022019

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Konzept

Dietmar J. Wetzel

Kirchen und Unternehmen – eine organisationssoziologisch-vergleichende Betrachtung von Macht und Herrschaft

Einleitung

Macht und Herrschaft sind Themen, die uns – vielleicht gegenwärtig sogar mehr denn je – alle beschäftigen. Ich verstehe mich als Experte für Macht und Herrschaft, der sich aus einer soziologischen Perspektive theoretisch und empirisch mit verschiedenen Organisationsformen auseinandersetzt, mit den Kirchen im speziellen bislang eher am Rande. Ich finde es reizvoll, anhand der Beschäftigung mit ausgewählten Machtformen (vgl. Wetzel 2019, 2012b) sowie strukturellen Aspekten von Macht eine idealtypische Unterscheidung zwischen Kirchen einerseits und Unternehmen andererseits zu versuchen. Die Arbeit mit Idealtypen besteht darin, wiederkehrende Merkmale von Phänomenen zu verdichten, zuzuspitzen und kontrastierend zu einem, respektive mehreren Typen zu formen. Dadurch gelingt es, sowohl den Typus als solchen zu beschreiben, aber ebenso Unterschiede, im vorliegenden Fall, zwischen Kirchen und Unternehmen herauszuarbeiten. Meinen Ausführungen liegt eine mehrschichtige These zugrunde: Institutionen, Organisationen und Menschen müssen akzeptieren, dass Macht und Herrschaft eine wichtige Rolle im (beruflichen) Alltag spielen (Röttgers 1990). Dabei käme es wesentlich darauf an, geronnene und institutionalisierte Herrschaftsverhältnisse hin zu produktiven Machtverhältnissen zu „verflüssigen“. Gelingt diese Verflüssigung und Infragestellung von Herrschaftsverhältnissen, resultieren daraus konflikt- und konsensorientierte Aushandlungsprozesse, die sich in der täglichen Begegnung in Organisationen und ebenso zwischen Menschen ereignen. Eine anhand von sechs Machtformen durchgeführte idealtypische Gegenüberstellung plausibilisiert dies für Kirchen und Unternehmen.

Kirchen und Unternehmen: Eine idealtypische Gegenüberstellung anhand von sechs Machtformen

(1) Positions- und Autoritätsmacht

Positionsmacht wird qua Stellung in der Hierarchie verliehen, genauer sind damit »positionelle Verfestigungen« (Popitz 1992: 255) gemeint. Die patriarchalen Strukturen, die in der Kirche bis heute existieren, insbesondere in der katholischen Kirche, lösen sich in modernen Unternehmen mit der Suche nach flachen, agilen und flexiblen Organisationsformen tendenziell auf. Im Kontext ausgeübter Positionsmacht spielt Autoritätsmacht eine zentrale Rolle. Autorität dient dabei als Grundlage der Machtausübung, wobei von der grundsätzlichen Maßstabs- und Anerkennungsbedürftigkeit eines jeden Individuums ausgegangen wird. Autorität üben Menschen aus, deren Anerkennung für das Selbstwertgefühl des Autoritätsabhängigen wichtig wird (Popitz 1992).

Hierarchische Führungsmodelle werden im Zuge der Digitalisierung stärker denn je hinterfragt

Im  kirchlichen Zusammenhang sind es beispielsweise die Priester, die eine affektuelle Bindung mit ihren Untergebenen eingehen. In Unternehmen alter Schule sind es die „Patrons“ oder „Patriarchen“, die die autoritären Machtverhältnisse im Guten (Fürsorge) und im Schlechten (Kontrolle) verkörpern. Diese werden mit der Einführung neuer, alternativer Organisations- und Unternehmensmodelle sukzessive ersetzt, denn hierarchische Führungsmodelle werden im Zuge der Digitalisierung stärker denn je hinterfragt (Laloux 2015).

