012023

Foto: David Matos/Unsplash

Konzept

Christian Hoppe

Gott und Gehirn – eine neurowissenschaftliche Perspektive

Nachdem ich die ersten fünf Jahrzehnte meines Lebens als gläubiger Christ und die Hälfte dieser Jahre als diplomierter katholischer Theologe unterwegs war, hat sich für mich vor allem durch die Auseinandersetzung mit der Hirnforschung – ich bin seit 25 Jahren klinischer Neuropsychologe an der Universitätsklinik in Bonn – vor einigen Jahren das Blatt gewendet. In diesem Essay skizziere ich einige der Überlegungen, die meine Abkehr von der christlichen Religion begründen.

Folgende, die Hirnforschung betreffende Fragen scheinen theologisch relevant zu sein:

  • Wie ist die Rolle des Gehirns bei mystischen Erlebnissen zu beurteilen?
  • Gibt es eine vom Körper (einschl. Gehirn) unabhängige Seele, die den Tod überlebt?
  • Ist die Vorstellung immaterieller mentaler Agenten konsistent denkbar?
  • Was lässt sich neurowissenschaftlich zu neutestamentlichen Wundern sagen, speziell zu den Heilungswundern Jesu (z. B. Heilung einer Epilepsie)?
  • Wie steht es um die Willensfreiheit, die zentrale Voraussetzung christlicher Moralvorstellungen?

Verdichtet lautet die zentrale Frage für den Dialog zwischen Theologie und Wissenschaft: Gibt es Wunder? Wunder im Sinne eines Eingreifens übernatürlicher Kräfte in den natürlichen Lauf der Welt? Diese Frage würde ich heute entschieden verneinen.

Was ist Hirnforschung?

Bei den kognitiven Neurowissenschaften („moderne Hirnforschung“) handelt es sich um das wissenschaftliche Zusammenspiel von Psychologie und Neurophysiologie: Mit Hilfe einiger erst seit wenigen Jahrzehnten verfügbaren Methoden können wir einerseits Menschen und Tiere in ihrem Verhalten oder während berichteter Erlebniszustände und andererseits deren Gehirne in Aktion gleichzeitig und auf ungefährliche Art und Weise beobachten und die verschiedenartigen Messungen aufeinander beziehen. Konkret kann man je nach Richtung der experimentellen Manipulation zwischen Psychophysiologie (psychologisches Experiment mit abhängigen hirnphysiologischen Messwerten, z. B. funktionelle Bildgebung oder ereigniskorrelierte EEG-Potentiale) und Neuropsychologie (Experiment am Gehirn mit abhängigen psychologischen Messwerten, z. B. repetitive transkranielle Magnetstimulation oder psychedelische Drogen) unterscheiden, die zusammen die kognitiven Neurowissenschaften bilden. Methodologisch gehört dieser Forschungsbereich wegen seines primären Interesses an psychischen Phänomenen in die Psychologie, welche ihrerseits am passendsten der Biologie, vor allem der Humanbiologie zugeordnet wird.

Wie die Naturwissenschaften insgesamt werden auch die Neurowissenschaften unter der methodischen Annahme des Atheismus betrieben.

Die klinische Neuropsychologie untersucht die psychischen Folgen manifester (organischer) Hirnerkrankungen und -verletzungen – teilweise spricht man auch von Kognitiver Neurologie –, während die sonstige Klinische Psychologie und die Psychiatrie psychische Störungen in nachweislicher Abwesenheit üblicher Organpathologien (z. B. Tumore, Entzündungen/Infektionen, Stoffwechselerkrankungen, Elektropathophysiologie/Epilepsie, Fehlbildungen, usw.) im Gehirn, also „nichtorganische“ psychische Störungen untersucht.

