012023

Foto: Tobi Kellner - Eigenes Werk, CC BY-SA 3.0

Konzept

Christiane Bundschuh-Schramm

Vom Change des Göttlichen

Überall ist von Change die Rede, von Change in Gesellschaft und Kirche und von der Notwendigkeit, Change bewusst zu gestalten. Es wird Zeit über den Change des Göttlichen ins Gespräch zu kommen. Auch angesichts des Gottes, der fehlt.

Gott fehlt

Gott fehlt. Die gesellschaftlichen Krisen machen auch vor Gott nicht Halt. Vielmehr ist der Gott, der vor ihnen schützen sollte, durch die Krisen selber in die Krise geraten. Gott fehlt, was allerdings nur diejenigen feststellen müssen, die bisher an einen gegenwärtigen Gott geglaubt haben, oder die bislang dachten, sie kennen Gott gut genug, um ihn als einen Bekannten zu begreifen.

Gott fehlt. Gott zerrinnt zwischen den Fingern der Gläubigen, und sie scheinen ohnmächtig zusehen zu müssen. Gott fehlt auf einmal nicht den anderen, denen man bislang ein Defizit andichten wollte. Gott fehlt denen, die Gott für unabkömmlich und für unverzichtbar hielten, auch wenn viele auf Gott längst verzichtet haben.

Auch den Gläubigen wird klar, dass man ohne Gott auskommen kann, gut auskommen kann und vielleicht sogar – das wäre dann die nächste Epoche – ohne Gott auskommen muss.

Das säkulare Zeitalter, so Charles Taylor, ist also endgültig angebrochen. Auch den Gläubigen wird klar, dass man ohne Gott auskommen kann, gut auskommen kann und vielleicht sogar – das wäre dann die nächste Epoche – ohne Gott auskommen muss. Weil Gott fehlt. Weil Gott abhandenkommt, weil Gott zerrinnt, und zwar auch denen, die an Gott glauben wollen.

Bekanntlich liegt in der Krise auch eine Chance. Die Chines:innen wissen das besser als wir, denn sie haben für Krise ein Wort, das aus Gefahr und Chance zusammengesetzt ist. Aus der Perspektive der Kirchenentwicklung begrüße ich es, dass diese nicht mehr nur an der Oberfläche kratzen kann. Organisationsentwicklung, Personalentwicklung, pastorale Entwicklung brauchen wir alles, aber alles ist nichts, wenn die Krise nicht tief genug begriffen wird und die Entwicklung nicht weit genug geht, wenn es bei der Optimierung bleibt und man die Zusammenhänge zwischen einer monarchisch-absolutistischen Organisation und einem entsprechenden Gottesbild nicht sehen will.

Gott fehlt. Aber welcher Gott ist es? „Gott fehlt“ könnte auf die Notwendigkeit verweisen, Gott loszulassen, den gewünschten und zur Stabilisierung patriarchaler Verhältnisse erdachten Gott fallen zu lassen. Den Gott, der doch oft nicht mehr ist als ein Mann, auch bei mir. Ein größerer Mensch, der meine Wünsche erfüllen soll, und auch wenn ich bereits wie viele andere weiß, dass er es nicht tut, ist es dennoch schwer, diese Vorstellungen tatsächlich zu überwinden, den Gott nicht zum eigenen Vorteil zu nutzen, dem Gott nicht die Dinge, die nicht funktionieren, in die Schuhe zu schieben.

So wäre es auch systemisch notwendig, Gott neu zu denken und in Erfahrungen, in Sprache und Symbol neu zu suchen, ohne die Gewissheit, dass Göttliches wieder zu finden ist.

In der individuellen Biographie gibt es zuhauf die Erfahrung, dass nur ein Gottlassen eine tiefere Erfahrung ermöglicht, ohne die Garantie, dass es tatsächlich so kommt. So wäre es auch systemisch notwendig, Gott neu zu denken und in Erfahrungen, in Sprache und Symbol neu zu suchen, ohne die Gewissheit, dass Göttliches wieder zu finden ist. Und vielleicht braucht es davor eine Zeit der Leere und der Bereitschaft, diese zuzulassen. Hans-Joachim Höhn (2022, 47) schreibt: „Es gibt Fragen und Zweifel, die nur um den Preis der Verflachung des Glaubens ausgeblendet werden können […] Der Schmerz, dass Gott fehlt, dass seine rettende Gegenwart vergeblich erfleht wird […]. Wenn für diese Fragen keine passende Sprache zur Verfügung steht, kann es auch für mögliche Antworten nicht die richtigen Worte geben.“

