22018

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Statements

Matthias Sellmann

Pastorale Innovation hat eher mit mehr als mit weniger organisationaler Führung zu tun.

Ein Beitrag zu Valentin Dessoys Skizze „Konturen des Systemwechsels“

Der Einladung, an einer Sondernummer von futur2 für Valentin Dessoy mitzuarbeiten, folgt man doch gerne. Denn solch eine in der Form dezente, im Inhalt aber kräftige akademische Ehrung haben Personen wie er verdient, die den Diskurs rund um ein Thema schon bestimmt haben, als es ihn noch gar nicht gab. Für die theologische Reflexion auf Pastoralplanung, auf Strategie, auf Kirchenorganisation trifft es zu, dass Valentin Dessoy als einer der ersten und als einer der entschlossensten erkannt hat, wie wichtig das vorbereitende und nachgehende Denken dazu ist. Und es gebührt Anerkennung dafür, dass er dieser Intuition auch dann folgte, als man das Thema noch gähnend abwinkte. Heute ist das ja spürbar anders, jedenfalls was die diözesanen Verantwortlichen angeht, die in teilweise epochalen Umbruchprozessen stecken. (Für die universitäre Pastoraltheologie kann man nach wie vor seine Zweifel haben, ob die Herausforderung auch des strukturellen, organisationalen Wandels des Christseins schon als Thema flächendeckend angekommen ist.) 

Die üblichen Klischees – „is‘ ja gar keine Theologie!“; „Kirche ist doch viel mehr!“ oder „Lass das mal die Praktiker machen, denkt Ihr Euch mal schöne Reich-Gottes-Hermeneutiken aus!“ – haben Valentin Dessoy jedenfalls  über Jahrzehnte nicht davon abgehalten, das Thema zu besetzen, ihm einen Konferenzort zu geben, es mit vielen Beratungsprozessen empirisch abzusichern und es auch dann zu verteidigen, wenn es keine Meriten dafür zu geben schien. 

Diese Sondernummer der Autorinnen und Autoren, die von ihm in ganz unterschiedlicher Weise inspiriert wurden, ist also ein schöner Dank – der natürlich nur dann in the long run echt genannt werden kann, wenn er zur gleichen Hartnäckigkeit und Intuitions-Treue wie bei dem Geehrten motiviert. Ihm wird wenig daran gelegen sein, sich in dauernden Bestätigungen zu ergehen. Vielmehr wird es Valentin Dessoy gefallen, wenn das Thema und die Entwicklung weiter geknüpft wird, indem es auch in anderen Spuren und Akzenten weitergeht als in den seinen.  

An der Frage kirchlicher Organisation entscheidet sich wesentlich, ob der Umbruch in eine neue Form kulturell passender Christförmigkeit erfolgreich ist oder nicht.

Mein kurzer Beitrag setzt daher keinen anderen Ansatz als den von Dessoy, wohl aber einen anderen Akzent. Wie er bin ich der Meinung, dass sich an der Frage kirchlicher Organisation – also dem Willen zu expliziter und transparenter Entscheidungsförmigkeit – wesentlich entscheidet, ob der Umbruch in eine neue Form kulturell passender Christförmigkeit erfolgreich ist oder nicht. Hier, im grundsätzlichen Plädoyer für rationale Organisation und Professionalität, für Struktur, Planung und Evaluation, weiß ich mich mit ihm einig. Den Unterschied – die produktive, erst informationsschaffende Differenz – setze ich mit der These, wie diese Organisation präzise beschaffen und wie sie greifen sollte. 