(2) Gender-Macht

Häufig ist mit der Positions- und Autoritätsmacht die Problematik der Gender-Macht verbunden. Während es in vielen Unternehmen „Gender-Mainstreaming“ und die anhaltende Debatte um „Me Too“ gibt, sind die Geschlechterverhältnisse in der Kirche weitgehend traditional ausgerichtet. Der Begriff der „hegemonialen Männlichkeit“ (Connell) kommt hier zum Tragen. Hegemonie steht für »eine Form von Herrschaft, die nicht auf Gewalt und Zwang beruht, sondern auf einem impliziten Einverständnis der Untergeordneten mit ihrer sozialen Lage« (Meuser & Scholz 2012: 24). Viele mächtige Männer in Kirchen nehmen sich bis heute das Recht heraus, über Abtreibung und damit zugleich über den Körper der Frau zu bestimmen. Hier zeigt sich die repressive Form der Gender-Macht in aller Deutlichkeit. Hingegen bieten die anhaltenden Diskussionen um die sexuellen Missbräuche, bei aller berechtigten Kritik und Empörung, eine Chance für mehr Geschlechtergerechtigkeit in den Kirchen. Die evangelische Kirche hat die Zeichen der Zeit erkannt und systematisch mehr Frauen in ihre Organisation eingebunden. Die Früchte der Aufklärung und des Feminismus sind hier nicht ohne Wirkung geblieben (Wetzel 2012a).

(3) Kommunikationsmacht

Wir setzen beim Kommunizieren immer mehr ein, als wir auf den ersten Blick glauben. Neben Sprache sind Mimik und Gestik insofern von Bedeutung, als Kommunikation wesentlich eine körperlich gebundene Praktik ist. Mit anderen Worten: Um uns durchzusetzen, Menschen zu beeinflussen und womöglich zu überzeugen, arbeiten wir häufig mit allen Mitteln und sind auch mehr oder weniger in Alltagssituationen am Improvisieren. Was bedeutet dies für Kirchen und Unternehmen? Charismatische Führungsfiguren, die gezielt ihre Kommunikationsmacht einsetzen, erzeugen positive und negative Wirkungen. Problematisch ist dabei, dass Priester und Ordensleute das Gefühl bekommen können, »vollkommen zu sein, weil sie ‚herausgehoben‘ sind.

Mit positivem Charisma  sind nicht autoritäre Leader gemeint, vielmehr an Partizipation und Mitbestimmung interessiertes Leitungspersonal.

Diesem Anspruch auf Perfektionismus auf dem Gebiet der Spiritualität und Moral kann ein Mensch nur bedingt gerecht werden. So wird ein Vertuschen von Fehlverhalten geradezu provoziert« (Bowe-Traeger 2019: 57). Mit positivem Charisma  sind nicht autoritäre Leader gemeint, vielmehr an Partizipation und Mitbestimmung interessiertes Leitungspersonal. Positiv eingesetzt kann Kommunikationsmacht beim Agenda-Setting für Kirchen und Unternehmen wichtig werden. Anders gesagt: Für Kirchen käme es darauf an, ein besseres Gespür für gesellschaftlich und individuell relevante Themen im „Kampf um Aufmerksamkeit“ zu entwickeln. Unternehmen leben dies vor, indem sie vermehrt auf Nachhaltigkeit und Ökologie setzen, und dies gezielt nach außen kommunizieren.

(4) Verletzungsmacht

Wir sind alle mehr oder weniger für die Effekte und die Auswüchse von Verletzungsmacht auf verschiedenen Ebenen anfällig. Vulnerabilität und die Macht zu verletzen trifft uns global und lokal, beispielsweise im Kriegsfall. Sie begegnet uns ebenso auf der Mikroebene alltäglichen Handelns. Beim Ende des Schweigens im Jahr 2010 von Seiten der Opfer im öffentlich gewordenen Missbrauchsskandal in der katholischen Kirche, wurde auf schreckliche Weise deutlich, über wie viel (fatale) Verletzungsmacht Kirchen verfügen. In (vermeintlich) geschützten Räumen und in intimen Nahverhältnissen wird die Macht zu verletzen an Leib und Seele in einem Fall eher direkt, im anderen subtil eingesetzt. Hier sind Kirchen und ihre Mitglieder im Besonderen anfällig. Aber auch Vorgesetzte und Chefs in Unternehmen verfügen über eine ausgeprägte Form der Verletzungsmacht qua hierarchisch überlegener Position im institutionellen Gefüge. Das Beispiel der sexuellen Übergriffe und der Diskriminierungen qua Geschlecht zeigen überdeutlich, inwiefern Leitungspersonal (aber auch Mitarbeiter) ihre Untergebenen psychisch verletzen und traumatisieren.

