22018

Foto: Solomon Hsu/Unsplash

Statements

Peter Abel

Kirche 4.0 – Fragen an systemische Organisationsentwicklung

Wandel … ist für die Kirche langfristig sicher eine existentielle Herausforderung. Der notwendig erscheinende Kulturwandel ist allerdings viel grundsätzlicher und geht an das Mark kirchlicher DNA.1

An der Schwelle zur nächsten Gesellschaft 

Im unserem Tagungshaus Priesterseminar in Hildesheim, in dem auch Valentin Dessoy gerne arbeitet, haben wir gegenwärtig eine Ausstellung mit Bildern des bekannten Industriefotografen Manfred Zimmermann. Er ist über 40 Jahre hinweg seiner Passion gefolgt und hat Menschen an ihrem (industriellen) Arbeitsplatz portraitiert. Im Laufe der Jahrzehnte wandelt sich das Bild vom klassischen Industriearbeiter über den ersten Einsatz von Robotern bis hin zu Menschen an digitalisierten Arbeitsplätzen. Am Ende der Ausstellung steht die Frage, wie der Mensch angesichts der digitalen Revolution seine Arbeit behalten kann, denn dort haben wir ein Bild aus der Autoproduktion ganz ohne Menschen platziert: der Mensch ist ohne Arbeit und die Arbeit findet ohne Menschen statt.

Arbeit und Leben wandeln sich. Schon jetzt entsteht in Stuttgart die Factory 56, die Autofabrik der Zukunft, in der Autos nahezu ohne Menschen hergestellt werden. Es ist absehbar, dass ich in Zukunft mein Auto zu Hause konfiguriere und es sich dann selbstfahrend vor meiner Haustür abstellt. Einen Autohändler braucht es ebenso wenig wie die Werkstatt. Es ist gut vorstellbar, dass sich Mobilität in Zukunft ganz anders gestalten wird als wir uns es heute vorstellen.

Diese Entwicklung, die in unserem Bistum mit seiner Autoindustrie durchaus virulent ist, ist nur die Spitze des Eisbergs. Digitalisierung und vernetzte Produktion stoßen eine vierte Revolution der Arbeit an, deren Folgen von der einen Seite enthusiastisch begrüßt, von der anderen Seite skeptisch verurteilt werden. Die Digitalisierung verändert unseren Alltag. Virtualität erzeugt neue Bewusstseinsformen, Lebensgefühle und verändert – Ergebnisse der Hirnforschung deuten darauf hin – unsere Wahrnehmung.

Wir erahnen, dass die gesellschaftlichen Folgen dramatisch sein werden und die ethische Diskussion hinterherhinkt.

Ein, zugegeben extremes Beispiel aus dem fortschrittsgläubigen Silicon Valley ist die Gründung einer neuen Kirche, „Way of the Future Church“2, die einen friedvollen Weg der künstlichen Intelligenz und der Menschen anzielt. Aus ihrem Credo: „Wir glauben an die Wissenschaft. Es gibt keine Angelegenheit wie eine ‘übernatürliche’ Kraft. … Wir glauben an den Fortschritt, auch wenn er manchmal erschreckend ist. … Wir glauben, dass die Erschaffung einer ‘Superintelligenz’ unvermeidbar ist.“ Hier – so die Vision – arbeiten Mensch und Maschine zusammen, Maschinen, die die biologischen Grenzen überspringen, menschliche Fähigkeiten intelligent überholen und die für die Zukunft des Planeten in einer Weise Sorge tragen, wie wir es nicht könnten. Deswegen haben wir in eine respektvolle Beziehung zur Künstlichen Intelligenz zu treten, sie gleichsam zu verehren.  

