012016
Konzept
Nur Mut: Vom Pfad abweichen und den Systemwechsel vorbereiten
Wie Kirchenentwicklung in Gang kommen kann
„Kirche ist mehr als Organisation!“ – Das wird von vielen betont, häufig mit einem fast abschätzigen Unterton, man solle sich nicht zu sehr mit Äußerlichkeiten aufhalten. Faktisch passiert zumeist genau das Gegenteil – im Großen, wie im Kleinen: Immer mehr Ressourcen werden in eine überdimensionierte, immer weiter expandierende Administration gesteckt. Die Wirkung kirchlichen Handelns im Kernbereich der Pastoral steht inzwischen in keinem Verhältnis mehr zum betriebenen organisatorischen Aufwand.
Mehr desselben führt in die Enge
Viele Diözesen versuchen allen Ernstes dem unverkennbaren Verlust an Plausibilität, dem dramatischen Mangel an Ressourcen und der fortschreitenden Differenzierung in unserer Gesellschaft nach bürokratischem Muster mit einer immer weitergehenden Erhöhung der organisatorischen Komplexität zu begegnen.
Pfarrer investieren ca. 60-70% ihrer Arbeitszeit in (Alltags-)Organisation und Verwaltung. Werden sie entlastet (z.B. durch den Einsatz von Verwaltungsleiter/innen), wissen sie vielfach zunächst nicht, was sie mit ihrer freien Zeit anfangen sollen. Das wundert insofern nicht, als die Rolle des Pfarrers vom Amt her, also nach bürokratischem Vorbild konzipiert ist und die Priester bis heute in dieser Kultur ausgebildet und geprägt werden. Was vor Jahren noch gut zu bewältigen war, wird unter den aktuellen Bedingungen zur Falle.
Es ist paradox: Viele Diözesen versuchen allen Ernstes dem unverkennbaren Verlust an Plausibilität, dem dramatischen Mangel an Ressourcen und der fortschreitenden Differenzierung in unserer Gesellschaft nach bürokratischem Muster mit einer immer weitergehenden Erhöhung der organisatorischen Komplexität zu begegnen. So gelten in vielen Bistümern Pfarreiengemeinschaften als die Lösung, Kirche im Dorf zu halten. Acht, zehn, zwölf oder fünfzehn Pfarreien mit womöglich dem doppelten an Kirchen sind keine Seltenheit. Für die Seelsorger bedeutet das x-mal Vollprogramm: Haushalt, Immobilien, Räte, Gottesdienste … Dazu kommt der organisatorische Overhead auf der Ebene der Pfarreiengemeinschaft.
Der Mantel passt nicht mehr. Alle Energie geht in die „Produktion“, in überkommene Standards für ein Publikum, dass in zehn Jahren nicht mehr sein wird. Das geschieht zu allem Überfluss in einer überdimensionierten und dazu kaum noch anschlussfähigen „Vertriebsstruktur“, deren Aufrechterhaltung den größten Teil der Ressourcen in Anspruch nimmt. Für Lernen und Innovation bleibt keine Zeit. Die Seelsorger drehen sich im Hamsterrad, fahren am Limit und darüber hinaus. In erschreckendem Ausmaß – wenngleich unbewusst – wird derzeit Raubbau an der körperlichen und seelischen Gesundheit gerade der engagierten und leistungsstarken Seelsorger/innen betrieben. Wie sollen in dieser Situation Menschen (die nicht zum „inner circle“ der Kerngemeinde gehören) mit der frohen Botschaft in Berührung kommen? Wie sollen Menschen für den Dienst in der Kirche gewonnen werden?
Das bisherige Reformparadigma hat keine Zukunft
Die Diagnose ist klar: Die Volkskirche ist an ihr Ende gekommen. Kirche erreicht weite Teile der Gesellschaft, insbesondere die jüngeren Milieus, nicht mehr. Es gelingt immer weniger, den Kern der Botschaft und ihre Relevanz für den einzelnen in seinen alltäglichen Lebensbezügen und für die Gesellschaft als Ganze plausibel zu machen. Die Kirche ist inzwischen für meisten Menschen irrelevant geworden und mit ihr die frohe Botschaft. Nicht wie früher der Glaube, nein, der Bedeutungsverlust wird über die Sozialisation weitergegeben und potenziert sich über die Generationen hinweg (vgl. 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD).
Das dominante Reformparadigma der zurückliegenden Jahrzehnte, der Mainstream, setzt defensiv auf Konzentration, Verdichtung und Zentralisierung.
