012023

Foto: dylan nolte/Unsplash

Konzept

Bernd Hillebrand

Mit Gott rechnen im Vielleicht

In der sogenannten Spätmoderne haben sich Kommunikation zu Bildkommunikation und Lebenspraxis von Menschen zu einem neuen Naturnetzwerk verändert. Die Glaubenskommunikation der Kirchen hat darauf noch wenig reagiert. Darin liegt jedoch ein hermeneutischer Schlüssel, da die Lebenswirklichkeit Ausgangspunkt eines neuen Glaubensverstehens ist. Heutige Glaubenskommunikation ist darüber hinaus gefährdet, sich den Prinzipien einer leistungsorientierten Gesellschaft zu bedienen. Daher liegt eine Chance in der Wiederentdeckung eines schwachen Gottes. Für einen solchen unverfügbaren und nutzlose Gott braucht es Platz, wenn man mit ihm rechnet.

Your body. Your soul. Your ritual – mit diesen Begriffen wirbt eine Kosmetik-Kette. Irritierend an dem Slogan ist zunächst die transzendente Dimension, die sich darin zeigt. Körper, Seele, Ritual sind in religiösen Vollzügen tief verankert. Interessant beim zweiten Blick ist, dass jeweils allen drei Wörtern ein Pronomen vorausgestellt wurde. Die Wirkkraft von Kommunikation setzt offensichtlich Relationalität voraus. Dazu kommt ein vorausgestellter Text, der Intention und Bedeutung erläutert und das Kosmetik-Produkt in einen Kontext stellt. Schließlich findet sich beides auf einer transparenten Schaufensterscheibe, durch die schöne Farben, ein goldener Strauß und ein angenehmes Licht scheinen.

Was sich an dieser Werbung beobachten lässt, hat mit einer veränderten Kommunikation und mit einer sich neu vollziehenden Lebens- bzw. Glaubenspraxis zu tun. Ich beginne zunächst mit der veränderten Kommunikation.

Kommunikation geschieht nun vorrangig durch Virtualität, Simulation, Inszenierung und Ästhetik.

Was sich hier kommunikativ andeutet, wird in der Kunst- und Kulturwissenschaften mit dem „iconic turn“ beschrieben. Dieser Turn postuliert, dass in der postmodernen Kommunikation ein Paradigmenwechsel vom Wort zum Bild stattgefunden hat. Das Leitmedium Buch wurde durch das Leitmedium PC abgelöst, wodurch sich die Leitbegriffe verändert haben. Kommunikation geschieht nun vorrangig durch Virtualität, Simulation, Inszenierung und Ästhetik. Sprache ist durch den „iconic turn“ nicht überflüssig geworden, wirkt allerding nur noch durch einen inszenierten und wahrnehmbaren Vollzug: sie wirkt, wenn das Gesagte inszeniert wird. Sprache und Kommunikation fand nie ohne Kontext oder frei von Geschichte statt. Nun treten jedoch zur aufgeklärten und zeitlich verankerten Vernunftkommunikation eine emotionale und dynamische Inszenierung und Ästhetik hinzu, die der Sprache Wirkung und Macht geben. Dadurch verliert Sprache ihre relative Eindeutigkeit. Kognitive Zuverlässigkeit und Standards verlieren an Stabilität und werden unter dem Stichwort „postfaktisch“ offensichtlich. Die kirchliche Kommunikation hingegen hat diese Wende meist noch nicht vollzogen. Obwohl sie einen großen Schatz an Symbolen und Ritualen hat, findet Glaubenskommunikation vorrangig über monologische Sprache statt. Pentekostale und evangelikale Bewegungen hingegen haben die Wende zum Bild vor allem ästhetisch und emotional aufgegriffen und umgesetzt. Allerdings wird mit der einhergehenden postfaktischen Wende sowohl Gesellschaft als auch Verkündigung auf neue Weise manipulier- und beeinflussbar, worauf ich später nochmals eingehen werde.

Obwohl die Kirche einen großen Schatz an Symbolen und Ritualen hat, findet Glaubenskommunikation vorrangig über monologische Sprache statt.