Leitidee

Wie die Naturwissenschaften insgesamt werden auch die Neurowissenschaften unter der methodischen Annahme des Atheismus betrieben. Darüber hinaus fasst eine unter Expert:innen breit konsensfähige „Leitidee“ den heutigen Forschungsstand und auch die zukünftige Forschungsagenda griffig zusammen: Psychische Phänomene und Fähigkeiten hängen von Hirnfunktionen ab und treten ohne diese nicht auf („Ohne Hirn ist alles nichts“). Hirnfunktionen gelten somit als die notwendige und wahrscheinlich auch hinreichende Bedingung für das Auftreten psychischer Phänomene. Diese Leitidee ist informativ, insofern man sich ohne weiteres vorstellen könnte, dass psychische Phänomene auch ohne zugrunde liegende Hirnprozesse auftreten (im Internet sowie in vielen religiösen Weltbildern findet man zahlreiche vermeintliche Belege für exakt diese gegenteilige Behauptung).

Psychische Phänomene und Fähigkeiten hängen von Hirnfunktionen ab und treten ohne diese nicht auf („Ohne Hirn ist alles nichts“).

Zugleich eröffnet die in der Leitidee implizierte negative ontologische These – „Psychische Phänomene ohne zugrunde liegende Hirnprozesse gibt es aller Wahrscheinlichkeit nach gar nicht“ – den Weg zu einer möglichen empirischen Falsifikation der These: Es würde genügen, ein psychisches Phänomen (z. B. eine bestimmte Wahrnehmung) zu beobachten und wissenschaftlich zu dokumentieren, das exakt zum Zeitpunkt des Stillstands aller psychisch relevanten Hirnfunktionen auftritt. Ebenso schließt die Leitidee die Existenz immaterieller (kein Gehirn!) mentaler Agenten wie Seelen, Dämonen, Engel, Götter, Gott aus, jedenfalls soweit man ihnen psychische Eigenschaften zuschreiben möchte; ein Existenznachweis für eine dieser Wesenheiten würde also immer auch die Leitidee falsifizieren.

Nahtoderfahrungen

In dieser methodologischen Perspektive wird das sehr spezifische Interesse der Neurowissenschaften an den Nahtoderlebnissen einsichtig: Stellen die Nahtoderfahrungen nicht vielleicht genau diesen Falsifikationsfall dar? Treten im Rahmen der sogenannten Out-of-body-Erlebnisse nicht nachweislich Wahrnehmungen auf, während das Gehirn z. B. infolge eines Herzstillstandes außer Betrieb ist? Für die Betroffenen mag dies sehr enttäuschend sein, aber für die Hirnforscher besteht zunächst tatsächlich ein ausschließlich abstrakt-funktionelles Interesse; die Inhalte selbst werden kaum weiter beachtet.

Mein persönliches Fazit lautet, dass Nahtoderfahrungen (bisher) keinen überzeugenden Falsifikationsfall für die Leitidee der Hirnforschung geliefert haben.

Die Literatur ist umfangreich und muss sehr genau studiert werden (z.B. gibt es erstaunliche Verzerrungen in der üblichen Darstellung des klassischen Falls der Pam Reynolds die zeitlichen Abläufe der Hirnoperation betreffend, die diese Nahtoderlebende durchlaufen hat); eine genauere Auseinandersetzung ist an dieser Stelle aus Platzgründen offensichtlich nicht möglich. Mein persönliches Fazit aus der jahrelangen Auseinandersetzung mit dieser Literatur lautet jedoch, dass Nahtoderfahrungen (bisher) keinen überzeugenden Falsifikationsfall für die Leitidee der Hirnforschung geliefert haben. Nahtoderfahrungen beruhen wie alle anderen Erfahrungen auch auf Hirnprozessen; sie treten in den Übergangsphasen während des Verlustes oder während des Wiedererlangens dieser Funktionen auf. Die Leitidee impliziert, dass veränderte Hirnprozesse mit veränderten mentalen Zuständen einhergehen. Nahtoderfahrungen sagen demnach nicht viel über die Möglichkeit eines fortbestehenden Erlebens nach dem irreversiblen Verlust aller Hirnfunktionen im tatsächlichen Tod aus. Inhaltlich sehr ähnliche Erlebnisse können übrigens in gänzlich andersartigen Zusammenhängen und fern jeder Todesbedrohung auftreten (z.B. unter Ketamin-Gabe); daher sollte man die Bezeichnung noch einmal überdenken, eher handelt es sich um Near-Loss-of-Consciousness-Experiences.

Substanzielles Bewusstsein?