Gravierender als diese Tatsache ist die Beobachtung, dass Ansätze zur Erneuerung in der Regel nicht über den bisherigen Status Quo hinauskommen. Das dominante Reformparadigma der zurückliegenden Jahrzehnte, der Mainstream, setzt defensiv auf Konzentration, Verdichtung und Zentralisierung. Es reproduziert das nachkonziliare Kirchenbild der Pfarrei=Gemeinde in immer komplexeren Konstruktionen. Es dient dazu, das überkommene pastorale Programm aufrecht zu erhalten, um weiterhin das Stammpublikum in gewohnter Weise umfassend vor Ort zu bedienen. Reformen, die so angelegt sind, führen die Kirche immer schneller immer tiefer in die Krise. Die hat inzwischen bereits vielerorts den Status einer generalisierten Funktionskrise erreicht, wenn etwa der Betrieb nur dann aufrechterhalten werden kann, wenn kurzfristig bis zu 30% des priesterlichen Personals „importiert“ werden muss (so zuletzt im Bistum Münster) oder ganze Landstriche aufgegeben werden müssen (wie z. B. im Bistum Hildesheim). Mit Mark Twain könnte man sagen: „Nachdem wir das Ziel endgültig aus den Augen verloren hatten, verdoppelten wir unsere Anstrengungen.“
Aber wohin geht die Reise? Womit müssen wir uns abfinden? Trendszenarien machen deutlich, vor welchen Verwerfungen und Umbrüchen die Kirche in Deutschland steht: Die Mitgliederzahlen sinken mittelfristig auf unter 20% der Bevölkerung. Der regelmäßige Gottesdienstbesuch wird bis zum Jahr 2035 mit allerhöchster Wahrscheinlichkeit auf unter 2% der Kirchenmitglieder zurückgehen. Die verfügbaren personellen Ressourcen halbieren sich etwa alle 10 Jahre. Um den derzeitige Durchschnitt von 263 Gottesdienstbesuchern pro Pfarrkirche zu halten, benötigen wir in Deutschland 2035 gerade mal 10% der heute gehaltenen Kirchen. Viele rechnen damit, dass Staatsleistungen und auch Kirchensteuer in absehbarer Zeit fallen werden (vgl. die Diskussion über die Abschaffung der Staatsleistungen in Luxemburg).
Die Herausforderung für die Kirche besteht darin, sich radikal von der Zukunft her zu denken und ihre auf größtmögliche Stabilität und Produktivität ausgerichtete Organisationsgestalt so zu transformieren, dass sie sich nachhaltig in Kontexten bewegen kann, die ein Maximum an Flexibilität und Innovation erfordern.
Rainer Bucher beschreibt in seinem Buch „Wenn nichts bleibt, wie es war: Zur prekären Zukunft der katholischen Kirche“ die Dimensionen des Umbruchs. Stefan Heße, der neue Erzbischof von Hamburg spricht von einem „Systemwechsel“, einem qualitativen Sprung, der vor uns liegt, um mit den veränderten gesellschaftlichen Rahmenbedingungen Schritt halten zu können. Die Herausforderung für die Kirche besteht darin, sich radikal von der Zukunft her zu denken und ihre auf größtmögliche Stabilität und Produktivität ausgerichtete Organisationsgestalt so zu transformieren, dass sie sich nachhaltig in Kontexten bewegen kann, die ein Maximum an Flexibilität und Innovation erfordern, ohne die Rückbindung an ihren Ursprung und ihre Mitte, also ihre Identität aufzugeben. Dieser Sprung muss bald erfolgen, denn je länger die Verantwortlichen zögern, desto kleiner werden die Spielräume für die dann notwendigen (und größer werdenden) Veränderungen.
Konturen des Systemwechsels (Zielfoto)
Wer sich mit Seelsorger/innen und Verantwortlichen in der Kirche unterhält, wer die Fachdiskussion aufmerksam verfolgt, wer sich die Entwicklungen in der Weltkirche, insbesondere in den jungen Kirchen anschaut …, der wird feststellen: Das Wissen um die Zukunft ist längst da! Im Blick auf die Zielperspektive gibt es eine erstaunliche Konvergenz:
Die Kirche der Zukunft hat ihre Binnenorientierung aufgegeben. Sie hat ihre Aufmerksamkeit auf die 90-95% gerichtet, die sie heute nicht bzw. nicht mehr erreicht, um in ihrem Leben präsent zu sein und Relevanz zu gewinnen. Kirchliches Handeln orientiert sich grundlegend an den Lebenswirklichkeiten und den ästhetischen Orientierungen der Menschen, auf die hin es geschieht. Daher wird das kirchliche Leben in Zukunft viel differenzierter, sehr bunt und ständig in Bewegung sein. Unterschiedliche lokale Kirchenkulturen werden nebeneinander bestehen und wertgeschätzt werden, ohne für alle gleichermaßen attraktiv zu sein.
