012023

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Konzept

Günther Emlein

Gott als Hypothese? Systemtheoretische Bemerkungen zu einem Thema, das keines sein kann

Die Unmöglichkeit, Gott zu begreifen

„Herr Pfarrer, warum bin ich krank geworden – ach, Sie wissen es doch auch nicht!“

Hypothesen weben einen Prozess oder einen Gegenstand in eine hypotheseninterne Logik ein. Sie wählen aus (ignorieren anderes!) und verknüpfen das Ausgewählte auf ihre Hypothesenart; in der Regel argumentieren Hypothesen kausal. So berechnen sie auch Gott anhand ihrer Hypothesenlogik – und sei es seine Unberechenbarkeit. Das gibt Gott das Bild eines Täters oder Unterlassers: In beiden Fällen ist er schuld. Die „Negative Theologie“ seit Pseudo-Dionysios Areopagita, die Mystik und die „Belehrte Unwissenheit“ des Nikolaus von Kues hatten schon immer Einwände gegen dieses sprachlich-festlegende Denken – Anlass, zu fragen: Was leistet Sprache und welche von mehr als 5000 ist die richtige? Jede Sprache hat ihre eigene (Be-)Deutung gebende Sicht.

Wörter stehen als Zeichen für Sinn, für Bedeutung. Die Phänomenologie geht davon aus, dass Sinn nicht in der Welt liegt, sondern entsteht, wenn Bewusstsein sich auf die Welt bezieht. Der Bedeutung gebende Sinn operiert weiterhin mit Differenzen – im Gegenüber zu anderem Sinn. Was „Schloss“ bedeutet, hängt davon ab, was auf der anderen Seite der Unterscheidung steht: Schloss/Schlüssel oder Schloss/Hütte. Sinn ist mithin nicht ein-deutig, sondern durch den Kontext festgelegt (de Saussure). Er ist nicht zwingend (= Realität abbildend), sondern eine Auswahl aus anderen Möglichkeiten, gewählte Deutung. Sinn ist kontingent. Andere Sprachen mit anderen Wörtern machen andere Unterscheidungen.

Reden hilft auch nicht

Spracherwerb wiederum geschieht als Kommunikation. Ein Kind lernt mit den Worten, die die Umgebung bietet, zu deuten, wie die Umgebung deutet. Es folgt Anweisungen und passt sich der Kommunikation an. Das Kind lernt nicht einfach Wörter, sondern zugleich den richtigen Gebrauch der Wörter, es lernt die Regeln des Gebrauchs von Wörtern. Das Kind wird, wie Wittgenstein sagt, in ein Sprachspiel einbezogen. Sprache beschreibt nicht denotativ (was „ist“), sondern lehrt anweisend, wie man die Dinge sehen soll. Sprache ist wie ein Gewebe, eine Webvorlage, die anweist, was sein soll. So kann das Sprachspiel anweisen (!): Betrachte die Sprache als Abbild. Das Sprachspiel ist nicht wahrheitsfähig, es ist eine Lebensform, eine Welthaltung. Es gibt keine richtigen und keine falschen Sprachspiele: Die Frage nach Richtig und Falsch ist selbst ein Sprachspiel.

Erzählt sich jemand als religiös, ist das keine Zustandsbeschreibung oder Selbsterschließung, sondern die Beteiligung an einem Sprachspiel; nur dort weiß man, was mit „religiös“ gemeint ist.

Sprache ist allgemein und für alle verständlich und nutzbar. Individuelles (!) Erleben wird mit allgemeiner (!) Sprache mit Sinn versehen: Sprache kann daher Individuelles nicht zeigen, auch nicht Religiöses. Zudem haben Denken und Sagen unterschiedliche Dynamiken. Denken ist mit Erleben und Wahrnehmung gekoppelt: Es entstehen eigene Sinnketten im Bewusstsein, die nicht nach außen dringen. In Kommunikation wiederum folgt auf meine Äußerung (die nach außen dringt) auf überraschende Weise eine Äußerung (die nach außen dringt) einer anderen Person und verändert durch den Anschluss den Sinn meiner Äußerung. Kommunikation bildet eine eigenes, vom Denken der Beteiligten unabhängiges Sinngebilde. In Kommunikation gebe ich aus der Hand, was ich gesagt habe. Erzählt sich jemand als religiös, ist das keine Zustandsbeschreibung oder Selbsterschließung, sondern die Beteiligung an einem Sprachspiel; nur dort weiß man, was mit „religiös“ gemeint ist. Statt Sprachspiel (Wittgenstein) kann ich auch System (Luhmann) sagen. Sinn ist nur systemisch zu haben – im Kontext anderen Sinns.

