Gotteszeugnis: Das Wagnis der Selbstüberschreitung in Erinnerung an eine offene Zukunft
„Gott“ – ein riskantes Versprechen
Es ist riskant und umstritten, von Gott zu sprechen. Jedenfalls dann, wenn solche Rede sich auf die Wirklichkeit Gottes bezieht, von ihr Zeugnis gibt und damit auch bereit ist, sich von ihr bestimmen und verändern zu lassen.
Es geht dann nicht nur darum, dass Glaube und Religion in einer säkularen und pluralistischen Gesellschaft umstritten sind oder dass die Existenz Gottes bestritten wird. Gerade im Ernstnehmen Gottes, in der religiösen Beziehung zu Gott und im Wagnis des Glaubens wächst das Risiko, die Wirklichkeit Gottes auch verfehlen zu können, einer Illusion zu erliegen oder Gott mit eigenen Konstrukten zu verwechseln. Dieses Risiko potenziert sich, sobald ich gegenüber dritten diesen Gott bezeuge und verkünde, dabei aber Gefahr laufe, die Beschränkungen und Verzerrungen der eigenen Gottesbilder anderen weiterzugeben.
Das, worauf das Wort ‚Gott‘ verweist, lässt sich nicht eindeutig greifen.
Religionskritik und eine ständige Selbstaufklärung und Läuterung des Glaubens tun also Not – gerade dann, wenn ein gläubiger Mensch es ernst meint mit seiner Rede von Gott. Aber liegt hier nicht gerade das Problem? Das, worauf das Wort ‚Gott‘ verweist, lässt sich nicht eindeutig greifen: Die Wirklichkeit Gottes ist dem menschlichen Zugriff entzogen und lässt sich nicht abschließend vergewissern. Das gilt für die Versuche, Gottes Existenz und Wesen zu beweisen wie für die Versuche seine Existenz zu widerlegen oder den Gottesbegriff als unsinnig oder überflüssig beiseite zu legen.1 Mit dem Wort „Gott“ steht zur Debatte, was den Menschen unbedingt angeht, was die Wirklichkeit als Ganze begründet und worauf diese Wirklichkeit zuläuft, ob sie letztlich Sinn, Ziel und Bestand hat. Das Wort „Gott“ ist darin weniger eine Legitimations- und Begründungsvokabel für die Welt, wie wir sie faktisch vorfinden, als eine Orientierungs- und Zukunftsvokabel, die auf eine ursprüngliche, „eigentliche“ und letzte Wirklichkeit zielt, darin einen Raum des Möglichen eröffnet und die Frage aufwirft, was am Ende wirklich und möglich (gewesen) sein wird: was am Ende bleibt.2
Das Wort „Gott“ ist weniger eine Legitimations- und Begründungsvokabel für die Welt, wie wir sie faktisch vorfinden, als eine Orientierungs- und Zukunftsvokabel, die auf eine ursprüngliche, „eigentliche“ und letzte Wirklichkeit zielt.
Das Wort ‚Gott‘ ist so eng mit der Struktur des futur2 verbunden, welche dieses Magazin leitet. Es ist ein Versprechen, das in der Geschichte mit Gott (und ihren „gefährlichen Erinnerungen“) gründet, das aber in seiner Erfüllung noch nicht eingelöst ist, jedoch das Handeln im hier und jetzt ausrichten und mit Hoffnung erfüllen kann.3
Die Versuchung des Positivismus als praktischer Atheismus
Angesichts des genannten Risikos und der Unmöglichkeit, Gott zu greifen, liegt eine erste Gefahr darin, die Frage nach Gott als irrelevant, unsinnig oder überholt beiseitezulegen. Wenn in der Konsequenz die faktisch gegebene, materielle, kausal beschriebene Welt zum letzten Horizont der Wirklichkeit wird, so wird auch auf der praktischen und politischen Ebene die Macht des Faktischen zu einer letzten Instanz und die Geschichte zu einer Geschichte der Sieger. Würde das Wort ‚Gott‘ gänzlich verschwinden, würde der Horizont verschlossen, der es möglich macht, die Welt und uns selbst als Ganze zu hinterfragen, alles Faktische und die bestehenden Verhältnisse zu kritisieren und auf eine Idee von Wahrheit, Gerechtigkeit und barmherzige Güte hin zu überschreiten, die wir weder herstellen noch einholen können und an der sich menschliches Handeln doch orientieren kann. Der Mensch würde sich „zurückkreuzen zum findigen Tier“, wie Karl Rahner es formuliert hat.4
Angesichts des Risikos und der Unmöglichkeit, Gott zu greifen, liegt eine Gefahr darin, die Frage nach Gott als irrelevant beiseitezulegen. Nicht weniger gefährlich ist die gegenläufige Tendenz.