Als Textlektüre greife ich auf eine in ihrer Dichte und Illustrationskraft sehr gelungene Skizze zurück, die Valentin Dessoy 2015 für das Themenheft „heute.glauben.leben“ der Hauptabteilung Seelsorge im Bistum Würzburg verfasst hat (Heft 8 vom Mai 2015). Der Titel lautet: „Nur Mut. Vom Pfad abweichen und den Systemwechsel vorbereiten“. Dessoy behauptet hier, dass sich in der Analyse vieler Prozesse und Expertisen eine bestimmte Gestalt von Kirche herausschält, also „im Blick auf die Zielperspektive eine erstaunliche Konvergenz“. Dieses Zielbild beinhaltet u.a. und in meiner um Knappheit bemühten substantivischen Paraphrase, die die Sprachkraft dieser Zeilen nicht ersetzen kann: Radikale Umorientierung auf Relevanz für die Nicht-Kernmitglieder von Gemeinden und Verbände;  Organisation von den Lebenswirklichkeiten und -stilen her; interne pastorale Differenzierung in viele unterschiedliche Angebotswege; Investition in Innovation und Lernen; dauernde Labor- und Experimentiertätigkeit, was neue Formate, Stile und Gelegenheiten der Glaubensweitergabe anbetrifft; Induktion statt Deduktion; Dezentralität und Lokalität der Kirchenkulturen; Pfarrei als Verwaltungsraum und als vitales, kreatives Netzwerk kategorialer, weitestgehend autonomer Orte; Charismen- statt Aufgabenorientierung; Hauptamtliche als Coaches, als Ermöglicher/innen, als spirituelle und strategische Begleiter/innen, nicht als operative Kräfte; Beauftragte Laien in Leitung; Dialog- statt Funktionslogik; Lern- und Fehlerkultur; und zuletzt deutliche Ergebnisorientierung: Das Handeln „orientiert sich an Wirkungen und organisiert die Prozesse so, dass ein Maximum an Transparenz und Partizipation, an Selbststeuerung und Emanzipation möglich wird.“ 

Es wird schwer, mit Gaudium et spes und mit Lumen Gentium konform zu gehen und den Trends gesellschaftlichen Lebens nicht mindestens den auch normativen Status eines ekklesialen Inspirationsortes zu geben.

Ich gehe hier mit sehr vielen Zukunftsansagen mit, was die materiellen Aussagen anbetrifft. Tatsächlich kann man auch meiner Analyse nach feststellen, dass es eine Art Fluchtpunkt, eine Konvergenz auf diese große Linie hin gibt, wie Valentin Dessoy sie entwirft. Man muss dazu kein Prophet sein und kein intellektueller Virtuose. Denn diese Zukunftsansage ist rational, und dies nicht etwa, weil sich das Bild einer solchen Kirche schön liest und man es gerne so hätte, sondern weil der von Dessoy angesagte Systemwechsel den zentralen Modernisierungsprozessen einer gegenwärtigen Wissens- und Optionsgesellschaft unter Pluralitätsbedingungen entspricht. Es gibt deutlich einen soziologisch diagnostizierbaren Sog hin zu De-Institutionalisierung, Partizipation, Dienstleistung, Individuierung oder Lokalisierung kultureller Bedarfe. Natürlich muss dies nicht schon kurzschlüssig allein deshalb ekklesiologische Relevanz haben; allerdings wird es schwer, mit Gaudium et spes und auch mit Lumen Gentium konform zu gehen und den Trends gesellschaftlichen Lebens nicht mindestens den auch normativen Status eines ekklesialen Inspirationsortes zu geben. 

Trotz der grundlegenden Übereinstimmung möchte ich, in kollegialer Sympathie, einen Unterschied markieren. Und es wäre spannend für mich, ob sich hier ein generationeller oder soziologischer oder biografisch-ekklesiologischer Unterschied auftut – oder gleich alles drei. Was mir in der Dessoy-Skizze zum Systemwechsel auffällt und was ich anders profilieren möchte, ist die Frage von organisationaler Führung im Wandel.  

Bei Dessoy kommt diese Führung recht dezent und unauffällig daher: Meist wird sie gar nicht benannt. Der Systemwechsel kommt bei ihm, mindestens sprachlich, von unten oder von irgendwie anonym bleibenden Größen. Als grammatische Subjekte des Textes werden benannt: „Die Kirche der Zukunft“, „die Kirche vor Ort“; „unterschiedliche Kulturen von Kirche“, „die pastoralen Orte“; „die profilierten Zentren“; große Organisationsräume“, u.a. Nur in einem einzigen Abschnitt geht es, jedenfalls grammatisch, überhaupt um Leute: zum einen um „Menschen“ mit Taufwürde und Begabungen, „die sich in den Dienst der Kirche stellen“; zum zweiten um „qualifizierte und vom Bischof beauftragte Frauen und Männer“; zum dritten um Hauptberufliche. Letztere wiederum werden, wie schon erwähnt, angesprochen als „Ermöglicher/innen“ und/oder „Coaches“. 