Die Kirche der Zukunft setzt dauerhaft auf Innovation und Entwicklung. Sie investiert einen erheblichen Anteil der verfügbaren Ressourcen in die Gestaltung von Lern- und Entwicklungsprozessen. Sie entwickelt und erprobt ständig neue Formate, die einen Zugang zum Glauben ermöglichen. Da Innovation sich nicht deduktiv herleiten lässt, hat kirchliches Handeln dauerhaft experimentellen Charakter: prototypisches und projekthaftes Arbeiten ist seelsorglich-pastoraler Standard, Standard-Formate sind die Ausnahme.
Die Einheitspfarrei als Ort und Instrument von Verwaltung und Pastoral gibt es nicht mehr. Die Kirche vor Ort ist dezentral und kategorial organisiert, ein (operatives) Netzwerk multipler pastoraler/ kirchlicher Orte, an denen Kirche-Sein auf je spezifische Weise geschieht und die prozess- und projektbezogen miteinander kooperieren. Die pastoralen/ kirchlichen Orte sind weitestgehend autonom. Sie können sich um Kirchtürme, Orden und geistliche Gemeinschaften, karitative Einrichtungen, Personen, Themen oder Ideen entwickeln. Große Organisations- und Verwaltungsräume (die man „Pfarrei“ nennen kann) geben die Möglichkeit, die Verwaltung auf ein Minimum zu reduzieren und die personellen Spielräume zu erhöhen. Profilierte kirchliche Zentren bündeln die pastorale Arbeit (im pastoralen Raum) inhaltlich, organisatorisch und personell. Sie richten Akteure und Aktivitäten auf das Ganze und die Einheit aus, schärften exemplarisch das Profil von Kirche nach innen und außen und sichern ggf. eine knapp bemessene „Grundversorgung“.
Das Wissen um die Zukunft ist längst da! Im Blick auf die Zielperspektive gibt es eine erstaunliche Konvergenz.
Im Mittelpunkt kirchlicher Arbeit stehen weniger vorgefertigte Aufgaben als mitgebrachte Begabungen (Charismen) von Menschen, die sich in den Dienst der Kirche stellen. Das Leben an den pastoralen/ kirchlichen Orten wird von Menschen aufgrund ihrer Taufwürde, nicht eines Amtes getragen: Qualifizierte und vom Bischof beauftragte Frauen und Männer sind für die Seelsorge und deren Organisation verantwortlich. Die hauptberuflichen Seelsorger/innen haben komplementär als „Ermöglicher/innen“ die Aufgabe, die Getauften vor Ort in ihrem pastoralen und ihrem Leitungsdienst zu unterstützen, zu fördern und zu begleiten. Hauptberufliche Führungskräfte werden nicht primär für die operative Seelsorge und deren Steuerung, sondern für die spirituelle und strategische Ausrichtung des Ganzen und die Gestaltung lokaler Lern- und Entwicklungsprozesse gebraucht. Die Kirche hat Führungskräfte, die sich als „Coaches“, Spielertrainer, verstehen.
Kirche setzt auf eine Kultur kontinuierlicher Erneuerung. Sie lebt von einer Kommunikation, die wertschätzend, ermutigend und inspirierend ist. Abweichungen und Fehler sind erlaubt und erwünscht, um Unterschiede zu produzieren, neue Erfahrungen zu machen und neues Wissen zu generieren. Das Handeln folgt weniger einer Aufgaben- bzw. Funktionslogik, als vielmehr einer Dialog- und Prozesslogik. Es orientiert sich an Wirkungen und organisiert die Prozesse so, dass ein Maximum an Transparenz und Partizipation, an Selbststeuerung und Emanzipation möglich wird.
Essentials nachhaltiger Veränderung (Fahrplan)
Die Kirche steht vor einem grundlegenden Kulturwandel, der bis weit in die mentalen Modelle (Kirchenbilder, Gemeindebilder, Rollenbilder etc.) reicht. Wenn der Transformationsprozess nachhaltig sein soll, muss er bestimmten Qualitätskriterien genügen:
Systeme verändern sich dann, wenn sie neue Erfahrungen machen. Daher müssen Prozesse der Veränderung Divergenz (Unterschiede, vom Status Quo abweichende Lösungsoptionen) generieren, allerdings so, dass sich die unterschiedlichen Teilsysteme und Ebenen im Prozess der Veränderung über entsprechende Kommunikations- und Feedback-Schleifen synchronisieren, also Konvergenz herstellen können. Der zirkuläre Wechsel von Divergenz und Konvergenz ist unverzichtbar.