Es lässt sich auf rein konzeptueller Ebene, also jenseits von Empirie und Induktionsschluss, ein überzeugendes Argument für die Hirnabhängigkeit des menschlichen Bewusstseins anführen, das bisher nicht publiziert wurde: Wäre mein Bewusstsein ein hirnunabhängiges substanzielles Bewusstsein, dann könnte ich niemals bewusstlos sein; denn dann wäre dieses Bewusstsein während dieser Zeit ein bewusstloses Bewusstsein (contradictio in se adiecto). Ein substanzielles Bewusstsein wäre also notwendigerweise und seiner ganzen Natur nach aber stets bei Bewusstsein; es könnte auch von nirgendwo anders her sein einmal verlorenes Bewusstsein wiedererlangen, wenn es selbst doch ebendieses Bewusstsein ist. Dies kann aber nicht sein, da wir faktisch unser Bewusstsein immer wieder verlieren (z. B. Narkose).

Grundsätzlich sollte man stets aufhorchen, wenn etwas schwer Erklärliches durch etwas prinzipiell Unerklärliches erklärt werden soll.

Bringt man nun in Erwiderung auf dieses Argument die Seele als immateriellen Träger variabler Bewusstseinszustände ins Spiel, stellen sich dieselben Fragen wie zuvor im Hinblick auf das Gehirn: Unter welchen Bedingungen verliert die Seele das Bewusstsein, wodurch erlangt sie ihr Bewusstsein zurück? Man hat also eigentlich noch gar nichts erklärt! Und es stellen sich zusätzliche Fragen: Wie erklärt sich die enge zeitliche Korrelation bestimmter Hirnereignisse mit Bewusstseinsverlusten einer vom Gehirn doch völlig getrennten Seele (z. B. bei einem K.O. beim Boxen)? Die Frage steht jetzt prinzipiell außerhalb der Reichweite menschlicher Erkenntnis, eine immaterielle Seele können wir prinzipiell nicht erforschen. (Grundsätzlich sollte man stets aufhorchen, wenn etwas schwer Erklärliches durch etwas prinzipiell Unerklärliches erklärt werden soll.)

Höheres Bewusstsein?

Aus biologischer Sicht stellt der Bewusstseinszustand des Alltags, in dem wir über alle überlebensnotwendigen psychischen Fähigkeiten frei verfügen, den höchsten Bewusstseinszustand dar, während im Rahmen spontan auftretender oder durch mentale bzw. pharmakologische Techniken induzierter mystischer Erlebniszustände zwar bestimmte Erlebensaspekte extrem verstärkt sind – z. B. das Farbensehen unter LSD –, andere wichtige Fähigkeiten jedoch zeitweise verloren gehen (z. B. Größenkonstanz visuell wahrgenommener Objekte). Würde ein Meditierender dauerhaft im Zustand totaler Versenkung verharren, würde er bald verdursten. Aus wissenschaftlicher Sicht kann ein solcher Zustand daher schwerlich als „höherer“ Bewusstseinszustand anerkannt werden.

Verortet man dieses meditative Erleben jedoch wieder in den Gesamtablauf der Wahrnehmung, gibt es aus wissenschaftlicher Sicht keinen überzeugenden Grund, diesen Erlebnissen einen derart hohen Stellenwert (Erleuchtung, satôri, u. ä.) zuzuschreiben.