Götter ändern sich – Hoffnung für die Theologie

When Gods change. Hope for theology – mit diesem Titel hat schon 1980 Charles S. McCoy seine Leserschaft überrascht. Die globalen Veränderungen in Gesellschaft und Kirche, die auch einen Change im Blick auf die Theologie erfordern, sind keine Kleinigkeit für diese und doch ein Segen. Allerdings muss die Herausforderung angenommen werden, darf man sozusagen keine Angst davor haben, dass am Ende kein Stein auf dem anderen bleibt, wie die Bibel weiß: „Jesus aber sprach zu ihnen: Seht ihr nicht dies alles? Wahrlich, ich sage euch: Hier wird kein Stein auf dem anderen bleiben, der nicht niedergerissen wird!“ (Matthäus 24,2). Beim biblischen Pick and Choose wird dieser Satz gerne ausgelassen. Doch die Vermeidung des theologischen Diskurses hat ihre verständlichen Gründe: Das Risiko ist tatsächlich hoch, die Plausibilisierung eines göttlichen Grundes oder einer göttlichen Geistkraft für moderne und spätmoderne Menschen schwierig geworden. Die Alternative, im Widerspruch zu glauben, also die moderne Welt bis in ihre Feinheiten zu akzeptieren und beim Glauben eine irrationale und fundamentalistische Ausnahme zu machen, ist für die schlingernden Kirchen und ihr Personal eine Versuchung, aber verbietet sich aufgrund der guten Tradition, Glaube und Vernunft in Einklang bringen zu wollen und nicht wider Vernunft, Verstand und Alltagserfahrung an überkommenen Glaubensinhalten festzuhalten.

Gott im Präsens

Emergenz bezeichnet die Möglichkeit der Entstehung von Neuem, ohne dass dies aus den einzelnen Teilen erklärt werden kann, auch wenn die Interaktion dieser Teile Voraussetzung ist.

In einer Situation, in der die Grundpfeiler wanken und die Leere ernstgenommen werden muss, sind wir angewiesen auf Emergenz. Das Wort Emergenz ist abgeleitet vom lateinischen Verb emergere; dieses bedeutet transitiv „auftauchen lassen“, intransitiv „auftauchen, entstehen“. Emergenz bezeichnet die Möglichkeit der Entstehung von Neuem, ohne dass dies aus den einzelnen Teilen erklärt werden kann, auch wenn die Interaktion dieser Teile Voraussetzung ist. Angewendet auf die Theologie achtet eine emergente Theologie auf die Interaktion aller möglichen Einzelnen und legt den Fokus auf deren Konkreativität (Heinrich Rombach), um etwas Neues über Gott zu erfahren. In einer emergenten Theologie bekommt daher die Gegenwart den Vorzug vor der Vergangenheit und der Zukunft, denn in der Gegenwart entsteht die Chance, dass Göttliches auftaucht oder entsteht. Wie Johannes Först und Peter Frühmorgen (2020, 31) schreiben: „Gott ist stets in den aktuellen Situationen der gegenwärtigen Zeiten zu finden, nicht außerhalb“. Auch die Mystik kennt diese Betonung des Gottes im Präsens. Meister Eckhart schreibt: „Gott ist ein Gott der Gegenwart. Wie er dich findet, so nimmt und empfängt er dich, nicht als das, was du gewesen, sondern als das, was du jetzt bist“. Auch das alttestamentliche „Jahwe“ kann so gelesen werden: „Ich bin jetzt da“, „Ich bin der/die Gegenwärtige“, „ich bin in der Situation verborgen und scheine (vielleicht) auf“, „ich bin im Angang der Situation“ (nach Heinrich Rombach), „in Ankunft“. Hören wir auf die Leutetheolog:innen (Monika Kling-Witzenhausen) der Gegenwart, auf den Glaubenssinn der Gläubigen und Ungläubigen: „Warum haben wir Gott jemals in den Himmel gesetzt? Irgendwo so weit weg. Wir haben ihn von der Erde entfernt, von unseren Menschen, unseren Flüssen und unseren Bergen. Warum kann der Himmel nicht hier sein, auf der Erde? Das Wunder des Lebens muss also kein Kind der Erlösung sein und die Wunder der Welt keine Prüfung der Versuchung. Was wäre, wenn wir nicht nach oben schauen müssten, sondern nur auf das, was uns am nächsten ist?

In einer emergenten Theologie wird Gott nicht mehr von einer geschlossenen Männerhierarchie definiert und nicht allein in Universitäten erforscht, sondern muss und kann in den Ereignissen des Lebens entdeckt werden, gesucht, gefunden und wieder verloren werden, denn die Gegenwart vergeht.