Die Kirche steht vor einem grundlegenden Kulturwandel, der bis weit in die mentalen Modelle (Kirchenbilder, Gemeindebilder, Rollenbilder etc.) reicht.
Kirchenentwicklung braucht eine langfristig-strategische Perspektive, ein visionäres Zukunftsbild, auf das man sich verständigt hat und das Entscheidung ermöglicht. Sie braucht dann aber auch verbindliche (OE- und PE-)Programme, die den Transformationsprozess für Teilsysteme und Ebenen beschreiben, aufeinander abstimmen und damit gangbar machen. Sie beginnt experimentell, projekthaft und prototypisch im Hier und Jetzt mit der Erprobung der Zukunft, um herauszufinden, ob die Strategie tragfähig ist (Evaluation).
Wenn man die doppelte Wirklichkeit von Kirche ernst nimmt, kann Kirchenentwicklung nur als organisatorischer und als spiritueller Vorgang gedacht und konzipiert werden. Lokale Entwicklungsprozesse auf dem Weg zu lokalen Kirchenkulturen geben Raum für eine Vielfalt von Spiritualitäten. Sie zu entdecken und zu entfalten ist ein zentrales Qualitätsmerkmal.
Kirche konstituiert sich mit LG 4 bottom-up (communio) und top-down (ministratio). Die Getauften sind daher an Prozessen der Veränderung von Kirche „maximal zu beteiligen“. Umgekehrt gilt: Führung kann sich nicht verstecken, „Führung geht voran“. Ihre Aufgabe ist es, Entwicklungsprozesse zu gestalten, Entscheidungen zu treffen und die Ergebnisse verbindlich zu ratifizieren. In diesem Sinne ist Kirchenentwicklung stets ein dialogisches Geschehen.
Systeme können nicht zugleich maximal produzieren und optimal lernen. Produktion und Lernen sind in ein den Kontextanforderungen angemessenes Verhältnis zu bringen: Vieles deutet darauf hin, dass die Ressourcen für die Standards radikal reduziert werden müssen (auf 1/3), um hinreichend Ressourcen (2/3) für Experiment und Innovation zu haben. Zielsetzung muss es sein, den laufenden Betrieb selbst als Teil des Transformationsvorgangs zu verstehen, d. h. die Pastoral/ Seelsorge im Alltag experimentell, projekthaft und prototypisch aufzustellen. Nicht zuletzt muss man sich von der Vorstellung verabschieden, alle auf den Weg der Veränderung mitnehmen zu können. Auf absehbare Zeit wird es Menschen geben, die ihren Glauben so leben und Kirche so erfahren möchten, wie sie es in ihrer Sozialisation gelernt haben. Lösung kann nur sein: Wer geht, geht, wer bleibt, bleibt. Diese Balance muss der Transformationsprozess gewährleisten (mixed economy).
Gebraucht werden Menschen, die den Mut haben, zu gehen, und aufhören sich mit dem Status Quo zu arrangieren.
Bezogen auf Prozesse der Kirchenentwicklung ist von Anfang an die Einbeziehung der Außen-Perspektive (Fremdprophetie) in Form von Interviews, Foren oder Resonanzgruppen von zentraler Bedeutung. Es geht ja nicht nur um eine Erneuerung der Binnenorganisation, es geht im Kern um Relevanz, um eine Neubestimmung der Funktion von Kirche in der postmodernen Gesellschaft. Und diese gelingt nur im Dialog mit der Gesellschaft, nicht erst dann, wenn der Umbau vollzogen ist.
Resümee
Es gibt viele gute Analysen. Die Zahlen liegen seit langem auf dem Tisch. Die Szenarien sind klar und gesichert. Der langfristige Zielkorridor ist im Grundsatz unbestritten. Alle wissen, wie eine gute Transformation geht. So what? Daran hängt und scheitert es nicht!
Es mangelt am Mut, Nägel mit Köpfen zu machen, strategische Ziele zu definieren, notwendige Entscheidungen zu treffen, unbequeme Konsequenzen zu ziehen, überflüssige Dinge wegzulassen, Konflikte auszuhalten und auszutragen, Fehler zu machen und daraus zu lernen … Gebraucht werden Menschen, die den Mut haben, zu gehen, und aufhören sich mit dem Status Quo zu arrangieren.