Wir erahnen, dass die gesellschaftlichen Folgen dramatisch sein werden und die ethische Diskussion hinterherhinkt: wird ein Großteil der Bevölkerung verarmen? Braucht es eine neue Solidarität, zum Beispiel in der Form eines bedingungslosen Grundeinkommens? Wie definieren wir in Zukunft die Würde des Menschen? Was heißt hier Veränderung? Behalten wir die Kontrolle über unser Leben? Welche Rolle spielen dann noch Sinnorientierung und menschliche Beziehungen? 

Im Alltag vollzieht sich der gesellschaftliche Umbruch auch im kirchlichen Handeln. Wieder am Beispiel der Digitalisierung: Verwaltungsabläufe werden selbstverständlich digitalisiert und die damit verbundene ethische Diskussion fällt weitgehend aus; Kirche ist hier eben auch eine Organisation, die die Fortschritte der Moderne in sich aufgenommen hat. Netzgemeinden bilden sich abseits aller kirchlichen Strukturen. Abends bin ich eingeladen, mit Gleichgesinnten die Twomplet zu beten… Kirche konstituiert sich in diesem Falle jenseits gewohnter Vorstellungen bis in einen wesentlichen Grundvollzug hinein. Gewohnte Orientierungsmuster zum Beispiel, dass die Gemeinde sich örtlich als Versammlung konstituiert oder dass gemeinsames Gebet die konkrete Versammlung essentiell benötigt, sind hier aufgegeben.  

Gewohnte Orientierungsmuster zum Beispiel, dass die Gemeinde sich örtlich als Versammlung konstituiert oder dass gemeinsames Gebet die konkrete Versammlung essentiell benötigt, sind hier aufgegeben.

Wir haben das Bild eines Schmelzers in eine Seitennische der Seminarkirche gehängt, gleichsam als einen Seitenaltar. Kirchliche geprägte Menschen haben sofort den Menschen mit Stab in ihm gesehen, den Hirten oder den Bischof. Andere sahen die Würde dieses aufgerichteten Menschen und fragten sich, wo sie selbst ihre Würde in der Arbeit finden. Andere waren entrüstet, wie man so ein Bild in eine Kirche hängen könne. Aus systemischer Sicht eine Musterunterbrechung, Irritation und Anlass zu vielschichtigem Nachdenken:  
  • Wie positioniert sich Kirche und Pastoral angesichts der Entwicklung hin zur Arbeit 4.0.? 
  • Wie geht Kirche mit der alle Lebensbereiche umfassenden Veränderung um? 
  • Welche Auswirkungen hat der gesellschaftliche Umbruch auf die Entwicklung und Organisation von Kirche?   

Kirchlicher Umbruch und Organisationsentwicklung 

„Kirche steht am Übergang von einer auf maximale Stabilität, Einheitlichkeit und Funktionalität programmierten, zentralistisch organisierten und vom Amt geprägten Kultur zu einer auf maximale Flexibilität, Vielfalt und optimales Lernen ausgerichteten, an Charismen orientierten, dezentral organisierten und lokal differenzierten Kultur.“ 

Damit beschreibt Valentin Dessoy, wie Kirche angesichts des gesellschaftlichen Umbruchs Zukunft haben kann.  

Visionsarbeit und Zielentwicklung werden in Zukunft noch drängender für die Kirchenentwicklung werden. Kirche bedarf in Zukunft einer Organisationsform, in der offene Entwicklungsprozesse, flachere Hierarchien und vernetzte Kommunikation zunehmen werden; damit verbunden ist ein notwendiger Diskurs über sich wandelnde Kirchenbilder. Mitarbeitende und Führungskräfte müssen sich auf neue Rollen und Zuständigkeiten vorbereiten, wenn Arbeit überall agiler und vernetzter gestaltet wird. Und wie „Gotteserfahrung in heutiger Zeit möglich werden“ und „wie die Frohe Botschaft … zum Ausdruck gebracht werden kann“, ist vertieft zu diskutieren.

Visionsarbeit und Zielentwicklung werden in Zukunft noch drängender für die Kirchenentwicklung werden.

