012023

Foto: Josh Applegate/Unsplash

Konzept

Lars Allolio-Näcke

Über die Gottesidee und ihre Bedeutung für das Heute

Wenn dem Religionspsychologen die Frage nach der Existenz Gottes gestellt wird, so kann er sich schmunzelnd zurücklehnen, denn für diese Frage ist er nicht zuständig. Denn die Frage, ob Gott an sich sei, ist mit psychologischen Mitteln nicht zu beantworten. Wohl aber die des für sich.

Die hinter dieser Frage stehende Wahrheitsfrage wurde schon einmal vor gut 100 Jahren diskutiert und diese Diskussion im Archiv für Religionspsychologie veröffentlicht.1 Dort setzte sich der Nürnberger Pfarrer Wilhelm Stählin, der Gründer der Zeitschrift, mit einem indirekten Gottesbeweis Georg Wobbermins auseinander, der unter Geltung der Wahrheitsfrage und mittels transzendental-psychologischer Methode die Wahrheitsfrage zugunsten des An-sich-Seins Gottes entscheiden wollte.2

Schon Stählin stellte fest, dass die Wahrheitsfrage – die Frage nach der Existenz Gottes – für den Psychologen keine sinnvolle Fragestellung ist, da wahr und falsch keine psychologischen Kategorien sind. Vielmehr muss diese Frage an die Zuständigen im Wissenschaftskanon weitergereicht werden, die sich besser damit auskennen: Philosophen und Philosophinnen und Theologen und Theologinnen. Zwar könne der Wahrheitsanspruch als psychisches Phänomen untersucht werden, nicht aber das Phänomen an sich. Aufgabe der Religionspsychologie sei vielmehr, so Stählin, die Phänomene, die im Wahrheitsanspruch einer Religion auftreten, zu beschreiben und Zusammenhänge und Beziehungen zwischen verschiedenen religiösen und profanen Phänomenen zu erklären.

Die Wahrheitsfrage – die Frage nach der Existenz Gottes – ist für den Psychologen keine sinnvolle Fragestellung, da wahr und falsch keine psychologischen Kategorien sind.

Um es noch zu verkomplizieren, führt er weiter aus, dass der religiöse Glaube von der Existenz seiner Gegenstände überzeugt sei. Es sei aber falsch zu unterstellen, dass das religiöse Bewusstsein die Realität seiner Gegenstände behaupte – vielmehr setze es die Realität dieser Gegenstände unhinterfragt voraus. Das ändert sich auch nicht, wenn Descartes die Frage nach dem Gotteszweifel stellt und zum Schluss kommt: cogito ergo sum!3 Die Voraussetzung der Existenz Gottes schmälert das nicht.

Demnach kann der Religionspsychologe die unhinterfragten Gegenstände der Religion selbstverständlich als psychische Inhalte – also für sich – untersuchen. Tut er dies, muss er feststellen, dass die Idee Gottes eine wirksame ist. So wie das Bewusstsein sich andere Gegenstände vorstellen kann, so kann auch die Idee Gottes im Bewusstsein wirken. Zwar unterscheidet sie vom Gegenstand, dass sie eben nicht gegenständlich, sondern ideal ist – dennoch ist ihre Wirksamkeit genauso groß wie die Vorstellung eines Gegenstandes.

So wie das Bewusstsein sich andere Gegenstände vorstellen kann, so kann auch die Idee Gottes im Bewusstsein wirken.

Wir haben also, so Stählin weiter, religiöse Überzeugungen und sind selbstverständlich davon überzeugt, dass unsere Überzeugungen wahr sind. Dieses ‚Wahr-Sein‘ aber sei keine analytische Antwort auf eine wissenschaftliche Frage, sondern werde ‚naiv‘ vorausgesetzt. So liege das Interesse des glaubenden Subjekts nicht an der Wahrheit, sondern an der Gewissheit der Glaubensüberzeugungen. Es sei nicht der Irrtum, sondern der Zweifel, der überwunden werden solle.

Nun wurde dem Religionspsychologen nicht nur die Frage nach der Wahrheit, sondern auch die nach dem heutigen Nutzen der Gottesidee gestellt. Anthropologisch antwortet Religion auf nichts (mehr), auch wenn ihr Kant (noch) die Frage nach der Hoffnung zuordnet,4 denn sie kann nicht als einzige bzw. notwendige Antwort auf die offenen Fragen des Menschen angesichts seiner Endlichkeit, der Suche nach Sinn und der Erfahrung von Sinnlosigkeit verstanden werden.