Immer zu spät

Der Anschluss von Sinn verändert nachträglich (Derridas différance) die Bedeutung des ursprünglichen. Sinn verschiebt sich durch Anschlüsse, er ist Zeitigung, nicht feststehende Bedeutung. Sinn hält nicht fest (Foto), sondern er fließt (Erzählung). Das gilt für beide Sinngebilde, für Denken wie für Kommunikation. Sinn „stellt nicht fest“, sondern er „fließt durch seine Verweisungen“. Und während der Sinn durch die Verweisungskette „fließt“, verschwindet das nicht abbildbare Ereignis in die Vergangenheit und verblasst zur „Spur“ (Derrida).

Was sich dem Sinn entzieht (Welt, Natur, Realität), wird als unheimlich erfahren, als außerhalb der ordnenden Deutung, als unfassbar, als dämonisch; so hat Goethe das Erdbeben von Lissabon 1755 beschrieben und Voltaire hat gegen dieses protestiert – im Namen des Menschen als dem sinnbegabten Wesen.

Während der Sinn durch die Verweisungskette „fließt“, verschwindet das nicht abbildbare Ereignis in die Vergangenheit und verblasst zur „Spur“.

Folgt man diese Hypothesen (!), ist die Gewissheit von Sinn nicht mehr erreichbar. Sprache ist ungewiss und Denken und Kommunikation werden durch Anschlüsse unentwegt verändert zuungunsten eines nicht mehr auffindbaren ursprünglichen Sinns (Derridas Spur). Schleiermacher ahnte, was dies für Religion bedeuten könnte: „Vergeblich ist jede Offenbarung. Alles wird verschlungen von irdischem Sinn“ (Reden, S. 293 der Originalpaginierung). In der sinnförmigen „Hypothese Gott“ ist Gott nicht anzutreffen. Sinn bezieht sich auf sich selbst, weder auf Welt noch auf Gott. Das gilt auch für das Individuum: „Meinen Gott“ kann ich nicht in Worte und Bilder fassen.

Stattdessen: Gesellschaft als Gesamt aller Kommunikation?

Eine „Hypothese Mensch“ würde voraussetzen, dass in Kommunikation „der Mensch“ oder wenigstens sein Bewusstsein auftaucht. Der Mensch ist an Kommunikation beteiligt, aber er ist kausal nicht der Verursacher der Erzählung, die durch den Anschluss durch andere im Nachtrag (différance) in Kommunikation entsteht. Als „Subjekt“, dem alles zugrunde liegt und der alles bewirkt, fällt der Mensch aus.

Hinzu kommt: Kommunikation kann den Sinn, den sie kolportiert, nicht verstehen – sie hat kein Verstehensorgan, wie die Psyche es für den Menschen ist. Somit fällt auch die Gesellschaft als Täterin, als „handelndes Subjekt“ aus.

Eine „Arbeitshypothese: Gott“ ist erst möglich, wenn es aufgrund der Entwicklung anderer Kommunikationskreise zugleich konkurrierende Hypothesen gibt.

Dietrich Bonhoeffer, der die Frage nach der „Arbeitshypothese: Gott“ stellte, vertäute diese Idee an der Entwicklung der Gesellschaft: „Der Mensch hat gelernt, in allen wichtigen Fragen mit sich selbst fertig zu werden ohne Zuhilfenahme der ‚Arbeitshypothese: Gott‘“ (Widerstand und Ergebung, S. 356). Und: „Ich verstehe darunter die Entdeckung der Gesetze, nach denen die Welt in Wissenschaft, Gesellschafts- und Staatsleben, Kunst, Ethik, Religion lebt und mit sich selbst fertig wird“ (ebd.). Ganz richtig: Eine „Arbeitshypothese: Gott“ ist erst möglich, wenn es aufgrund der Entwicklung anderer Kommunikationskreise zugleich konkurrierende Hypothesen gibt. Und: Der Mensch nutzt diese Gesetze für seine Steuerung der Welt – ohne Gott. Bonhoeffer verwendet seine soziologischen Beobachtungen für seine „Hypothese Mensch“ – also ob der Mensch diese Kommunikationskreise steuern könnte.