Zu der nun beschriebenen emotionalen und ästhetischen Emanzipation kommt in der Spätmoderne eine neue, weitere Emanzipation hinzu, die nun Bezug auf den oben zweiten Aspekt der Lebens- und Glaubenspraxis nimmt. Der Prager Religionsphilosoph Tomáš Halík beschreibt sie als Befreiung der Natur von der Vorherrschaft der technisch-ökonomischen Manipulation durch den Menschen. Spätestens an dieser Stelle wird deutlich, dass der Sprache zu viel Macht eingeräumt wurde. Materie und Dinge spielten in ihrer Materialität und Bedeutung keine Rolle. Die philosophische Physikerin Karen Barad zeigt auf, wie in allen Dingen eine dynamische Kraft liegt, da alle materiellen Körper mit ihrer Geschichte und ihren Phänomenen in den Lebensraum hineinwirken und ihn gestaltend mit vollziehen.1 Glaubenskommunikation kann nicht mehr getrennt von einer Lebens- und Glaubenspraxis gesehen werden, sondern beides greift ineinander und wird gemeinsam vollzogen – man spricht von Performativität.

Ausgehen von der Lebens- und Glaubenspraxis

In der eingangs dargestellten Werbung steckt folglich auch eine Lebens- oder gar Glaubenspraxis, hinter der eine Deutung oder Überzeugung steht. Vielleicht geschieht in dieser Werbung schon eine implizite Rede von Gott. Jedenfalls steht die Werbung mit der genannten Emanzipation der Natur nicht für sich allein, sondern ist je nach Kontext vernetzt mit vielen Erzählungen von Natur, Dingen, Menschen und Materialien. Um die Überzeugung von Menschen im Kontext ihres Netzwerks zu verstehen oder gar um den eigenen Glauben ins Gespräch zu bringen, kann man nur vom Kontext, vom Lebensglauben des einzelnen ausgehen und sich ihm annähern. Eine Glaubensüberzeugung liegt also nicht offen da, sondern drückt sich in der Beziehung zur Natur, zu Tieren, zu Dingen oder zu anderen Menschen aus. Daher muss Glaubenskommunikation von der Lebens- und Glaubenspraxis anderer ausgehen. Es bedarf eines Interesses für den Menschen, mit dem man in Beziehung kommen muss, um sich über Leben und Glauben auszutauschen. Erst dabei kommen die existentiellen Gesellschafts- und Lebensfragen zur Sprache. Hier entsteht ein Freiraum für „Freude und Hoffnung, Trauer und Angst der Menschen“ (Gaudium et Spes, 1).

Es bedarf eines Interesses für den Menschen, mit dem man in Beziehung kommen muss, um sich über Leben und Glauben auszutauschen.

In dieser Begegnung kann sich das Evangelium ereignen, vielleicht überraschend oder irritierend. Da das Evangelium jedoch weder der Besitz des einen noch des anderen ist, kann es nur im gegenseitigen Lernen erschlossen werden. Die primäre Herausforderung des Evangeliums in diesem Austausch bleibt jedoch die Orientierung am Verletzten und am Ausgeschlossenen, denen eine unendliche Würde und die Möglichkeit eines Neuanfangs zugesagt wird. Glaubenskommunikation schließt also in der Begegnung das Tragische, den Schmerz oder die Unsicherheit nicht aus. Die Irritation des Evangeliums besteht gerade darin, dass es nicht schützt vor Verletzlichkeit und dass es den Finger in die Wunde legt. Glaubenskommunikation wird dann wirksam, wenn in dieser irritierenden Begegnung von Menschen, Dingen oder Natur mit der Liebe des Gottes Jesu Christi gerechnet wird.

