Vergewisserung (“Herr, du Freund des Lebens”: Weish 11,26; vgl. Joh 10,10) wie auch Verunsicherung (“Ich habe meine Augen auf sie gerichtet zum Bösen und nicht zum Guten”: Am 9,4b; vgl. Hebr 10,30). In manchem werden den Menschen auch nachsprechbare Worte mitgeteilt als dem Menschen in den Mund gelegte Antwort auf den sich in Wirksamkeit und Erfahrbarkeit offenbarenden Gott, wie z. B. in den Psalmen oder im Vaterunser.

Sodann – und darauf soll im Folgenden der Ton liegen – hat die biblische “Offenbarung” im Blick auf den Menschen noch eine ganz andere Funktion. Sie wird besonders deutlich, wenn man auf das griechische Wort für “Offenbarung”, apokálypsis, schaut. Diese kann man nämlich auch mit “Enthüllung, Aufdeckung” übersetzen. Und tatsächlich: Die Heilige Schrift ist auch eine geisterfüllte Aufdeckerin von Mechanismen, die das menschliche Miteinander beherrschen. So entlarven z. B. das Buch der Sprichwörter und der Jakobusbrief, wie sehr unser Miteinander auf gelingender Sprachkultur basiert bzw. wie zerstörerisch und verheerend der Missbrauch von Sprache wirkt. Innerhalb der kleinen Komposition Mk 9,30-32.33-37 wird durch die Nebeneinanderschaltung der Verse 32-34 verdeutlicht, wie Menschen es schaffen können, nichts zu verstehen, auf Nachfrage zu verzichten, aber dennoch weiter dumm daher zu reden! Die Lektüre lohnt, bleibt einem aber fast im Halse stecken, wenn man sich selbst und andere beobachtet – auch in der Kirche! Eben: Jünger(in) zu sein ist kein Verhinderungsautomatismus!

Ein biblischer Text zu Führung und Leitung

So eingestimmt, soll eine kleine Kernbohrung zum Thema “Führung” vorgenommen werden. Grundlage soll – der Kürze wegen – eine kleine Versauswahl aus der biblischen Exoduserzählung sein:

Ex 13,17-22; 14,10-14
17 Als der Pharao das Volk ziehen ließ, führte sie Gott nicht den Weg ins Philisterland, obwohl er der kürzere war. Denn Gott sagte: Die Leute könnten es sonst, wenn sie Krieg erleben, bereuen und nach Ägypten zurückkehren wollen. 18 So ließ sie Gott einen Umweg machen, der durch die Wüste des Roten Meeres führte. Geordnet zogen die Israeliten aus dem Land Ägypten hinauf. 19 Mose nahm die Gebeine Josefs mit; denn dieser hatte die Söhne Israels beschworen: Wenn Gott sich euer annimmt, dann nehmt meine Gebeine von hier mit hinauf! 20 Sie brachen von Sukkot auf und schlugen ihr Lager in Etam am Rand der Wüste auf. 21 Der HERR zog vor ihnen her, bei Tag in einer Wolkensäule, um ihnen den Weg zu zeigen, bei Nacht in einer Feuersäule, um ihnen zu leuchten. So konnten sie Tag und Nacht unterwegs sein. 22 Die Wolkensäule wich bei Tag nicht von der Spitze des Volkes und die Feuersäule nicht bei Nacht.

10 Als der Pharao sich näherte, blickten die Israeliten auf und sahen plötzlich die Ägypter von hinten anrücken. Da erschraken die Israeliten sehr und schrien zum HERRN. 11 Zu Mose sagten sie: Gab es denn keine Gräber in Ägypten, dass du uns zum Sterben in die Wüste holst? Was hast du uns da angetan, uns aus Ägypten herauszuführen? 12 Haben wir dir in Ägypten nicht gleich gesagt: Lass uns in Ruhe! Wir wollen Sklaven der Ägypter bleiben; denn es ist für uns immer noch besser, Sklaven der Ägypter zu sein, als in der Wüste zu sterben.
13 Mose aber sagte zum Volk: Fürchtet euch nicht! Bleibt stehen und schaut zu, wie der HERR euch heute rettet! Wie ihr die Ägypter heute seht, so seht ihr sie niemals wieder. 14 Der HERR kämpft für euch, ihr aber könnt ruhig abwarten.