(5) Verschleierungsmacht

Kirchen und Unternehmen nutzen ihre Verschleierungsmacht. Brisante Themen werden ausgeblendet, bagatellisiert und dem Licht der Öffentlichkeit entzogen. Dinge zu verbergen, etwas aktiv zu verschleiern scheint in unserer auf Transparenz setzenden, und Klarheit fordernden Gesellschaft zunehmend schwieriger zu realisieren sein. Dennoch ist Verschleierungsmacht in vielen Kontexten am Wirken und nicht immer einfach offenzulegen. Skandale und Enthüllungen zeugen davon. Vorherrschend ist eine Art Paradox: Auf der einen Seite wollen wir einfach alles und möglichst transparent erfahren, sind aber auf der anderen Seite aus guten Gründen nicht bereit, alles preiszugeben – und schon gar nicht jeder oder jedem.

Kirchen und Unternehmen nutzen ihre Verschleierungsmacht. Brisante Themen werden ausgeblendet, bagatellisiert und dem Licht der Öffentlichkeit entzogen.

Dass Kirchen über ein gehöriges Maß an Verschleierungsmacht verfügen, hat wiederum die späte Aufdeckung des sexuellen Missbrauchskandals gezeigt. Auch das Thema der Homosexualität im Vatikan wurde lange Zeit von einflussreichen Akteuren, wie dem Papst oder den Bischöfen im Verborgenen gehalten. Der Ruf nach Aufklärung und Transparenz haben letztendlich dazu geführt, dass scheibchenweise die Wahrheit ans Licht gekommen ist und das wahre Ausmaß unterdrückter Sexualität kritisch thematisiert wird (Martel 2019).

(6) Disziplinierungs- und Kontrollmacht

Sich und andere disziplinieren zu müssen, gehört zu den Grundüberzeugungen unserer Gesellschaften. Und es ist tatsächlich richtig: Ohne einen gewissen Grad an Disziplinierung und Kontrolle würden wir vielleicht nie oder deutlich weniger arbeiten. Manche Skeptiker behaupten: Wir würden unser Leben nach Lust und Laune gestalten. Auch ich plädiere nicht dafür, Disziplinierungs- und Kontrollmacht vollständig abzulehnen. Stattdessen bedarf es einer gewissen Ambiguitätstoleranz und eines Gefühls für Balance, um den Drahtseilakt zwischen Fremd- und Eigenkontrolle, zwischen Disziplinierung und Freiheitsdrang hinzubekommen.

 

Kirchen müssen möglichst transparent in Macht- und Herrschaftsangelegenheiten werden und zudem auch so aktiv auftreten, um an Glaubwürdigkeit wieder zuzulegen.

Kirchen zeigen sich gegenüber einer solch geforderten Ambiguitätstoleranz mitunter wenig tolerant. Im Gegenteil: Unterwerfung, autoritäres Gebaren und Misstrauen scheinen im Alltag weit verbreitet zu sein. Wiederum spielt das spezifische Abhängigkeitsverhältnis zwischen Oberen und Untergebenen eine entscheidende Rolle. Bekanntlich setzen Unternehmen seit eh und je auf Disziplinierung und Kontrolle. Im Gegensatz dazu sind in modernen Unternehmen vor allem Selbstdisziplinierung und Selbstkontrolle angesagt, da über flache Hierarchien, zunehmende Partizipationsmöglichkeiten und Coworking Macht und Herrschaft minimiert werden sollen.  Anders gesagt: Der Druck auf Unternehmen, sich zumindest mit diesen Organisationsformen und Idealen auseinanderzusetzen scheint mir (noch) ungleich höher zu sein als in Kirchen. Doch auch die Kirchen können sich diesem (innovativen) Veränderungsdruck nicht auf Dauer entziehen.