Verkündigung in der Versuchung der Macht

Jede Begegnung und jeder Sprechakt stehen in der Gefahr und vielleicht in der Versuchung, Macht über andere auszuüben, besonders dann, wenn sie von großem Engagement oder missionarischem Eifer geprägt sind. Glaubenskommunikation bedient sich besonders dann der Macht über andere, wo im Sprechakt durch Emotion und Ästhetik die freiheitliche Entscheidung des einzelnen eingeschränkt wird, wo Ängste und apokalyptische Bilder mit den Bedürfnissen und Fragen der Menschen spielen oder wo hierarchische Abhängigkeiten kein freies Handeln zulassen. Gerade wenn das Lebenskonzept des/der anderen als Konkurrenz oder als falscher Weg angesehen wird, ist die Gefahr groß, dass manipulative Macht zum Einsatz kommt, die als übergriffig erlebt werden kann. Dieser Zusammenhang ist inzwischen ausführlich unter den Begriffen „spiritueller und geistlicher Missbrauch“2 beschrieben.

Wenn das Lebenskonzept des/der anderen als Konkurrenz oder als falscher Weg angesehen wird, ist die Gefahr groß, dass manipulative Macht zum Einsatz kommt, die als übergriffig erlebt werden kann.

Eine zweite Versuchung der Glaubenskommunikation besteht in einer funktionalen und neoliberalen Logik. Auf dem Markt unterschiedlicher Glaubensanbieter:innen stellt sich unmittelbar die Frage nach dem Nutzen. Prinzipien der Wirksamkeit und der Optimierung drängen sich auf, um auf dem kapitalistischen Markt mithalten zu können. Von diesen Marktlogiken wird dann auch die Art der Gottesrede geprägt. Der Glaube muss zu Vitalität führen, Gott wird zeitlich und räumlich verfügbar oder sein zeitweiliges Schweigen bekommt keinen legitimen Raum. Der schon erwähnte Tomáš Halík stellt gleichsam die christliche Echtheitsprobe eines Glaubens auf dem Markt: „Tragen die Angebote in irgendeiner Form Wunden an sich? Haben sie die Elemente des Tragischen, des Schmerzes, der Unsicherheit nicht ausgeschaltet? Sind sie nicht bloß […] glänzende Angebote eines schnellen Weges zu Glück, Erfolg, Zufriedenheit? Christus zeigt uns seine Wunden, damit auch wir Mut haben mögen, unsere Verwundungen und Narben einzugestehen und sie nicht zu verhüllen.“3 Die paradoxe christliche Glaubenslogik besteht gerade in der Unbrauchbarkeit Gottes. Man kann sich seiner Präsenz und Offenbarung nicht ermächtigen, sondern kann nur allgegenwärtig mit seinem Ereignis rechnen.

Gott des Vielleicht

Eine solche Logik der Nutzlosigkeit macht in der eigenen Glaubensvorstellung demütig und öffnet für einen neu oder wiederentdeckten Gott der Bibel. Zunächst bleibt das absolute Geheimnis auch in allen Selbstoffenbarungsgeschichten der Bibel ein Geheimnis. Wir stoßen bei der Suche nach Gott an die Grenzen rationaler Erkenntnis. Dennoch erinnert Ignatius von Loyola daran, dass Gott als Schöpfer in allen Dingen zu finden ist.

Die paradoxe christliche Glaubenslogik besteht gerade in der Unbrauchbarkeit Gottes.

Die Wiederentdeckung seiner Allgegenwart könnte neu für den verlorenen Bezug zu Natur und Klima sensibilisieren. Dass sich der christliche Gott als Mensch in Jesus Christus in die Welt hineinbegibt und dabei selbst schwach und ohnmächtig wird, ist eine wichtige Dimension, die gerade die Schwachheit Gottes, seine Solidarität mit den Schwächsten und die Bedingungslosigkeit seiner Liebe deutlich macht. Um in die unmittelbare Begegnung als Ausdruck seiner bedingungslosen Liebe mit der Welt zu treten, riskiert Gott seine Allmacht und seine Herrschaft.4 Darin wird Gott im Verständnis der Christ:innen auch manchmal zum Fremden und zum Schweigenden. Er entzieht sich jeder Verfügbarkeit. In der Emmausgeschichte entschwindet er gerade in dem Moment, in dem er verfügbar werden würde. Dennoch macht Vertrauen und Hoffnung des christlichen Glaubens gerade aus, mit Gott in allem zu rechnen, darauf zu setzen, dass jeder bedingungslos angenommen ist und mit Gott jederzeit neu anfangen kann, weil der Tod nicht das letzte Wort hat, sondern der Beginn einer neuen Wirklichkeit ist. Insofern bleibt der Glaube der Christ:innen ein Glaube an einen schwachen und unverfügbaren Gott, der Geheimnis bleibt, über den man immer sagen muss: „Wir wissen es nicht“ oder eben „vielleicht“.