So liege das Interesse des glaubenden Subjekts nicht an der Wahrheit, sondern an der Gewissheit der Glaubensüberzeugungen.

Sie hat heute lediglich Angebotscharakter, solche Fragen – ihr entsprechend – zu beantworten und die Wahrnehmung von Ereignissen – ihr entsprechend – zu klassifizieren, weil sie nicht (mehr) zu den selbstverständlichen Denk- und Lebensvoraussetzungen gehört. Sie ist zu einem Modell neben anderen geworden, das dem Menschen zur Beantwortung von solchen Fragen zur Verfügung steht, z. B. mit der Erkenntnis die grundsätzliche Begrenztheit des Menschen (Kontingenzbewältigung) akzeptieren zu können und damit kognitive Entlastung herzustellen. Zudem handelt es sich beim Angebot der Religion nicht (mehr) um ein ‚Gesamtpaket‘, sondern sie kann für Menschen in Teilbereichen oder in Ausschnitten von Bedeutung werden, z. B. das Erleben von Gemeinschaft, Teilhabe an bestimmten Festen und Feiern, was insbesondere von der Lebensstilforschung betont wird.5Deshalb ist Religion – individuell wie kollektiv – nicht notwendig, aber hinreichend und sinnvoll.

Deshalb ist Religion – individuell wie kollektiv – nicht notwendig, aber hinreichend und sinnvoll.

Das führt den Religionspsychologen regelmäßig dazu, fragenden jungen Erwachsenen anzuraten, ihre Kinder religiös zu erziehen und zu unterweisen, als ihnen tabula rasa zu verordnen, um deren Mündigkeit bei der Entscheidung für oder gegen die Gottesidee zu respektieren. Gotteserfahrungen, die ein Kind macht, die mit Seele und Leben gefüllt sind, sind das Fundament uneingeschränkten Glaubens, sie sind Voraussetzung, Dinge an Gott abgeben zu können, sich kognitive Entlastung zu verschaffen und auf eine Gemeinschaft zu vertrauen, die im gleichen Gewissheitsverständnis vereint ist. Diese Erfahrungen können in der Form nicht nachgeholt werden. Später Kontakt mit der Religion kann zwar auch zum Glauben führen, er unterscheidet sich aber wesentlich von dem, was ein Mensch empfindet, der im Glauben aufgewachsen ist. Dieser Glaube bleibt immer ein bisschen blutleer. Angst vor einer religiösen Deformation brauchen die Eltern nicht haben, denn spätestens in der Adoleszenz stellt sich für jede/n die Grundsatzfrage: „Was bedeutet dir dieses Symbol, dieses Ritual, ja, dieses Ding?“6 Je nachdem, wie ein Individuum diese Frage beantwortet, fällt auch die weitere religiöse Entwicklung aus – und diese kann jederzeit mit dem Bedeutungsverlust in der Adoleszenz – oder auch später – enden. Idealerweise findet ein Arrangement mit den Diskrepanzen statt, die nicht zum Abbruch, sondern zur Individualität in der Kollektivität führen.

  1. Stählin, Wilhelm (1921). Die Wahrheitsfrage in der Religionspsychologie. In: Archiv für Religionspsychologie, 2–3, 136–159.
  2. Wobbermin, Georg (1913). Psychologie und Erkenntniskritik der Religiösen Erfahrung. In: Ders., Zum Streit um die Religionspsychologie (28–56). Berlin.
  3. Descartes, René (1641). Meditationes de prima philosophia, in qua Dei existentia et animae immortalitas demonstratur.
  4. Kant, Immanuel (1923). Logik. Ein Handbuch zu Vorlesungen. In: Kant’s Werke Band IX, Berlin 1923 (Akademieausgabe), 25.
  5. Streib, Heinz (1997). Religion als Stilfrage. Zur Revision struktureller Differenzierung von Religion im Blick auf die Analyse der pluralistisch-religiösen Lage der Gegenwart. In: Archiv für Religionspsychologie, 22, 48–69.
  6. Boesch, Ernst E. (1980). Kultur und Handlung: Einführung in die Kulturpsychologie. Bern, 249f.

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