Fazit

Nach dieser idealtypischen Gegenüberstellung werde ich abschließend nicht bereits Gesagtes wiederholen oder zusammenfassen. Stattdessen führe ich vier Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Macht und Herrschaft an, wobei ich diese in erster Linie vor dem Hintergrund der Situation von Kirchen ausspreche. Hier vermischen sich bewusst wissenschaftliche Analyse mit meinen normativ gebundenen Einschätzungen.

(1) Macht und Herrschaft als anthropologische Konstanten: Wir alle, insbesondere auch Kirchen, sollten uns von dem Gedanken verabschieden, völlig herrschafts- und machtfreie Interaktionen und Räume für möglich zu halten. Vielmehr gilt es zu akzeptieren, dass gerade Macht, neben der häufig repressiven, eine ebenso produktive wie ambivalente Wirkung entfalten kann und über Widerstand herrschende Verhältnisse im Sinne von Gegenmacht ins Wanken bringt.

(2) Gleichberechtigung: Der Kampf und Gleichberechtigung und gleiche Rechte bedarf einer fortlaufenden Dekonstruktion des (immer noch mächtigen) Patriarchats. Frauen und andere Geschlechter haben ein Recht auf Anerkennung und Einbeziehung, gerade im Kontext von Religionen und Kirchen. Ohne die Umsetzung gleichwertiger Rechte für alle (potenziellen) Mitglieder, werden die Kirchen weiter an Zulauf verlieren.

(3) Einschränkung autoritativer Macht: »Die Macht und Führung der Kirche müsste wie in demokratischen Parlamenten geteilt werden, um Korruption zu vermeiden. Auch ein Generaldirektor eines Unternehmens muss sich dem Vorstand gegenüber verantworten.« (Bowe-Traeger 2019: 65). Sinnvoll eingesetzt können Autorität und Charisma durchaus eine positive Wirkung im Miteinander entfalten. Deren behutsamer Einsatz und Relativierung scheinen mir aber im kirchlichen Kontakt besonders bedeutsam zu sein.

(4) Unabhängige Kontrollen: Um (sexueller) Ausbeutung und Missbrauch effektiv vorzubeugen, bedarf es Kontrollen von außen und radikaler Aufklärung. Kurzum: Kirchen müssen möglichst transparent in Macht- und Herrschaftsangelegenheiten werden und zudem auch so aktiv auftreten, um an Glaubwürdigkeit wieder zuzulegen.

Literatur

  • Bowe-Traeger, Claudia (2019): Machtmissbrauch in der katholischen Kirche – wissenschaftliche Perspektive einer Betroffenen, in: Gebrande, Julia & Claudia Bowe-Traeger (Hg.), Machtmissbrauch in der katholischen Kirche. Hildesheim, Zürich, New York: Georg Olms, 39-100.
  • Laloux, Frederic (2015): Reinventing Organizations. Ein Leitfaden zur Gestaltung sinnstiftender Formen der Zusammenarbeit. München: Franz Vahlen.
  • Martel, Frédéric (2019): Sodom. Macht, Homosexualität und Doppelmoral im Vatikan. Frankfurt am Main: S. Fischer.
  • Meuser, Michael und Sylka Scholz (2012): Herausgeforderte Männlichkeit. Männlichkeitskonstruktionen im Wandel von Erwerbsarbeit und Familie, in: M. S. Baader et al. (Hrsg.), Erziehung, Bildung und Geschlecht. Wiesbaden: VS Verlag, 23-40.
  • Popitz, Heinrich (1992): Phänomene der Macht. 2., stark erweitere Auflage. Tübingen: Mohr.
  • Röttgers, Kurt (1990): Spuren der Macht. Begriffsgeschichte und Systematik. Freiburg im Breisgau: Alber.
  • Wetzel, Dietmar J. (2012a) (Hg.): Perspektiven der Aufklärung: zwischen Mythos und Realität. München: Fink-Verlag.
  • Wetzel, Dietmar J. (2012b): Macht und (Groß-)Banken – soziologische Analysen zum Finanzmarktdispositiv, in: Knoblach, Bianka et al. (Hg.), Macht in Unternehmen. Wiesbaden: Gabler, 185-200.
  • Wetzel, Dietmar J. (2019): Metamorphosen der Macht. Soziologische Erkundungen des Alltags. Norderstedt: BoD.

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FührungKirchenentwicklungMachtSozialgestalt

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