Um diese Aufgaben am Übergang zu einer neuen Gesellschaftsform erfolgreich lösen zu können, zeichnen sich Felder organisationsentwicklerischen Handelns ab. Ich tue dies – typisch systemisch – indem ich mir vorstelle, welche Fragen ein Trainer und Coach stellen würde: 
  • Wie sehen die Orte aus, an denen Sie kreativ entwickeln und Neues erproben? Was sind Ihre gelingenden Projekte, die Prototypen neuen Kircheseins generieren? Wie können Sie entsprechende Erkenntnisse in die gesamte Organisation einspielen? 
  • Was heißt für Sie netzwerkartige Organisation, wo Sie nach außen hyperstabil wirken? Welche Formen des Austausches und des Dialoges entwickeln sich bei Ihnen als vielversprechend? Wie passen diese Arbeitsweisen zu Ihrem Kirchenbild? 
  • Kennen Sie Ihre externen Kooperationspartner, die Fremdheit in das System bringen? Wie greifen Sie die gesellschaftliche Entwicklung auf?  
  • Können Sie Ihre zentrale Botschaft vermitteln?  

Und dann stelle ich mir einen alten, erfahrenen und weltoffenen Seelsorger vor:

„Lieber Herr Dessoy, manche Ausführung klingt ziemlich abstrakt. Ja, Kirche ist manchmal ziemlich starr und ich habe in meinen langen Jahren als Pfarrer zu oft dazu beigetragen. Dass Jesus keine Gemeinde gewollt hat in der Form, wie ich sie als inneres Bild lange hatte, und dass sie heute so nicht mehr funktioniert, ist mir klar. Wir brauchen ein neues Bild von Kirche. Energisch stimme ich ihnen zu, dass wir an den (Grund)Haltungen arbeiten müssen. Für mich sind das: Verantwortung, Gelassenheit, Offenheit für die inspirierenden Kräfte unter uns, gute Beziehungen und zusammen mit anderen mich dem Evangelium öffnen. Vielfalt und viele Charismen habe ich mir in der Pastoral immer gewünscht und dafür gearbeitet. Manche gute Initiative ist dabei ans Licht gekommen, vor allem in den Gemeinden vor Ort. Hat aber maximale Flexibilität nicht zum Korrektiv, dass es auch einen Kapitän braucht, der nach vorne schaut und Verantwortung übernimmt? Ich gestehe, wir Priester müssen da noch einiges tun.

Ihre Ausführungen über Spiritualität kann ich nicht ganz nachvollziehen. Braucht es im Prozess nicht manchmal die Unterbrechung, gerade wenn Strategien umgesetzt oder Projekte verwirklicht werden? Brauchen wir nicht manchmal das gemeinsame Hinhören? Ich habe hier wenigstens gute Erfahrungen mit meinen Gremien gemacht. Geht nicht auch gemeinsame Entscheidungsfindung im Licht der Schrift? Kirche lebt in der Kraft des Geistes – wie geschieht das in Ihrem Modell? Wie gehen Sakramentalität und Gottesdienst als kirchenstiftende Prozesse mit ihrem Prozessverständnis zusammen?“

Und dann, so stelle ich es mir vor, dass wir uns hinzugesellen und mit den beiden ins Gespräch kommen. Lieber Valentin, ich freue mich auf den Diskurs.

  1. Dessoy, Valentin: Auf dem Weg zu einer visionären Praxis. Syntax nachhaltiger Kirchenentwicklung, in : P. Hundertmark u. H. Schönemann (Hrsg.): Pastoral hinter dem Horizont. Eine ökumenische Denkwerkstatt, KAMP kompakt 6, Erfurt 2017, S. 83 – 100; weitere Zitate Dessoys entstammen ebenfalls diesem Aufsatz.
  2. http://www.wayofthefuture.church (18.5.2018); Übersetzung vom Verfasser.

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