Wenn das Göttliche uns allen gehört und von uns allen berührt werden kann. Vielleicht würden wir dann sehen, wie würdig wir sind, und wie würdig jeder Fremde, jeder Liebende, jeder Stein und jeder Wassertropfen, wie würdig das alles des Lebens ist.“ (Aurora 2022: A Touch of the Divine). In einer emergenten Theologie wird Gott nicht mehr von einer geschlossenen Männerhierarchie definiert und nicht allein in Universitäten erforscht, sondern muss und kann in den Ereignissen des Lebens entdeckt werden, gesucht, gefunden und wieder verloren werden, denn die Gegenwart vergeht. Aber im Rückblick lässt sich sagen: An diesem Ort war Gott und wir wussten es nicht. So erzählt schon die Bibel, wenn sie Jakobs Traum im Rückblick wahrnimmt: „Jakob erwachte aus seinem Schlaf und sagte: Wirklich, der Herr ist an diesem Ort, und ich wusste es nicht. Furcht überkam ihn, und er sagte: Wie ehrfurchtgebietend ist doch dieser Ort! Hier ist nichts anderes als das Haus Gottes und das Tor des Himmels. Jakob stand früh am Morgen auf, nahm den Stein, den er unter seinen Kopf gelegt hatte, stellte ihn als Steinmal auf und goss Öl darauf. Dann gab er dem Ort den Namen Bet-El (Gotteshaus)“ (Genesis 28,16–19).

Gott im Prozess

In einer emergenten Theologie ist Prozess der Modus des Seins. Auch in der Mystik ist Prozess ein wesentlicher Gesichtspunkt, wie Volker Leppin in seiner Geschichte der christlichen Mystik herausgearbeitet hat. Die Prozesstheologie, entstanden aus der Prozessphilosophie Alfred North Whiteheads und aus der Religionsphilosophie Charles Hartshornes entwickelt dazu konzeptionelle und theopoetische Vorschläge. Die Basis der Wirklichkeit sind Energieereignisse, actual occasions. Wirklichkeit ist Werden und Vergehen, Prozess. Kontinuität basiert nicht auf Substanzen, sondern Prozessen. In Prozessen werden Möglichkeiten zu wirklichen Ereignissen. Alles ist Prozess, alles ist Ereignis. In der wirklichen Welt gibt es nichts Substanzhaftes, Festes und Bleibendes.

Gott wird in der Prozesstheologie bipolar gedacht; unendlich ewig und endlich im Werden: Gott ist die Quelle der Möglichkeiten, und Gott ist nur Gott, nur wirklich, wenn ein (kleiner) Teil dieser unendlichen Möglichkeiten in der Welt auch real wird.

Gott wird in der Prozesstheologie bipolar gedacht; unendlich ewig und endlich im Werden: Gott ist die Quelle der Möglichkeiten, und Gott ist nur Gott, nur wirklich, wenn ein (kleiner) Teil dieser unendlichen Möglichkeiten in der Welt auch real wird. Doch diese Realisierung Gottes in der Welt kann Gott nicht allein bewerkstelligen, denn Gott handelt nicht wie ein Mensch. Gott ist auch kein großer Mensch, so dass die Prozesstheologie alle personalen Gottesbilder mit Vorsicht genießt. Gott als Urgrund der Möglichkeiten ist sozusagen andauernd in der Realisierungsschleife und als solcher verwiesen auf die Welt. Gott ist Gott im Prozess und verwiesen auf die Prozesse der Welt. Insofern ist die Welt – und zwar nicht nur die menschliche, sondern die kosmische – der Körper Gottes. Damit wird Gott durch die Prozesse der Welt berührt, er/sie steht nicht bewegend unbewegt außen, sondern ist in die gelingenden und misslingenden Prozesse involviert, genießt und leidet mit, wenn Intensität glückt oder verfehlt wird. Gott ist die „Macht in Beziehung“, sagt Carter Heyward, und wir Geschöpfe sind aufgerufen „to god“, diese Macht in Beziehung zu realisieren (vgl. Heyward 1986).

„Die Prozesstheologie spricht von zwei Aspekten des göttlichen Handelns in der Welt, von der ‚schöpferischen Liebe Gottes‘ und der ‚erwidernden Liebe Gottes‘. (…) Alfred North Whitehead nannte sie [die schöpferische Liebe Gottes] ‚den Eros des Universums‘. Er dachte dabei an einen kosmischen Hunger nach Werden, nach Schönheit und Intensität der Erfahrung. Der göttliche Eros wird in jedem Geschöpf als ‚anstoßendes Ziel‘ wahrgenommen – oder als ‚das Locken‘. Es ist ein Locken hin zu unserem eigenen Werden, ein Ruf zur Verwirklichung der Möglichkeiten einer größeren Schönheit und Intensität unseres Lebens. Im Gegensatz dazu kann die erwidernde Liebe Agape genannt werden. Der Eros zieht uns an, er ruft: Er ist die Einladung. Die Agape erwidert auf das, was wir geworden sind“, so Catherine Keller, Über das Geheimnis. Gott erkennen im Werden der Welt (2013, 151 f.).