Es fällt auf, dass die meisten Meditationstechniken eine Fokussierung auf die zeitlich frühesten, quasi noch ungegenständlichen Wahrnehmungs- oder Empfindungsphasen vorschlagen, welche noch vor der klaren Objekterkenntnis und -benennung liegen; die Wahrnehmung gelangt so nicht bis zur abstrakt-gedanklichen Einordnung einer Empfindung zu einem bestimmten Typ von Objekt, man bleibt mit seiner Aufmerksamkeit vielmehr bei den jeweils jetzt und jetzt unmittelbar eintreffenden (visuellen, auditorischen, propriozeptiv-taktilen) Empfindungen. Es erscheint nachvollziehbar, dass mit dem aktiven Unterdrücken der vollständigen Wahrnehmung und Identifikation von Objekten durch hochgeübte Aufmerksamkeitslenkung schließlich das Gefühl der eigenen Subjektivität verschwindet, welche sonst im Gegenüber zu und getrennt von diesen Objekten erlebt würde. Stattdessen wird eine ursprünglichere Einheit im unmittelbaren Empfinden erfahren, die zeitlich und logisch vor der Trennung in Objekt und Subjekt liegt, eine Art Empfindungsfeld an und für sich, ohne Ich. Verortet man dieses meditative Erleben jedoch wieder in den Gesamtablauf der Wahrnehmung, gibt es aus wissenschaftlicher Sicht keinen überzeugenden Grund, diesen Erlebnissen einen derart hohen Stellenwert (Erleuchtung, satôri, u. ä.) zuzuschreiben. Ich stelle aber keineswegs in Abrede, dass Mindfulness-Meditation in der Psychotherapie Patient:innen erstmalig die Erfahrung ihrer eigenen Aufmerksamkeit und deren bewusster Lenkbarkeit vermitteln kann.

Heilungswunder?

Einige wenige Worte zu den neutestamentlichen Heilungsberichten: Es fällt auf, dass alle dort beschriebenen Krankheitsbilder („Epilepsie“, Stummheit, Taubheit, Blindheit, Lähmungen, Hauterkrankungen) auch als sogenannte psychogene oder funktionelle Störungen auftreten können. In diesen Fällen ähnelt die Symptomatik bestimmten Erkrankungen; bei näherer Untersuchung stellt sich jedoch heraus, dass die Symptomatik charakteristisch abweicht und andere, unbedingt zu erwartende Anzeichen der Erkrankung vollständig fehlen; kurz: Die fragliche organische Erkrankung liegt nicht vor.

Es wäre denkbar, den Heilungsberichten im Neuen Testament eine Historizität zuzusprechen, wenn man sich die fraglichen Erkrankungen als nichtorganische (nichtneurologische), psychogene Krankheitsbilder vorstellt.

Es wäre denkbar, den Heilungsberichten im Neuen Testament eine Historizität zuzusprechen, wenn man sich die fraglichen Erkrankungen als nichtorganische (nichtneurologische), psychogene Krankheitsbilder vorstellt. Diese Erkrankungen sind heute zwar nur noch wenigen bekannt; auch viele Theolog:innen haben nie davon gehört. In der klinischen Neurologie und Psychiatrie spielen sie aber auch zahlenmäßig eine durchaus bedeutende Rolle. Historisch waren sie bei Freud und Charcot wichtig („Hysterie“). Psychoätiologisch stehen hinter den funktionellen Störungen meist (schwere) Traumatisierungen. Im Zusammenhang mit Anfallserkrankungen (Mt 17,14–21, Mk 9,14–29, Lk 9,38–42) kann ein Hinweis auf den psychogenen Charakter der im Neuen Testament beschriebenen Störung in der schlichten Tatsache gesehen werden, dass der Anfall des Jungen exakt zum Zeitpunkt der Begegnung mit Jesus, dem Exorzisten, auftritt; bei einer (organischen) Epilepsie wäre dies ein erstaunlicher Zufall. Das Heilungshandeln Jesu wäre zu beschreiben als eine zwar bemerkenswerte, aber eben nicht übernatürliche psychotherapeutische Intervention durch eine charismatisch-autoritäre Persönlichkeit, die sehr hohe Erwartungen (Glauben) in ihrem Gegenüber zu wecken vermag.

Mein Gehirn und Ich

Die moderne Physik in Form des Standardmodells der Quantenfeldmechanik erklärt sämtliche Bewegungen und Veränderungen im Universum mit vier „Wechselwirkungen“ oder „Kräften“: elektromagnetische Kraft, starke und schwache Kernkraft und Gravitation (welche genau genommen keine „Kraft“ ist). Für sämtliche physischen Vorgänge einschließlich des Verhaltens von Mensch und Tier sind die Ursachen damit im Prinzip bekannt; es besteht weder Bedarf an noch gibt es Platz für genuin psychische (mentale) Ursachen bzw. psychologische Erklärungen. Psychische Phänomene werden vielmehr vermittels der ihnen zugrunde liegenden Neurophysiologie in der Welt physisch wirksam – aber nicht als solche. Dies ist auch der Grund, warum wir nie ganz sicher sein können, ob unser Gegenüber wirklich bewusst erlebt oder nur geschickt so tut als ob (vgl. „philosophischer Zombie“): Das Erleben in seiner Subjektivität als solches steht in keinerlei Wechselwirkung mit der physischen Umgebung, also auch nicht mit meiner Physis als Beobachter.

