22018

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Statements

Ursula Nothelle-Wildfeuer

„Staubsauger-Pastoral“ oder: Gottes Spuren in allen Straßen und Häusern? 

„So verführerisch es auch sein mag, die KiTa ist kein ‚Staubsauger‘, um Kinder und Eltern in die Kirche zu bringen und der ‚eigentlichen‘ Gemeinde (Pfarrgemeinde) zuzuführen.“1

Es ist dieses Bild vom „Staubsauger“, an dem ich sofort hängengeblieben bin.  

Staubsauger? Im Kontext von Pastoral? Zumindest ein ungewohnter Vergleich. Man kann den Zusammenhang in wenigen Strichen vielleicht so charakterisieren: Valentin Dessoy kritisiert mit diesem Bild eine Art der Pastoral, die zwar zahlreiche unterschiedliche und attraktive Zugänge sucht, um Menschen zu Gott und zum Evangelium zu führen, sie anzuziehen, in diesem Sinne des Wortes „anzusaugen“, um sie dann aber über dieses Vorfeld hinaus, das nur eine vorläufige Bedeutung hat, dem Eigentlichen zuzuführen. Dieses (vermeintlich) Eigentliche ist das, worum es mir in den folgenden Überlegungen geht.  

Es weckt nämlich Erinnerungen wach an eine Debatte, die bereits lange anhält und gerade aktuell auch noch einmal an Relevanz gewinnt, nämlich die Debatte um die Frage nach der Bedeutung unseres christlichen Engagements in dieser Gesellschaft: Ist dieses Engagement konstitutiv für den Glauben und seine Entfaltung oder nebensächlich, weil einfach nur „humanistischer Mainstream“ und deswegen kein proprium christianum? Um es noch einmal anders auf einen Punkt zu bringen: Ermöglicht auch solches Engagement Gottesbegegnung, oder ist es ein Nebenprodukt, abgeleitet aus dem, was eigentlich wichtig ist? 

1. Die Rede vom Eigentlichen  

Wenn die Rede vom Eigentlichen ist, dann gibt es immer zugleich auch das, was nicht zum Eigentlichen gehört, sondern was Peripherie, was unwesentlich ist. In Zeiten wie den unsrigen, in denen kirchliche und gesellschaftliche Umbrüche massive Herausforderungen darstellen, in denen neu zu klären ist, wie heute und auf Zukunft hin das Evangelium verkündet werden und die darin zum Ausdruck kommende Hoffnung das Leben prägen kann, ist oft genug zu hören, die Kirche solle sich auf das Wesentliche konzentrieren. Und das Wesentliche ist das Eigentliche. Vom „Kerngeschäft“ ist in gut betriebswirtschaftlicher Manier die Rede, man solle Prioritäten und Posterioritäten sortieren. Wer würde da nicht zustimmen? Soweit gibt es durchaus breiten Konsens in Kirchen- und Theologenkreisen.  

Was gehört zum Kerngeschäft?

Aber, und da scheiden sich die Geister schon bald: Was gehört dann zum Kerngeschäft? Schnell und lautstark wird die Kirche sowohl außerhalb als auch innerhalb ihrer selbst verwiesen auf die Kanzel und an den Altar, oder, so lautet dann die Frage, „gleichen wir einer gut organisierten NGO mit edlen humanitären Zielen“2? Es ist dann nur eine logische Konsequenz festzuhalten, dass der binnenkirchliche Raum bzw. noch deutlicher der Kircheninnenraum das Eigentliche ist. Das „Draußen“, Welt und Gesellschaft, das ist die Peripherie, das Unwichtige. So meinen die einen. 

Innerkirchlich ist es genau auf dieser Linie gegenwärtig wieder hochaktuell – man könnte sagen, analog zu Trumps berühmt gewordenem „America first“ – von „Mission first“, also vom absoluten Vorrang für Mission, Bekehrung und (Neu)Evangelisierung zu sprechen. So formuliert es eindrücklich das Anfang des Jahres veröffentlichte Mission Manifest des Augsburger Gebetshauses: Es geht demnach um Evangelisierung durch Gebet, Anbetung, Lobpreis sowie die Hoffnung auf Wunder und schließlich durch intensives Fasten3. Zu diesem Missionsverständnis gehört auch – und das ist schon eine deutliche Aussage hinsichtlich der christlichen Sozialethik –, dass alles, was „weltliche“, gesellschaftliche, politische Fragen angeht, auf einen deutlich nachrangigen Platz zu verweisen ist, „hinter der Nachfolge Christi immer an zweiter Stelle“4 zu stehen hat. Als Beispiel nennt das Mission Manifest etwa die Sorge um die Familie, aber es gehören in diesen Kontext auch alle Facetten von verantwortete Welt- und Gesellschaftsgestaltung.  