Wir steigen mitten in die Erzählung ein und lesen synchron. D. h. es wird nicht nach Entstehungszeiten unterschiedlicher Textschichten, eventuellen Spannungen im Text und sich verändernden Perspektiven gefragt. Und ganz sicherlich sind exegetisch ganz andere Fragen zu verhandeln, als jetzt beleuchtet werden. Maßstab für die Textbefragung ist einzig die Perspektive des Lebensthemas von Valentin Dessoy anlässlich der Feier seiner – biblisch betrachtet – Lebensmitte (vgl. Gen 6,3): Führen und Leiten.

Intransparenz und Ambivalenz

Als Erstes – d. h. im Blick auf die ersten beiden Versen unseres Textes – bleibt festzustellen: Der Führungsstil Gottes ist alles andere als transparent.

Der Führungsstil Gottes ist alles andere als transparent.

Dies ergibt sich, wenn man berücksichtigt, dass immer in erzählerischen Texten die Perspektive der in der Erzählung handelnden Personen von derjenigen zu unterscheiden ist, die die Leserschaft einnimmt. Diese weiß bzw. erfährt in der Regel mehr. So erfährt das Volk über die Hintergründe der Wahl eines Umwegs unter Vermeidung des Philisterlandes nichts. “Denn Gott sagte” ist wörtlicher zu übersetzen als: “Gott dachte” bzw. “Gott sagte zu sich selbst”. Der “allwisswende Erzähler” hält die Erklärung für das Ansinnen Gottes nur zur Mitteilung für die Lesenden parat, während Mose und seine Leute einfach nur einen Weg ziehen, der ihnen irgendwie vorgegeben zu sein scheint. Aber selbst in der Begründung des “allwissenden Erzählers”, also des biblischen Verfassers, bleibt noch eine Offenheit: Was bewegt Gott eigentlich, wenn er die Rückkehr des Volkes nach Ägypten unbedingt verhindern will? Geht es ihm um den Schutz des Volkes oder um den Verlust eigenen Ansehens, wenn das von ihm initiierte Unternehmen der Befreiung scheitern würde? Natürlich liegt die biblische Antwort auf diese Frage auf der Hand.

Dass sie aber keineswegs selbstverständlich ist – so, wie richtige Antworten keineswegs automatisch von allen geteilt werden – zeigt die Paradieserzählung, wenn die Schlange das Essverbot mit Gottes Privilegienrettung für sich selbst begründet, während die erzählte Wahrheit ist, dass der Mensch mit der erlangten Allwissenheit überfordert ist und die Erkenntnis seiner Nacktheit gar nicht aushält (vgl. Gen 3,1-7). Die Position der Schlange ist dabei keineswegs aus der Luft gegriffen, als käme sie im Volk Gottes nicht vor. Und weiter: Die berühmte Totengebein-Vision in Ez 37 changiert zwischen einem Gott, dem es um das Leben der Menschen geht im Sinne der Beseitigung von Verhältnissen, die eher dem Tod ähneln, und einem Gott, dessen Hauptziel die Anerkennung seiner selbst zu sein scheint (vgl. Ez 37,6).

Dies lässt sich von Menschen, gerade wenn sie führen und leiten, aber nicht automatisch und immer voraussetzen. Intransparenz und Ambivalenz sind da eher Versuchungen als Lösungen.