Eine andere Interpretation kommt ohne die „Hypothese Mensch“ aus. Die „Gesetze der Welt“ kann man als Regeln (!) der Kommunikationskreise lesen, denen der Mensch sich unterordnet. Die Systemtheorie deutet die Auseinander-Entwicklung der Gesellschaft in einander ausschließende Kommunikationskreise spezifisch: als Funktionssysteme einer Gesellschaft, die sich auf funktionale Differenzierung hin entwickelte. Ein Funktionssystem kann man deuten als Lösung eines gesellschaftlichen, also kommunikativen (!) Problems. Dies fokussiert nicht auf Inhalte (der Politik, der Wissenschaft, der Religion usw.), sondern auf die Dreistelligkeit Gesellschaft—Problem—System. Wie kommt es zu kollektiv bindenden Beschlüssen (Politik)? Wie geschieht die Verteilung knapper Güter (Wirtschaft)? Wie werden die Körper, um Kommunikation zu ermöglichen, erhalten (Medizin)? Wie wird erwartbares Verhalten durchgesetzt (Rechtssystem)? Jedes System hat seine eigene Rationalität, die mit den Rationalitäten anderer Systeme nicht kompatibel ist. Corona hat beispielhaft gezeigt: Die Gesellschaft wird nicht mit sich selbst fertig. Was die Medizin richtig fand, wurde von der Politik bekämpft (und umgekehrt), was religiös erwünscht war (Besuche in Altenheimen), wurde juristisch (!) blockiert. Das Auseinanderdriften der Systeme und ihrer Logiken bietet keinen Platz für eine allumgreifende Vernunft und den einen „richtigen Sinn“.

Der Eigensinn des Systems „Religion“

Religion als Funktionssystem zu interpretieren, sucht dessen Sinn nicht bei der Religion selbst (z.B. eine Offenbarung), auch nicht im Menschen, sondern im Bezug auf ein Problem der Kommunikation: Religion behandelt für alle Kommunikation das Problem der Kontingenz von Sinn, das Problem, dass Sinn weder Garantie noch Halt bietet und die Welt dahinter unheimlich geworden ist. Religion befasst sich mit Fragen, die aus Bereichen stammen, die man nicht mit Sinn aufsuchen kann und die deshalb unbeantwortet bleiben: Wie fing die Welt an? Was ist Realität? Wie wird die Zukunft werden? Wer bin ich, wenn ich tot bin und „mich“ nicht spüren kann? Warum ist mir ein gutes Schicksal zugefallen? Was ist jenseits von Sinn?

Religion muss ihre Fragen so beantworten, dass die Unmöglichkeit der Beantwortung selbst sichtbar wird

Weil religiöse Kommunikation unvermeidlicher Weise Sinn verwendet, um ein Jenseits von Sinn zu erzählen, landet sie in dem Selbstwiderspruch der Selbstanwendung. Religion muss ihre Fragen so beantworten, dass die Unmöglichkeit der Beantwortung selbst sichtbar wird. Nach neuen Gewissheiten Ausschau zu halten, wo auch diese auf ungewissem Sinn beruhen, führt nicht weit.

Religion bietet mehrere Alternativen: Mythen, Rituale, Meditation und Mystik, Orientierung an den körperlichen Sinnen, rhetorische Formeln und das Schweigen. Hilfreich ist es, für Beteiligte die unbeantwortbare Frage zu benennen, die jeweils bearbeitet wird.

  • Mythen sind Geschichten, die das Unbestimmbare erzählen. Was war vor der Welt? Antwort: Gott, der dann die Welt schuf. Wer bin ich, wenn aller Sinn und alle Sinne im Tod ausgeschaltet sind? Antwort: Eine unsterbliche Seele.
  • Rituale wirken kommunikativ als Negationsblockaden. Durch ihren festgefügten Ablauf helfen sie über die Irritation aufgrund unbeantwortbarer Fragen hinweg und bannen das Unheimliche. Weil wir die Zukunft des Täuflings nicht wissen können, bitten wir im Ritual der Taufe um Gottes Segen. Weil wir nicht wissen, was nach dem Tod ist, bitten wir am Grab um die Aufnahme des Verstorbenen in Gottes Reich.
  • Meditation und Mystik führen das Bewusstsein an die Grenze von Sinn und entlasten vom Immer-Sinn-verwenden-Müssen. Sie kommunizieren Inkommunikabilität: „Gott in mir“.
  • Körperliche Sinneseindrücke haben ihre eigene Unhintergehbarkeit. Musik als reine Tonalität fasziniert – ohne Deutung. Farbe und Form in Bild und Architektur beeindrucken, ohne dass man die Wirkung in Worte fassen müsste. Ob man im Abendmahl „wirklich“ schmeckt und sieht, wie freundlich Gott ist, bleibt offen und inkommunikabel; dass man schmeckt, ist hingegen gewiss.
  • Rhetorische Formeln reflektieren seit dem 18. Jahrhundert Inkommunikabilität. Die Romantik weiß: Worte geben nicht wieder, „was man fühlt“. Paradoxien, Metaphern, Ironie des „So-tun-als ob“ und Humor sind seither Möglichkeiten, die Kontingenz von Sinn in Kommunikation zu markieren und dabei weiterzukommunizieren. Das „So-tun-als ob“ taucht in der systemischen Seelsorge und Therapie als Hypothetik wieder auf. Man tut so, als ob Gott trotz aller Unerreichbarkeit befragt werden könnte, als ob Gott wohlmeinend über die Schulter schaute und einen Rat geben könnte usw. Würde man so tun, was hätte das für Auswirkungen? Was ist dann anders? Hypothetik ironisiert die Kontingenz von Sinn, indem sie das Jenseits behandelt, als wäre es einfach eine andere Art von Diesseits. Vielleicht ist es für manche hilfreich, wenn sie „so tun, als ob“ sie einen Anker jenseits unserer Welt hätten: Das Leben fällt anders aus.