Was mir auffällt: Es gibt in dieser Zukunftsansage keine Reflexion auf Konflikte und keine Reflexion auf direktionale Führung. Pointiert gesagt: In diesem skizzierten neuen System wird zwar hochgradige Heterogenität gepflegt – nämlich in der Form von Dezentralität oder als Diversität, Lokalität, Prozessorientierung, Projektförmigkeit, Episodalität, sogar als plurale Autonomie und Selbststeuerung. Diese Heterogenität wird aber nicht zu den Bedingungen in Beziehung gesetzt, die gegeben sein müssen, um überhaupt zu wünschenswerten Ergebnissen zu kommen. Der Text nennt ja solche Ergebnisse: etwa die Relevanz für Nicht-Mitglieder, die Wirkung im gesellschaftlichen Raum oder mindestens die Kultur einer wechselseitigen Toleranz von katholischer Diversität. 

Nun ist es wenig originell und aus dem eigenen Alltagserleben hinlänglich bekannt, dass starke gruppendynamische Kreativitäten nur dann produktive Leistungen für andere erbringen, wenn die starken Fließkräfte von starken und von allen anerkannten Regelwänden kanalisiert werden. Der Text nennt nun gleich mehrere solcher potenziell stark konfliktträchtigen Themen. Wenn etwa die Rede davon ist, dass „profilierte kirchliche Zentren“ „Akteure und Aktivitäten ausrichten“ und gegebenenfalls im pastoralen Raum eine „knapp bemessene Grundversorgung“ absichern, hat man in einem einzigen Atemzug schon gleich drei solcher Konfliktherde benannt: denn wo Zentren wirklich profiliert sind, wird es Antipathien zu ihnen geben; wo sie auf Ziele ausrichten, wird es unterschiedliche Zielinterpretationen geben; und wo sie eine Grundsicherung bestimmen, wird man trefflich darüber streiten können, wer was als „knapp“ und was als „Grundsicherung“ ansieht. Sind es nun profilierte Zentren – also Zentren für eher wenige, die aber die Grundversorgung für alle absichern sollen – kann man sich schon mal warm anziehen. 

Man kommt nicht ohne die nüchterne Feststellung weiter, dass sich solche Prozesse nicht einfach gruppendynamisch zum Konstruktiven und Effektiven wenden.

Um nicht missverständlich zu schreiben: Ich teile das Ziel. Aber ich meine, man kommt nicht ohne die nüchterne Feststellung weiter, dass sich solche Prozesse nicht einfach gruppendynamisch zum Konstruktiven und Effektiven wenden – und effektiv für andere sollten Prozesse mit christlicher DNA ja wohl sein. Man braucht hier gute Führung. Was das ist: gute Führung, ist wiederum ein eigener Diskurs. Aber, ob stumpf oder elegant räsoniert, es wird gerade in einer hochpartizipativen, dezentralen und fehlerfreundlich-innovativen Kirche auch auf Aspekte ankommen, die wenig Charme aufzuweisen scheinen.  

Drei solcher Nüchternheiten sollen am Ende kurz und postulatorisch genannt werden. Alle steigern sich, je basaler und je diverser die angestrebten Prozesse einer zukünftigen Kirche sein werden.  

Der erste Satz lautet: Es muss Regeln geben, und zwar durchsetzbare, wie Autorität in Konflikten verteilt und anerkannt ist. So etwas wie gut begründete, gut organisierte und gut balancierte Richtlinienkompetenz wird man auch in Kirche je mehr brauchen, je partizipativer und kreativer es zugeht. Diese Regeln müssen nicht nur soziologisch einleuchten, sondern auch theologisch. Und sie müssen Machtpositionen an klar ausweisbare Personen verteilen. Deren Funktion ist m.E. dann definitiv mehr als Coaching. Das dogmatische Gefüge des katholischen Kirchedesigns hat hier die Vollmacht des Bischofs installiert, vor allem, um eine relative (keine absolute, das ist entscheidend!) Unabhängigkeit von Stimmungen, Machtverteilungen und Interessenkonflikten zu sichern. Eine drängende pastoraltheologische Aufgabe ist es, wie sich dieses Arrangement von seiner Grundaufgabe her operativ so weiterentwickeln lässt, dass es nicht dauernd in Missverständnisse mit den Errungenschaften moderner freiheitlicher Selbstbestimmung gerät. 