Für Gott Platz machen gerade dort, wo es wehtut

Eine Glaubenskommunikation der Gegenwart bedarf gerade dieser Demut im Sprechen von, mit und über Gott. Diese Haltung öffnet für einen Dialog mit allen Suchenden nach ihrem Lebens- und Gottesglauben. Gleichzeitig braucht es in diesem und für diesen Dialog auch eine Deutungs- und Interpretationskompetenz.5 Die Existenzfragen von Gesellschaft und Menschen müssen immer wieder neu mit den biblischen und anderen christlichen Quellen konfrontiert und in eine kreative Auseinandersetzung kommen. Der Soziologe Bruno Latour sagt es plakativ: „Stellen sie sich einen Liebenden vor, der die Frage ,Liebst Du mich?‘ mit dem Satz beantwortet ,Aber ja, du weist es doch, ich habe es Dir letztes Jahr schon gesagt.‘ […] Wie könnte er entschiedener bezeugen, daß er endgültig aufgehört hat zu lieben? Er hat das liebevolle Ersuchen als Informationsfrage aufgefaßt, ganz als hätte er vor, mittels eines Dokuments, einer Karte, durch den Zeit-Raum hindurch einen Weg zum entlegenen Territorium jenes Tages zu zeichnen, an dem er offiziell seine Liebe erklärte.“6 Glaube ist ein ständiger Lernprozess zwischen Evangelium und Lebensexistenz, zwischen Glauben und Verstehen, der zu mehr Tiefe und Reifung im Sinne einer Reinterpretion führt. Dieser Prozess führt eben auch an die Wunden des Lebens, an die Existenz- und Lebensfragen, die manchmal ohne Antwort bleiben und in gähnende Leere münden. Gerade darin mit dem Ereignis des Evangeliums, mit Gott zu rechnen, erzählt vom Gott Jesu und vom österlichen Geheimnis.

Glaube ist ein ständiger Lernprozess zwischen Evangelium und Lebensexistenz, zwischen Glauben und Verstehen, der zu mehr Tiefe und Reifung im Sinne einer Reinterpretion führt

Ob Your body. Your soul. Your ritual ein Reden von Gott ist, in dem das Evangelium einen relevanten Bezug erhält, bleibt unverfügbar, auch wenn wir damit rechnen sollten.

  1. Vgl. Barad, Karen (2023), Agentieller Realismus. Über die Bedeutung materiell-diskursiver Praktiken (5. Aufl.), Nördlingen. Suhrkamp.
  2. Vgl. beispielsweise: Wagner, Doris (2019). Spiritueller Missbrauch in der katholischen Kirche, Freiburg. Herder.
  3. Halík, Tomáš (2016), Wege einer neuen Evangelisierung? In: Ruhstorfer, Karlheinz (Hg.), Das Ewige im Fluss der Zeit. Der Gott den wir brauchen (217-223, 223). Freiburg. Herder.
  4. Vgl. zur weiteren Auseinandersetzung: Caputo, John D. (2022). Die Torheit Gottes. Eine radikale Theologie des Unbedingten. Ostfildern. Patmos.
  5. Vgl. dazu: Theobald, Christoph (2018). Christentum als Stil. Für ein zeitgemäßes Glaubensverständnis in Europa, Freiburg – Basel – Wien. Herder.
  6. Latour, Bruno (2016). Jubilieren. Über religiöse Rede (39-40). Berlin. Suhrkamp.

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