Die Prozesstheologie bekommt gerade eine Schwester in der Ereignistheologie, die von Michael Schüssler, Andree Burke und Hartmut von Sass ins Spiel gebracht wird. Deren Väter und Mütter sind zum Beispiel Dorothee Sölle und Klaus Hemmerle. Dabei ist die Whiteheadsche Variante eher für naturwissenschaftlich denkende Menschen, die ereignisbasierte Sichtweise eher für phänomenologisch orientierte Menschen zugänglich. Basis beider Denkweisen sind aber Prozess und Ereignis als fluide Seinsweisen, die sich einem Stillstellen, Anhalten und vor allem einem Abschluss verschließen. Ein Gott im Prozess und im Ereignis ist nie fertig und eine Kirche, die sich seiner anschließt, kann den schriftlichen und mündlichen Kanon zu keinem Zeitpunkt für abgeschlossen erklären.

Gott im Pilzgeflecht

Das Pilzgeflecht ist ein Bild für Kontakt, Verbundenheit, Verwobenheit und Verwiesenheit. Das Pilzgeflecht ist unterirdisch unsichtbar und doch real wirksam. Alles ist mit allem in Kontakt und alles ist mit allem verbunden.

In der Prozesstheologie ist Gott dasjenige Wesen, das mit allem, was es gibt, im Kontakt ist, und damit alles verbindet. Gott ist in allem und alles ist in Gott

In der Prozesstheologie ist Gott dasjenige Wesen, das mit allem, was es gibt, im Kontakt ist, und damit alles verbindet. Gott ist in allem und alles ist in Gott. Diese All-Verbundenheit muss dann aber auch dynamisch gedacht werden, nicht wie eine Maschine, sondern wie ein organisches Gewächs. Die biblische Perspektive auf diese All-Verbundenheit und All-Verwiesenheit ist Matthäus 25: „Was ihr für einen der Geringsten getan habt, das habt ihr mir getan, was ihr für einen der Geringsten nicht getan habt, das habt ihr mir nicht getan“ (Matthäus 25,40.45).

Anna Lowenhaupt Tsing und Olga Tokarczuk haben das Pilzgeflecht als Bild entdeckt, das uns etwas über die göttliche Anwesenheit in der Spätmoderne verraten könnte. In ihrem Buch Ur und andere Zeiten schreibt Olga Tokarczuk (2009, 209 f.): „Das Pilzgeflecht wächst unter dem ganzen Wald, vielleicht sogar unter ganz Ur. In der Erde, unter dem weichen Waldboden, unter Gras und Steinen, schafft es ein Gewirr dünner Fädchen, Schnürchen und Knäuel, mit denen es alles umspinnt. (…) Das ganze Jahr bringt das Pilzgeflecht seine kalten, feuchten Kinder hervor; und diejenigen, die im Sommer und Herbst auf die Welt kommen, sind die Schönsten. (…) Das Pilzgeflecht gibt keinem seiner Kinder den Vorzug, macht keinen Unterschied zwischen ihnen, allen gibt es gleichermaßen die Kraft zu wachsen und die Sporen auszusenden. Den einen gibt es Geruch, den anderen die Fähigkeit, sich vor dem Auge der Menschen zu verbergen, wieder andere haben Formen, die dem Betrachter den Atmen verschlagen“.

Das Pilzgeflecht ist ein verrücktes Bild für die Welt mit Gott; und wieder sind es Fremdprophetinnen, die uns darauf hinweisen. Mit ihm verbunden ist auf der Metaebene, dass die Theologie durch die Theopoetik ergänzt werden muss, wie es Catherine Keller tut oder wofür Hans-Joachim Höhn aus der Perspektive der religiösen Sprache votiert. Doch bitte spielen wir die Kompetenzen nicht gegeneinander aus. Auch Hans-Joachim Höhn (2022, 45) schreibt: „Wo finden sich Männer und Frauen, die tatsächlich das betreiben, wovon sich die Theologie eigentlich umtreiben lassen müsste: Glaubenssätze werden beständig der kalten Luft des Unglaubens ausgesetzt. Erst nach dieser Durchlüftung ist es zu riskieren, sie auch den Glaubenden vorzusetzen? […] Wo bilden sich Widerstandsgruppen gegen eine banalisierende und trivialisierende Rede vom ‚lieben‘ Gott?“