Den Horizont menschlichen Handelns bildet dann nicht eine offene, mit der Hoffnung auf die Möglichkeiten Gottes verbundene Zukunft, sondern eine Zukunft, die als Verlängerung der Vergangenheit von Tendenzen der Gegenwart bestimmt ist und in eine Dialektik von Fortschrittsglauben und Katastrophenängsten führt.5 Das persönliche und politische Handeln ist dann entweder von instrumenteller Vernunft, Zweck-Mittel-Relationen und der Herrschaft über die Natur, über Dinge und Menschen bestimmt; oder es folgt unter dem Druck drohender Katastrophen einer Logik des Krisenmanagements und des Ausnahmezustands, in dem „Experten“ als Ausleger des Faktischen unvermeidliche Sachzwänge und alternativlose Handlungsprogramme exekutieren. Glaube oder Unglaube zeigen sich mehr in der geschichtlichen Praxis einer Zeit als in der Selbstzuschreibung von Religiosität: Die politische und lebenspraktische Irrelevanz Gottes ist der eigentliche Atheismus.
Die Versuchung der Identifikation Gottes als religiöser Positivismus
Nicht weniger gefährlich ist die gegenläufige Tendenz, angesichts der Unverfügbarkeit Gottes zu eindeutigen Antworten Zuflucht zu nehmen. Einem geschlossen immanenten Weltbild steht spiegelbildlich ein religiöser Positivismus gegenüber, der die Entzogenheit Gottes und die Strittigkeit religiöser und nichtreligiöser Antworten „fundamentalistisch“ überspielt und eine Absolutheit, Gewissheit und Ausschließlichkeit beansprucht, die Zweifel und Infragestellungen nicht zulässt und in Fanatismus oder Gewalt umschlagen kann. Der offene Horizont wird in diesem Fall nicht durch die Suspension der Gottesfrage, sondern durch die Identifikation Gottes verschlossen.
Dies verweist auf die innere Gefährdung des Religiösen, den transzendenten Gott mit einem Konzept, Bild oder Gegenstand zu identifizieren oder einer menschlichen oder kirchlichen Instanz göttliche Autorität zuzusprechen, ohne zugleich die Differenz und Gebrochenheit der Repräsentation mitzumarkieren. Auch hier genügt es nicht, den religiösen Anspruch als solchen zu negieren, da die Verabsolutierung und der Anspruch auf Letztgültigkeit in säkularisierten Geschichtstheologien, in Ideologien und den „politischen Religionen“ der Moderne und Postmoderne wiederkehrt.
Die Kritik menschlicher Identifikationen des Absoluten im religiösen wie im politischen Bereich bildet in biblischer Tradition die Voraussetzung und Präambel für alle weiteren Regeln menschlichen Zusammenlebens (vgl. Ex 20,2-11; Dtn 5,6-15): Das Verbot, nichts Endliches und Kontingentes absolut zu setzen und Gott nicht mit einem Bild oder Konzept zu identifizieren, schützt auch die Unverfügbarkeit und Würde des Menschen; die Anerkennung der Unverfügbarkeit Gottes wendet sich gegen den Missbrauch seines Namens, um menschliches Handeln der Kritik zu entziehen; die menschliche Ordnung von Raum und Zeit darf nicht auf Arbeit und Zweck-Mittel-Relationen reduziert werden, muss offen bleiben für das Zweckfreie, für Staunen, Spiel, Anbetung und Nichtstun. Diese Abgrenzungen gegen eine Aneignung Gottes wenden sich nicht nur gegen religiöse Idolatrie, sondern halten zugleich jenen unabgeschlossenen Weg aus der Sklaverei durch die Wüste ins Land der Freiheit und der Verheißung offen, in dem sich im Buch Exodus der biblische Gott seinem Volk erschließt.
Die auslegungsbedürftige Erfahrung des Heiligen als Aufbruch
Jede Auslegung bleibt ambivalent und begrenzt, sie ist verwiesen auf andere Auslegungen, die sie korrigieren.
Der Exodus wird im biblischen Narrativ von einer Epiphanie des Heiligen eröffnet, in der die Berufung des Mose, die Offenbarung des Gottesnamens und der beginnende Weg der Befreiung des Volkes eng miteinander verschränkt sind (Ex 3). Die Begegnung mit Gott lässt sich nur an der Spur erkennen, die sie in der Geschichte hinterlässt. Der Gott der Väter, wie er in den Aufbrüchen Abrahams, Isaaks und Jakobs erinnert wird, zeigt sich dem Mose, indem er die Schreie seines Volkes hört und ihn dazu beruft, in seinem Namen das Volk in die Freiheit zu führen. Solche Berufung bindet die dem Mose verliehene Vollmacht an die damit verbundene Erfahrung von Ohnmacht und Überforderung: Die prophetische Sendung ist nur durchführbar, wenn sich Gott in ihr als wirksam erweist. Sie lässt sich nicht aneignen. Die Offenbarung des Namens enthält die Zusage dieser Gegenwart und macht Gott adressierbar, aber in ihr entzieht sich dieser Gott zugleich, was die hebräische Bibel darin markiert, dass der Gottesname nicht ausgesprochen wird.