Das aber mutet nicht nur Menschen seltsam an, die in dieser komplexen Gesellschaft und jeweils an dem Ort, versuchen, ihren Glauben zu leben, an dem sie leben und arbeiten, diese Reduktion verfehlt auch aus theologischer und auch gesellschaftlicher Perspektive völlig die Bedeutung, die der christliche Glauben in der Gesellschaft entwickelt, wie aber auch umgekehrt die Relevanz, die der Welt für den christlichen Glauben zukommt. Und damit wird deutlich, dass es auch eine ganz andere Sichtweise auf das „Wesentliche“, das „Eigentliche“ geben kann.5

2. „Du bist fromm gewesen, aber … “ oder die Frage der Authentizität 

Kirche und ihre Identität wird durch drei Wesensvollzüge bestimmt: durch den gefeierten Glauben (liturgia), durch den bezeugten Glauben (martyria) und durch den gelebten Glauben (diakonia), wobei sich erst und nur im Zusammenspiel aller drei in der Gemeinschaft der Gläubigen (koinonia) das eigentliche Kirche-Sein entfaltet. Für den Kontext unserer Überlegungen ist es wichtig zu bedenken, dass unter den komplexen Bedingungen der Gegenwart die zuletzt genannte Dimension der Diakonia nicht nur die caritative Sorge in den face-to-face-relations beinhaltet, sondern konstitutiv auch alles, was das Bemühen um die gerechte Mitgestaltung von Welt und Gesellschaft angeht. 

Schon im 19. Jahrhundert war es u.a. Bischof Ketteler von Mainz, der früh erkannte, dass die soziale Frage das „depositum fidei“, also die Grundlagen des Glaubens berührte, dass es also unter den Bedingungen der modernen (Wirtschafts-)Gesellschaft und der aufkommenden Arbeiterfrage eine zutiefst mit dem Glauben zusammenhängende Pflicht sei, die Würde der arbeitenden Menschen, die er unter den Bedingungen der Industrialisierung und frühen kapitalistischen Wirtschaftsordnung mit Füßen getreten sah, durch unterschiedliche Maßnahmen wiederherzustellen und zu sichern. Er erkannte deutlich: „Der fromme Glaube genügt nicht in dieser Zeit, er muss seine Wahrheit durch Taten beweisen!“6 Seine Begründung dafür bringt es auch noch für heute gültig auf den Punkt: „Christus ist nicht nur dadurch der Heiland der Welt, dass er unsere Seelen erlöst hat, er hat auch das Heil für alle anderen Verhältnisse der Menschen, bürgerliche, politische und soziale, gebracht.“7 Der jüngst heiliggesprochene lateinamerikanische Bischof Oscar Romero formulierte ganz ähnlich: „Du hast Dich sehr bemüht, bist fromm gewesen […] Aber das Entscheidende fehlt dir noch – die Nähe zur Armut und zu den Armen!“8 

Es war das Kernanliegen des Konzils, deutlich werden zu lassen, dass und wie die Botschaft des Evangeliums für die Gegenwart und die Menschen heute Bedeutung entfalten kann.

Auch das II. Vatikanische Konzil hat diese Relevanz der christlichen Botschaft für die Welt von heute prominent und bedeutsam formuliert. Es war sogar das Kernanliegen dieses für die Kirche so einschneidenden Konzils, unter dem Stichwort des aggiornamento deutlich werden zu lassen, dass und wie die Botschaft des Evangeliums für die Gegenwart und die Menschen heute Bedeutung entfalten kann, was also der Glaube mit dem Leben in all seinen Facetten und dem Wohlergehen aller zu tun hat. Die Präambel der für das Konzil programmatischen Pastoralkonstitution zeigt es: „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen von heute, besonders der Armen und Bedrängten aller Art, sind auch Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Jünger Christi. Und es gibt nichts wahrhaft Menschliches, das nicht in ihren Herzen seinen Widerhall fände.“ (GS 1)  