Gott in Praxis

Die praktische Seite des Christentums ist unumstritten. „Christus hat keine Hände, nur unsere Hände …“, um nur ein die notwendige Praxis betreffendes Bild zu nennen. Umstritten ist eher die theologische Bedeutung des menschlichen Handelns: Ist es zweckorientiert, um in den Himmel zu kommen? Ist es christusorientiert, weil der/die andere Christus ist? Ist es theologisch notwendig, damit Gott werden kann? Ist es konkreativ – Mensch und Gott agieren zusammen?

„An ihren Früchten werdet ihr sie erkennen“, heißt es im Matthäusevangelium (Matthäus 7,16). Doch unabhängig von der theologischen Bedeutung, wie steht es um die theologische Bewertung der einzelnen Handlungen: In welchem Handeln ereignet sich

Göttliches, welche Tat trägt die Spuren Gottes, welche politischen Weichenstellungen realisieren die besten Potenziale Gottes? Einerseits ist ein Habitus der Sicherheit da fehl am Platz, andererseits weiß der gesunde Menschenverstand bei vielen Handlungen, wie unendlich wertvoll sie sind und auf ihre je eigene Weise die Welt retten.

Die Coronapandemie hat uns jedenfalls eine theologische Wende zur Praxis beschert. Dafür steht nicht nur Karlheinz Ruhstorfer, der schreibt:

„Die Coronakrise eröffnet uns eine einzigartige Gelegenheit, uns als Kinder dieser einen Erde zu bewähren. Und wir müssen uns bewähren, weil sich die nächsten sozialen, ökonomischen und klimatischen Krisen bereits anbah­nen. Gleich welchen Glaubens wir sind, gleich ob wir an Gott oder die Vernunft glauben (am besten freilich an beides!): Wir müssen uns als Menschen bewäh­ren. Wir sollen füreinander einstehen und Verantwortung übernehmen und unseren Horizont über alle bisherigen Identitäten hinaus weiten. Die Gren­zen von ‚creed, country, culture, class, colour‘ (Anthony K. Appiah) müssen überschritten werden“ (Ruhstorfer 2020, 28).

Dennoch weiß die christliche Tradition von Anfang an und dank Jesus, dass es auf die Praxis ankommt, und dass sogar Unwissende „to god“ (Carter Heyward) vermögen, dass also selbst bei Denkvergessenheit Gottes die Wirklichkeit Gottes in der Praxis und durch die Praxis der Menschen nicht leiden muss.

Die Wende zur Praxis darf die notwendige Mühe des Weiterdenkens über Gott nicht ersetzen. Nur weil überkommene theologische Topoi in Sackgassen führen und man sich nicht traut, dies einmal offen und ehrlich anzusprechen, sollte man sich nicht in die Praxis flüchten. Dennoch weiß die christliche Tradition von Anfang an und dank Jesus, dass es auf die Praxis ankommt, und dass sogar Unwissende „to god“ (Carter Heyward) vermögen, dass also selbst bei Denkvergessenheit Gottes die Wirklichkeit Gottes in der Praxis und durch die Praxis der Menschen nicht leiden muss. Und ich finde, das ist dann doch ein Trost – sowohl für die, die nichts von Gott halten, als auch für die, die lange meinten, von ihrem Glauben allein hinge das Himmelreich ab. Doch wieder einmal erweist sich das „deus semper maior“ (Ignatius von Loyola).

Literatur:

  • Aurora: “A Touch of the Divine. A Conceptual Experience”, https://www.youtube.com/watch?v=mQWFMflKclw, January 25, 2022.
  • Johannes Först / Peter Frühmorgen, Okkasionelle Pastoral, Würzburg 2020.
  • Carter Heyward, Und sie rührte sein Kleid an. Eine feministische Theologie der Beziehung, Stuttgart 1986 (orig. 1982).
  • Hans-Joachim Höhn, In Gottes Ohr. Von der Kunst poetischer Gottesrede, Freiburg/Br. 2022.
  • Catherine Keller, Über das Geheimnis. Gott erkennen im Werden der Welt, Freiburg/Br. 2013 (orig. 2008).
  • Karlheinz Ruhstorfer, Worauf es jetzt ankommt. Covid-19 und die Frage nach Gott, in: Herder Korrespondenz 74, Heft 9 (2020), 26–28.
  • Olga Tokarczuk, Ur und andere Zeiten, Zürich 2019 (orig. 1996).

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