Die religiöse Erfahrung und Epiphanie des Heiligen ergreift den Menschen, führt in eine Umkehr und verpflichtet in unbedingter Weise, aber sie entzieht sich zugleich einer kategorialen Vereindeutigung und bleibt auslegungsbedürftig.6 Jede Auslegung aber bleibt ambivalent und begrenzt, sie ist verwiesen auf andere Auslegungen, die sie korrigieren. Sie führt in eine Wirkungs- und Auslegungsgeschichte in der Gemeinschaft der Gläubigen, die zwar in Kanon und Dogma Grenzziehungen kennt, nicht aber die positive kategoriale Identifikation und Repräsentation Gottes. Würde eine solche beansprucht, würde die Differenz von Bild/Zeichen und Bezeichnetem aufgehoben und die Transzendenz Gottes nicht mehr gewahrt. Die Pragmatik des Gotteszeugnisses kehrt sich um: das Wagnis des Glaubens in Exodus und Nachfolge wird zu einem Versprechen von Sicherheit und „Rechtgläubigkeit“, das Identifikation und Ausschluss ermöglicht. Die Ambivalenz des Religiösen verbietet es aber umgekehrt auch, sich mit der Uneindeutigkeit der Gottesrede einfach abzufinden und in eine religiöse Beliebigkeit auszuweichen, die alles gelten lässt – damit aber auch alles beim Alten lässt und sich letztlich der Macht des Faktischen beugt. Das gilt auch dann, wenn „nur“ der Wirklichkeitsbezug und Geltungsanspruch der Rede von Gott aufgegeben wird: Würde man sich auf die hermeneutische Arbeit an Gotteskonzepten beschränken, ohne die Frage nach der Wirklichkeit Gottes aufzuwerfen, so wäre der Gottesrede ihr „Stachel“ gezogen, die Lebens- und Herrschaftsverhältnisse blieben auch hier unangetastet.
Gotteszeugnis im Futur 2
Ist es aber überhaupt möglich, sich in bestimmter Weise auf die Wirklichkeit Gottes zu beziehen? Oder beziehen sich positive Bestimmungen Gottes immer nur auf das eigene Konzept oder Bild von Gott, sodass ein Verweis auf die Transzendenz Gottes gänzlich unbestimmt, reine Negation bleiben muss? Theologie lässt sich als Austrag dieser Spannung verstehen. Entscheidend ist dabei, wie bzw. in welchem Modus von Gott gesprochen wird.
Wenn in Ex 3,14 der Gottesname mit der Imperfektform des Verbs hjh (sein, geschehen) verbunden wird, so wird die unverfügbare Gegenwart Gottes im Ereignis der Epiphanie aufs Engste mit der Zukunft verknüpft, welche diese Begegnung eröffnet und die dann im Exodusnarrativ entfaltet wird.7 Wer Gott ist, kann nicht einfach „festgestellt“ werden; es bleibt aber auch nicht beliebig oder unbestimmt, was „Gott“ bedeutet. Vielmehr gewinnt die Gottesrede ihre Bestimmtheit in der Geschichte der Menschen mit Gott und Gottes mit den Menschen: Indem im Erinnern der mit Gottes Namen verbundenen Verheißungen und im Vertrauen auf die wirksame Gegenwart dieses Gottes im Vollzug des Lebens (hier und jetzt) auf die Zukunft dieser Verheißungen gesetzt wird.
Im Glauben spiegelt sich das Wagnis einer Praxis.