Auf die aktuelle Problemlage von Flucht und Migration bezogen, die in vielen Fällen den Anlass für diese Debatte um die gesellschaftlich-politische Relevanz des Glaubens bietet, formuliert das Michael Gmelch, der als Militärdekan bereits vor dem großen Flüchtlingsstrom vom Sommer 2015 am Einsatz der Seenotrettung teilgenommen und auf Lampedusa gewirkt hat: Es kann nicht sein, dass „(d)ie Welt brennt und wir […] in der Sakristei die Geranien [gießen].“9 Gerade in dieser Fokussierung der Kirche auf sich selbst verliert sie ihre eigentliche Bestimmung zum Dienst an den Menschen als Dienst am Reich Gottes aus dem Blick. Papst Franziskus wird nicht müde zu betonen, dass eben dieser Einsatz für eine gerechtere und menschenwürdigere Welt eine Frage der Authentizität, der Glaubwürdigkeit der Kirche ist. Ihm geht es dabei um eine Orientierung an den Kriterien der Humanität und vor allem um die Sorge um die Armen, um die an den Rändern und Grenzen der Erde, um die Ausgeschlossenen und die Weggeworfenen.  

3. Bedingungslosigkeit und Unverzweckt-Sein christlichen Handelns 

Die Kirche als Akteurin solcher christlich verpflichtenden gesellschaftlich-politischen und sozialen Diakonie und ihrer Soziallehre versucht nicht, über gesellschaftliche Leistungen zu missionieren. Genau damit ist das Staubsauger-Prinzip definitiv widerlegt. Vielmehr ist alles Tun im Blick auf die Gesellschaftsgestaltung unverzweckt: „Die Liebe ist umsonst“, so formuliert Papst Benedikt XVI.10 Christliches Handeln verbindet also gerade keinen Zweck mit dem Tun, es geht nicht um eine offene oder verborgene Funktionalisierung, sondern es spiegelt sich gerade darin die Bedingungslosigkeit der göttlichen Liebe den Menschen gegenüber wider.  

Das, was Christen an caritativer-diakonischer Arbeit tun, das tun sie nicht, weil die Adressaten Christen sind oder werden sollen.

Diese Bedingungslosigkeit hat sehr praktische Konsequenzen: Das, was Christen an caritativer-diakonischer Arbeit tun, z.B. KiTas oder Seniorenheime betreiben, Geflüchteten helfen, in dieser Gesellschaft anzukommen, aber auch, was sie an gesellschaftlich-diakonischer Arbeit leisten, z.B. Einsatz für sozial gerechtere Strukturen im Hartz-IV-Kontext, Engagement für eine offene und Menschenwürde achtende Gesellschaft, das tun sie nicht, weil die Empfänger bzw. Adressaten Christen sind (oder werden sollen), sondern weil die Subjekte Christen sind und sie so Zeugnis von dem Gott geben, der das Heil aller Menschen will.

4. „Staubsauger-Pastoral“ oder Anders-Orte des Glaubens 

Ein weiterer Aspekt ist zu nennen: Die „Staubsauger-Mentalität“, die in den genannten Aktivitäten eher abwertend das Vorfeld des Eigentlichen sieht, hat Sorge darum, bei längerem oder zu langem Verweilen im vermeintlichen Vorfeld eben dieses Eigentliche zu verlieren, sie hat Sorge darum, dass sie sich sonst im Vorfeld und im Hinausgehen selbst verliert und Jesus Christus und seiner Botschaft untreu wird. 

Ganz anders die Perspektive in der nachkonziliaren Theologie: Hier ist die Rede von sog. „Anders-Orten“11 des Glaubens, die es zu entdecken gilt. Gemeint sind damit Orte, an denen sich Gott in unerwarteter Weise finden lässt, Orte, an denen der Glaube gelebt wird, die anders sind als unsere „normalen“ Gemeinden, die Überraschendes und Altbekanntes neu entdecken lassen. Wer sagt denn, dass Glaube und Gotteserfahrung sich beschränken auf die drei Milieus, die die Kirche laut der Sinusstudie überhaupt noch erreicht? Gerade die christliche Botschaft von der unendlichen Würde und dem unteilbaren Wert jedes Menschen ermöglicht es, wirklich Ernst zu machen mit der Erkenntnis, dass alle Menschen in allen Milieus mögliche Orte der Entdeckung Gottes sind. „Lass mich dich lernen, dein Denken und Sprechen, dein Fragen und Dasein, damit ich daran die Botschaft neu lernen kann, die ich dir zu überliefern habe“12 heißt das bei Bischof Klaus Hemmerle. Bei diesem Neu-Lernen der Botschaft im Kontakt mit Menschen, die sich vielleicht nicht in unseren klassischen Gemeinden bewegen und nicht unsere Glaubenssprache sprechen, stehen wir kirchlich sicher erst am Anfang. Was das konkret heißt und wie das wirklich geht, in Kitas, in Flüchtlingsunterkünften, in Arbeitsagenturen etc., das ist bei weitem noch nicht ausgelotet.  