Zurück zum Ausgangstext und zusammengefasst: Gottes Führungsstil ist zumindest aus menschlicher Perspektive an dieser Stelle (Ex 13,17-18) ein eher ambivalenter. Und Menschen sollten sich gut überlegen, ob sie es sich leisten können, einen solchen Stil zu übernehmen. Biblisch funktioniert dies ja nur, weil letztlich vonseiten des Erzählers keine Sekunde gezweifelt wird, dass die Absichten Gottes, selbst als nicht offenbarte, menschendienliche und letztlich liebevolle sind (vgl. oben Weish 11,26). Dies lässt sich von Menschen, gerade wenn sie führen und leiten, aber nicht automatisch und immer voraussetzen. Intransparenz und Ambivalenz sind da eher Versuchungen als Lösungen.

Fremdbestimmung

V 19 bringt ein ganz anderes Thema zur Sprache. Seit dem Tod des Jakobsohnes Josef werden dessen Gebeine gehütet wie ein Schatz. Sie sollen laut Vermächtnis des Sterbenden (vgl. Gen 50,25), der in V 19 ausdrücklich zitiert wird, im verheißenen Land ihre letzte Ruhe finden. So stehen sie für Verheißung und Vertrauen in die Zukunft einerseits sowie für Tradition und Kontinuität in den neuen Zusammenhängen, in denen man einst zu stehen hofft, andererseits.

Welche “Leichen” schleppen wir eigentlich mit und was wird da – vielleicht viel weniger ausgesprochen als aber auf subkutaner Ebene massiv wirkungsvoll – mittransportiert?

Jedoch: Es gibt auch eine andere Seite. Josef ist eine komplexe Gestalt. Als Junge war er für seine Brüder eine eher unangenehme Figur, die beim Vater gerne petzte und von der Position als Vaters Liebling zehrte. So sehr er als von den Brüdern Preisgegebener, dann am ägyptischen Hofe Aufgestiegener und sich am Ende mit seinen Brüdern Versöhnender positiv dargestellt wird, wird schlussendlich der Makel an ihm haften bleiben, eine ägyptische – also fremdgläubige – Priestertochter geheiratet zu haben. Sein Name wird aus der Zwölf-Stämme-Liste verschwinden und durch die Namen seiner beiden Söhne Ephraim und Manasse ersetzt werden. Auch findet er sein Grab nicht im elterlichen Begräbnis von Machpela.

Und schon stellt auch diese kleine Notiz aus V 19 eine Frage ans Führen und Leiten: Welche “Leichen” schleppen wir eigentlich mit und was wird da – vielleicht viel weniger ausgesprochen als aber auf subkutaner Ebene massiv wirkungsvoll – mittransportiert? Lippenbekenntnisse zur angeblichen Bedeutsamkeit oder gar scheinbar würdigende Rituale können auf Dauer nicht die Bruchlinien kaschieren. “Leichen” als Fremdbestimmer unterwandern gelungene Führung und hilfreiches Leiten.

Keine Propaganda

Ein letzter Tiefenblick: die Verse 10-14 des 14. Kapitels. Zuerst tauchen die Geführten auf: Die Situation wird brenzlig; und schon ist sie da – die große Angst. Ist sie erst einmal ausgelöst, ist der nächste Schritt nicht mehr weit: Das gesamte Unternehmen – in diesem Fall der Auszug aus dem Sklavenhaus Ägypten – wird in Frage gestellt. Natürlich sind auch die sofort auf dem Plan, die angeblich immer schon wussten und von jeher gesagt haben, wie unsinnig bereits die Ausgangsidee einer Flucht gewesen sei. Auf einmal wird die Katastrophe, aus der man nichts wie weg wollte, zur vergoldeten Vergangenheit, die man sich wieder herbeisehnt und die immer noch besser ist als eine Auseinandersetzung, die in diesem Fall tatsächlich das Leben kosten könnte.

Jünger(in) zu sein ist kein Verhinderungsautomatismus!

Am Punkt des eintretenden Risikos, der Gefährdung, zeigt sich, dass dieser Zug durch die Wüste eher ein fragloses Mitlaufen mit Mose und seinem Gott war. Der Erfolg ungestörter Wüstenwanderung war Legitimation genug für das Unternehmen. Die plötzlich auftauchenden Ägypter – später werden es Krisen wie Wassernot, Nahrungsmangel oder eine Schlangenplage sein – offenbaren, dass es Mose bislang offensichtlich nicht gelungen ist, den eigentlich tragenden Grund der großen Rettung, Gott selbst, in die Herzen einzupflanzen. Wenn Glaube etwas mit Vertrauen zu tun hat, zeigt sich, dass dieses durch keine Führung verordnet werden kann und langer Einübungsfristen bedarf.