Alle anderen Organe könnten im Prinzip ausgetauscht werden, ohne dass uns dies im Kern der Persönlichkeit tangierte. Nicht so aber das Gehirn.

Wir besitzen oder haben unser Gehirn keinesfalls so wie wir alle anderen Organe unseres Körpers besitzen und haben: Alle anderen Organe könnten im Prinzip ausgetauscht werden, ohne dass uns dies im Kern der Persönlichkeit tangierte. Nicht so aber das Gehirn – denn dann würden wir als Persönlichkeit mit samt dem Gehirn transplantiert werden; wir sind nicht trennbar von diesem Organ. Nicht ich habe also mein Gehirn – sondern: Mein Gehirn bringt zeitweise mich als bewusstseinsfähiges Subjekt hervor! Die mit bewussten Phasen einhergehende Neurophysiologie ist um ein vielfaches komplexer und leistungsfähiger als die Neurophysiologie in bewusstlosen Phasen – und diese besonderen Funktionen wurden evolutionär herausgebildet und immer weiter verfeinert.

Nicht ich habe also mein Gehirn – sondern: Mein Gehirn bringt zeitweise mich als bewusstseinsfähiges Subjekt hervor!

Das physische Substrat des Bewusstseins und des Erlebens – auch das physische Substrat psychischer Störungen – ist die in ca. 100 Billionen Synapsen realisierte integrative Informationsverarbeitung auf adaptives Verhalten in der gegebenen natürlichen und sozialen Umwelt hin. Künstliche neuronale Netze (vgl. ChatGPT) liefern uns heute die beste Metapher (!) für das Verständnis der Hirnprozesse, durch die wir als Subjekte konstituiert werden; sie wurden ihrerseits von elementaren hirnphysiologischen Prinzipien abgeleitet (z. B. Hebb‘sche Synapse nach dem kanadischen Neuropsychologen Donald O. Hebb). Das erlebensfähige Subjekt ist identisch mit Teilen der integrativen Informationsverarbeitung in seinem eigenen Gehirn; Bewusstsein ist ein emergentes Phänomen komplexer kognitiver Prozesse. Das heißt: Ich erlebe grundsätzlich nie etwas anderes als den Zustand von Teilen dieser Informationsverarbeitung in meinem Gehirn – aber in Gestalt einer phänomenalen Wirklichkeit mit mir selbst mitten darin.

Willensfreiheit?

Die Einsichten der Neurowissenschaften sind meines Erachtens mit dem klassischen Verständnis von Willensfreiheit nicht vereinbar. Im Bewusstsein werden uns Ergebnisse unkontrollierbarer, automatisch ablaufender Informationsverarbeitungs- und Selektionsprozesse präsentiert. Wir können nicht einmal unseren eigenen nächsten Gedanken vorhersagen.

Wir können nicht einmal unseren eigenen nächsten Gedanken vorhersagen.

Wirkt sich das auf unser Rechtssystem aus? Natürlich sind Menschen unter normalen Umständen lernfähig, manipulierbar, erziehbar usw.; sicherlich wirken Regeln besser, wenn sie mit einer glaubwürdigen Strafandrohung einhergehen. Aber wir allen kennen den Hiatus zwischen bewusster Einsicht und tatsächlichem Handeln. Daher stände es uns allen gut an, die schicksalshafte Tragik nicht ganz aus den Augen zu verlieren, die z. B. Straftäter:innen zu Straftäter:innen werden ließ. Im Bereich der Epileptologie wurden mehrere Fälle von schwer delinquenten Personen publiziert, die nach der neurochirurgischen Entfernung eines epileptogenen Fokus im frontmedianen Cortex wieder ein normales Sozialleben führen konnten.