Eine Alternative könnte sein, mit Ungewissheit leben zu lernen

  • Schweigen ist eine weitere Möglichkeit, mit dem Unsagbaren umzugehen. Wenn man nicht sinnförmig reden kann, dann kann man immer noch schweigen. Stille ist die Atmosphäre des heiligen Raums. Das Schweigen hüllt sich dabei selbst in Schweigen: Es schweigt auch darüber, dass es schweigt, worüber es schweigt.

Alle diese Wege behandeln die Fragen, ohne sie beantworten zu können. Man kann diese Wege als „nichtantwortende Antworten“ oder als „zelebrierte Nichtantworten“ (Peter Fuchs) bezeichnen.

Trost in „transzendentaler Obdachlosigkeit“

Eine Alternative könnte sein, mit Ungewissheit leben zu lernen (Mt 27, 43 + 46). Der Auszug aus dem Ägypten der Gewissheiten ins Gelobte Land der Kontingenz und des Nichtwissens (inkl. „Ehrenrunde“ zum Goldenen Kalb) schützt davor, sich selbst (!) und andere, Gott und Glauben mithilfe der „richtigen“ Sinndeutungen verfügbar zu machen und festzulegen. Man könnte dies als „transzendentale Obdachlosigkeit“ bezeichnen. Am Kreuz ist sie zu finden.

Religion muss sich auf dem Markt der Möglichkeiten bewähren – inmitten der Konkurrenzangebote anderer Religionen, Konfessionen und Funktionssysteme. Die alten Antworten über den Lauf der Welt tragen nur noch bedingt. Wer bei jedem Problem Gottvertrauen empfiehlt (wie gerade wieder bei Corona geschehen und ansonsten bei jeder sich nur bietenden Gelegenheit), begrenzt den eigenen Radius auf die abnehmende Zahl jener, denen diese Nomenklatur noch etwas sagt, und igelt sich dort ein.

Vielleicht wird es ein Trost gewesen sein, wenn Menschen erleben, dass ihre Zweifel und ihre Fragen sein dürfen und in religiöser Kommunikation aufgenommen, getragen und verwandelt werden.

Vielleicht kann Religion Menschen begleiten, die mit den unbeantwortbaren Fragen klarkommen möchten. Vielleicht wird es ein Trost gewesen sein, wenn Menschen erleben, dass ihre Zweifel und ihre Fragen sein dürfen und in religiöser Kommunikation aufgenommen, getragen und verwandelt werden. Der Trost wird darin gewesen sein, dass die Fragen unbeantwortet geblieben sind und deren Irritation ausgehalten wurde. Religion bietet ihre Möglichkeiten an, tut dabei gut daran, diese als „nichtantwortende Antworten“ zu markieren. Berechtigterweise darf man Gott beschuldigen, dass er bei einem Unheil als Täter nicht geschützt hat: In der Klage zeigen sich zugleich Schmerz und Ratlosigkeit ob der Last der Unbeantwortbarkeit der Frage.

Trost ist eine Form der Kommunikation. Dass Schmerz und Ratlosigkeit Gehör finden, wird der Trost gewesen sein. Mit transzendentaler Obdachlosigkeit lässt sich leichter leben, wenn man erzählen kann und Zuhörende findet (Hiob 21, 2-3.5). Die Muttersprache der Kirche ist die Seelsorge, nicht die „richtige Dogmatik“. Gemeinsam geht man auf die Suche, so hat Schleiermacher sich Kirche vorgestellt. Vielleicht kann diese Art teilnahmsvoller Kommunikation Fragenden eine Heimat bieten, wo sie ansonsten zu anderen Adressen des Tranzendentalienhandels abwandern. Weil die Fragen nicht aussterben, solange Sinn kontingent ist, wird es immer Religion geben.

„Sie haben Recht: Ich weiß es auch nicht! Gott hat nicht mit mir über Sie gesprochen.“

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