Die größte Versuchung kirchenorganisationaler Arbeit ist ihre grassierende Unverbindlichkeit von der Basis bis zu den Spitzen.

Der zweite Satz lautet: Es muss Controlling geben. Die größte Versuchung kirchenorganisationaler Arbeit ist ihre grassierende Unverbindlichkeit von der Basis bis zu den Spitzen. Es wäre eine eigene Untersuchung wert, wieviel Schlamperei der sich so schön pastoral anhörende Satz bereits verursacht hat, der da sagt, Erfolg sei keiner der Namen Gottes. Wer Spiritualität zur Sorgfältigkeitsbremse nutzt, putzt sich auch mit Schuhcreme die Zähne. Jedenfalls verwechselt er (oder sie) etwas Entscheidendes. Wo keine Kontrolle von Zielen und Vereinbarungen herrscht, kommt es zu Zonen der Ausbeutung der Idealisten und zur willkürlichen Durchsetzung derer, die sich das System zunutze machen. Pastoraltheologie sollte intensiver daran arbeiten, wie Feedbacks, Zielvereinbarungen, Mitarbeiterjahresgespräche und produktive Kritik sowohl im kirchlichen Haupt- wie im Ehrenamtsbereich konzipiert und motiviert werden können. 

Der dritte Satz lautet: An ihren Früchten wird man sie erkennen. Letztlich, so meine ich, geht es überhaupt nicht primär darum, ob Kirche in hohem Maße innovativ, partizipativ oder kreativ ist. Wichtig ist, ob sie gute Arbeit für andere macht, und zwar in höchst nüchternem Sinn. So wie liberale Politiker sagen, ein guter Staat muss die Leute normalerweise in Ruhe lassen, sie aber unterstützen, wo sie Hilfe benötigen, Hilfe zur Selbsthilfe, so drängt es sich mir auf zu sagen: Eine gut geführte Kirche lässt die Leute in Ruhe. Es gilt, seine Lebensleistung zu bringen, anständig zu leben und Armut zu überwinden, in jeder Form. Nicht das Engagement in Kirche und Gemeinde ist das erste, woran man einen Christen erkennt, sondern ob sich um ihn (oder ihr) herum mehr Lebensmöglichkeiten entfalten. Es ist ja verständlich, wenn viele diözesane Strukturreformen, vor allem in ihren Gemeindetheologien, als Zielbild eine Kirche konzipieren, in der man mitmachen soll, die Neues anbietet und die zu permanenten Entscheidungen auffordert. Trotzdem: Eigentlich sollte Kirche doch die Anstrengungen schlichter Weltbewährung nicht verdoppeln, sondern zu ihr befähigen. 

Gute Führung sorgt dafür, dass die geltenden Standards und die Erwartungen bekannt, begründet und veränderbar sind, so dass sich auch die Gestaltungsfreiräume als bekannt, begründet und veränderbar darstellen. Und nur für letzteres, für Gestaltung, für Mut und Reform, dienen Regeln und Standards. Mir drängt sich der Eindruck auf, dass Kirche zu oft sich selbst zum Thema, zum Standard und zur Erwartung macht; und dass es ihr gut täte, sich darauf zu beschränken, die ‚Leute‘ in das zu entlassen und für das zu befähigen, was wirklich zählt: so zu leben, dass es wahrscheinlicher wird, an Gott glauben zu können. 

Kirche ist insofern unhintergehbar und richtig verstanden: dienstleistungsverpflichtet. Die obigen drei Sätze gelten daher nur unter der von mir als katholisch-ekklesiologisch unhintergehbar geltenden Unterstellung, dass Gemeinden, Verbände, kirchliche Orte usw. nie nur für die da sind, die sich in ihnen versammeln, sondern immer konstitutiv für die arbeiten müssen, die fehlen. Wer nur für sich irgendwie innovativ, kreativ und partizipativ sein will, und wer Veränderung als Wert an sich beschwört, braucht diese drei Sätze nicht. 

Insofern setze ich nicht das Zielbild, wohl aber den Wegakzent dorthin anders als Valentin Dessoy in seiner Skizze: Sein angestrebter „Systemwechsel“ wird nur über mehr statt über weniger und über kräftige statt über dezentere organisationale Führung erreichbar sein. 

Ich freue mich auf die kollegiale Diskussion. 

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