Damit rückt die Performativität der Gottesrede ins Zentrum: So wie ein Wort Bedeutung durch seine Verwendung erlangt, so gewinnt der Gottesname seine Bestimmungen und Bestimmtheit im geschichtlichen Gotteszeugnis von Menschen, welche im Erinnern der mit dem Gottesnamen verbundenen Verheißungen schon jetzt auf Gottes Zukunft setzen und daraus ihre Gegenwart gestalten. An Gott zu glauben bildet dann mehr als eine Hypothese, die sich aus Distanz beurteilen und demnach entweder annehmen oder ablehnen lässt. Im Glauben spiegelt sich vielmehr das Wagnis einer Praxis, die auf Gottes Wort antwortet und die darin die Glaubenden selbst wie die Geschichte transformiert. In dieser verändernden Kraft gewinnt das Zeugnis Glaubwürdigkeit, insofern es in seiner performativen Struktur weder auf menschliches Tun reduziert noch einfach als göttliches Tun identifiziert werden kann. Nur in der menschlichen Antwort wird das Wort Gottes greifbar, aber als eine Antwort auf das Wort Gottes, welche die Antwortenden und die Geschichte verändert. So werden Gottes Wahrheit und rettende Macht, seine Gerechtigkeit und Barmherzigkeit, die vielfältigen Attribute und Bestimmungen, die sich mit dem Namen Gottes verbinden, dadurch geschichtlich konkret und wirksam, dass sie im Handeln beansprucht, zugleich aber auf den je größeren Gott und seine Zukunft hin überschritten werden.8
- Paradigmatisch lässt sich dies an der Debatte zwischen den John Leslie Mackie und Richard Swinburne ablesen.
- Vgl. Ingolf U. Dalferth, Transzendenz und säkulare Welt: Lebensorientierung an letzter Gegenwart, Tübingen: Mohr Siebeck 2015.
- Robert Spaemann meint damit sogar die Grundlage für einen Gottesbeweis nach Nietzsche vorzufinden (Das unsterbliche Gerücht 2010). Ich verstehe demgegenüber die Struktur des Futur 2 im Sinn der Politischen Theologie von Metz und Moltmann als eine geschichtliche, eschatologisch ausgerichtete Praxis der Hoffnung, die in der Ausrichtung am kommenden Reich Gottes die bestehenden Verhältnisse überschreiten kann, ohne dieses Ziel mit einer Institution oder Praxis zu identifizieren. Zur politischen Bedeutung dieser Struktur vgl. Zeillinger 2013.
- Vgl. Rahner, Karl (1999): Grundkurs des Glaubens. Studien zum Begriff des Christentums. Zürich, Freiburg im Breisgau: Benziger; Herder (Sämtliche Werke, 26), 48-55.
- In den sich verschärfenden Krisenszenarien der Gegenwart spitzt sich die von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer 1944 beschriebene Dialektik der Aufklärung in einer beängstigenden Weise zu; die totalisierende Tendenz im westlichen Denken, ihre politische Struktur der „einschließenden Ausschließung“ und des souveränen Banns hat eindringlich Giorgio Agamben in seinen Studien zum Homo sacer analysiert. Die messianische Struktur des biblischen Gotteszeugnisses kann hier als Möglichkeit gelesen werden, solche Herrschaftsstrukturen außer Kraft zu setzen, auf das in ihnen Ausgeschlossene und die Potentialität des Kommenden hin zu öffnen. Vgl. Agamben 2017; dazu Kirschner 2020 sowie jetzt Rungelrath 2020.
- Vgl. Appleby, R. Scott (2000): The ambivalence of the sacred. Religion, violence, and reconciliation. Lanham.
- Eine bemerkenswerte Auslegung dieser Zeitstruktur des Gottesnamens in Blick auf die politische Struktur des Exodus bietet Peter Zeillinger: „Die Öffnung auf Zukunft hin […] kann hier nicht als Konstativum erfolgen („Ich bin »der und der«“), sondern nur durch den aktiven Vollzug eines Sich-Ausrichtens-an-der-Zukunft. Daher wird Gott nicht mit einem Namen »identifiziert«, sondern mit ihm wird eine gegenwartsverändernde Zukunft verbunden.“ P. Zeillinger (2019): Auszug ins Reale, oder: Repräsentation einer Leerstelle. Zur politischen Bedeutung des biblischen Exodus, der historisch so nicht stattgefunden hat. In: Zeitschrift für Altorientalische und Biblische Rechtsgeschichte 25, 117-172, hier: 147 (Fn. 85).
- Um eine solche performative Wendung im Denken des je größeren Gottes argumentativ zu plausibilisieren verweise ich auf meine Interpretation des sogenannten „ontologischen“ Arguments bei Anselm von Canterbury: Kirschner, Martin (2013): Gott – größer als gedacht. Die Transformation der Vernunft aus der Begegnung mit Gott bei Anselm von Canterbury. Freiburg – Basel – Wien. Als Kurzfassung des mystagogischen Arguments vgl. Kirschner, Martin (2019): Denkend den lebendigen Gott suchen. Anselms rationale Mystagogie als Weg der Annäherung an Gottes Wirklichkeit in unserer Zeit? In: Julia Knop (Hg.): Die Gottesfrage zwischen Umbruch und Abbruch. Theologie und Pastoral unter säkularen Bedingungen. Freiburg – Basel – Wien: Herder Verlag (Quaestiones Disputatae, 297), S. 80–93.