Gerade aber in dieser Situation erweist sich Mose als einer, der – ohne je ein Seminar besucht zu haben – alles richtig macht. Er lässt sich von der Panik und Angst der Menschen nicht anstecken. Er hält sie ihnen aber auch nicht anklagend vor. Er wird kein bisschen unsicher und wechselt nicht einfach das Konzept: z. B. einen neuen Gott hervorzaubern; von einer göttlichen Führung umswitchen auf einen viel stärkeren Einsatz der menschlichen Kräfte; Auflösung der Gemeinschaft nach dem Motto: Jeder rette sich selbst; Versuch einer Wiederunterwerfung unter die Ägypter mit entsprechenden Ergebenheitsadressen; oder was sonst noch denkbar wäre.

Wenn Glaube etwas mit Vertrauen zu tun hat, zeigt sich, dass dieses durch keine Führung verordnet werden kann und langer Einübungsfristen bedarf.

Nein, der tief sitzenden Angst der Geführten setzt er die in ihm noch tiefer verwurzelte eigene Furchtlosigkeit entgegen. Mit dieser möchte er anstecken. Er bleibt bei dem, was bzw. wer ihn bisher getragen hat. Und so ist er zutiefst authentisch. Verkündeter Glaube an den mitgehenden, im Namen selbst sich für die Seinen verwendenden Gott JHWH (“Er ist wirksam da”) und ein tatsächliches, durch das Leben ratifiziertes Vertrauen in ihn passen bei Mose zusammen. Und diese Authentizität erschafft ihm Autorität.

Zugleich ist sein Glaube Grund genug, nicht in unsinnigen Aktionismus zu verfallen. Die Rettung kann – in diesem konkreten Fall zumindest – nur bei dem liegen, der das Unterfangen des Auszugs in Gang gesetzt hat: “Schaut zu, wie der HERR euch heute rettet!” Damit ist keine generelle Maxime ausgegeben, als könne man sich immer mit dem zusehenden Stehenbleiben genügen. Am Beginn des Buches Numeri wird Mose eine Musterung seines wehrtauglichen Personals durchführen, weil er auch mit Kämpfen rechnet. Aber Mose scheint die Gabe der Unterscheidung zu haben, wann menschlicher Einsatz mit allen Kräften gefordert ist und wann er reine Selbstüberschätzung wäre. Das setzt Distanzierungsvermögen sich selbst gegenüber voraus statt jeglicher Form von Selbststilisierung und Überheblichkeit. Diese Fähigkeit erwächst aus dem grundlegenden Vertrauen in einen Größeren, von dem er zutiefst glaubt, dass er es gut meint. Aus solcher Haltung lässt sich im Sinne bester Führung und Leitung zurufen: “Fürchtet euch nicht!”, ohne dass es wie ein Trostpflästerchen klingt.

Aber Mose scheint die Gabe der Unterscheidung zu haben, wann menschlicher Einsatz mit allen Kräften gefordert ist und wann er reine Selbstüberschätzung wäre.

So wären Authentizität und aus ihr erwachsende Autorität weitere Basics, die bereits die Heilige Schrift jeder und jedem, die bzw. der führt und leitet, mit auf den Weg gibt. Das gilt generell, ist aber, wo Führen und Leiten sich mit dem Glauben verbinden, noch einmal eine besondere Herausforderung: Glaube ich selbst den Grundsätzen, und vor allem dem Gott, die bzw. den ich verkünde und für den ich nach außen stehe, oder bin ich nur dessen selbst nicht überzeugter Propagandist? Im zweiten Fall wäre es höchste Zeit, die Führung abzugeben – zum eigenen und der Anderen Wohl.

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