Gott

Und was ist nun mit Gott – den die Naturwissenschaften ja ganz bewusst ausklammern? Gäbe es Gott so, wie es die Welt gibt, als Add-on quasi, fiele er selbst mit unter die Frage: Warum gibt es überhaupt irgendetwas und nicht vielmehr nichts? Das Existieren können wäre dann ursprünglicher als jeder Gott, den es gibt. Also wäre Gott nur wahrer Gott, wenn er die Möglichkeit des Existierens wäre – manche sprechen vom Seinsgrund –, was dann aber hieße, dass es ihn in einem für uns üblichen Sinne gar nicht gibt, dass also nicht nur seine göttlichen Eigenschaften analog verstanden werden müssen („all-“), sondern auch seine „Existenzweise“.

Mir persönlich erscheint die Vorstellung, dass Gott in der Welt Wunder wirkt, also in den mit den Naturgesetzen übereinstimmenden Lauf der Welt gezielt eingreift, inakzeptabel.

Hier tut sich nun eine gewaltige Spannung zwischen praktizierter Religiosität, die sich an ein konkretes, existentes Wesen wendet (Theismus), und spekulativer Theologie auf. Man denke an die negative Theologie bei Dionysus Areopagita; oder die „paradoxe“ Theologie bei Nicolaus Cusanus, der von Gott als dem Sein können spricht; oder an Thomas von Aquin, für den Gott die actualitas omnium actuum, die Wirklichkeit alles Wirklichen selbst ist (vgl. Pan-en-theismus).

Mir persönlich erscheint die Vorstellung, dass Gott in der Welt Wunder wirkt, also in den mit den Naturgesetzen übereinstimmenden Lauf der Welt gezielt eingreift, inakzeptabel. Ich verstehe nicht, wie man an göttliche Offenbarung glauben kann, wo Gott doch nicht einmal in der Lage zu sein scheint, einer Person auch nur einen kleinen Gedanken einzugeben (z. B. „Nicht schlafen, wach bleiben!“ oder „Wo ist eigentlich mein Kind?“ oder „Tu es bitte nicht!“), um dadurch eine Katastrophe abzuwenden. Ich habe religiöse Vorstellungen und Praktiken daher irgendwann fallengelassen, und das hat sich angefühlt wie die Befreiung von einer hartnäckigen Illusion, der man viel zu lange aufgesessen war. Dieser Schritt folgte zwingend meinem Wahrheitsgewissen; ich verbinde daher kein Verlusterleben damit, auch nicht die Erfahrung eines „Bruchs“ in meiner Person oder Biographie. Von außen betrachtet, sehe ich klarer, wie eigenartig und bizarr im Grunde das konkrete religiöse Verhalten und Sprechen ist – bei Christ:innen, aber auch bei anderen Religionen; ich vermisse es für mich nicht.

Ich plädiere für mehr Christlichkeit (vor allem Geschwisterlichkeit), aber weniger übernatürliche Religion.

Ich plädiere für mehr Christlichkeit (vor allem Geschwisterlichkeit), aber weniger übernatürliche Religion. Ich appelliere an die Kraft des Glaubens, die Kraft konstruktiver, kreativer Vorstellungen von einem besseren Leben – aber ohne Rückgriff auf übernatürliche Wesenheiten und Phänomene. Ich persönlich empfinde säkulare (humanistische usw.) Begründungen für ein gemeinwohl- und freiheitsorientiertes ethisches Verhalten als hinreichend, aber ich finde es großartig, wie viele Christ:innen sich aus religiösen Gründen verbindlich für gutes menschliches Zusammenleben engagieren. Leider allerdings lassen sich durch den Verweis auf den vermeintlichen Willen Gottes auch sehr fragwürdige moralische und politische Positionen begründen.

futur2 möglich machen

Hinter der futur2 steht ein Verein, in dem alle ehrenamtlich arbeiten.

Für nur 20 € pro Jahr machen Sie als Mitglied nicht nur die futur2 möglich, sondern werden auch Teil eines Netzwerks von Leuten, die an der Entwicklung von Kirche und Gesellschaft arbeiten.

» MEHR ERFAHREN