Wer sagt denn, dass Glaube und Gotteserfahrung sich beschränken auf die drei Milieus, die die Kirche laut der Sinusstudie überhaupt noch erreicht?

Es ist die Konsequenz eines theologischen Perspektivwechsels: Wir sollten uns Christen und Christinnen als Lernende verstehen und mit den Menschen, denen wir begegnen, einen Dialog auf Augenhöhe führen. Dann können wir gerade in dieser Komplexität der Wirklichkeit, in allen Straßen und Häusern Spuren Gottes feststellen. Beispiele für solche Experimente an und mit Andersorten gibt es durchaus; geleitet von dem Grundsatz, dass die Kirche keine „Wart-ab-Kirche“, sondern eine „Geh-hin-Kirche“ ist: in vielfältigen Sozialprojekten, in Modellen der City-Kirche, in Kirchläden, in neuen Gemeindemodellen … Dies alles ist nicht zu verstehen als Kopiervorlage, sondern als Ermunterung, selber offen und risikobereit auf die Suche nach den Spuren Jesu zu gehen. 
  1. Dessoy 2017: 2.
  2. Hartl et al. 2018: 118.
  3. Vgl. Hartl et al. 2018: 135.
  4. Hartl et al. 2018: 133.
  5. Vgl. Nothelle-Wildfeuer 2018.
  6. Ketteler 1977b: 25.
  7. Ketteler 1977a: 370.
  8. Unbekannte Quelle.
  9. Gmelch 2016: 9.
  10. Deus caritas est 31c.
  11. Vgl. Erzbischöfliches Seelsorgeamt Freiburg 2014.
  12. Hemmerle 1983: 309.

Literaturverzeichnis 

Dessoy, Valentin (2017): Unternehmerisch betrachtet. Kirchenentwicklung am Beispiel von Kindertagesstätten. In: Diakonia (2). 

Erzbischöfliches Seelsorgeamt Freiburg (Hg.) (2014): Andertsorte. Kirchliche Präsenz weiter gedacht. impulse (1). 

Gmelch, Michael (2016): Refugees welcome. Die Herausforderung für die Kirchengemeinden in Deutschland. Würzburg: echter. 

Hartl, Johannes; Wallner, Karl; Meuser, Bernhard (Hg.) (2018): Mission Manifest. Die Thesen für das Comeback der Kirche. Freiburg: Herder Verlag. Online verfügbar unter https://ebookcentral.proquest.com/lib/gbv/detail.action?docID=5165346. 

Hemmerle, Klaus (1983): Was fängt die Jugend mit der Kirche an? Was fängt die Kirche mit der Jugend an? In: IKaZ Communio 12, S. 306–317. 

Ketteler, Wilhelm Emmanuel von (1864) (1977a): Die Arbeiterfrage und das Christentum. In: Erwin Iserloh (Hg.): Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler: Sämtliche Werke und Briefe (1, Abteilung 1), S. 367–515. 

Ketteler, Wilhelm Emmanuel von (1977b): Die großen sozialen Fragen der Gegenwart. Sechs Predigten gehalten im Hohen Dom zu Mainz. In: Erwin Iserloh (Hg.): Wilhelm Emmanuel Freiherr von Ketteler: Sämtliche Werke und Briefe (1, Abteilung 1), S. 22–87. 

Nothelle-Wildfeuer, Ursula (2018): Mission Manifest – Welche Mission? Welche Theologie? Welche Kirche? In: Ursula Nothelle-Wildfeuer und Magnus Striet (Hg.): Einfach nur Jesus? Eine Kritik am „Mission Manifest“. Freiburg: Verlag Herder (Katholizismus im Umbruch, 8), S. 75–96. 

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