012023

Foto: Tengyart/Unsplash

Konzept

Ludger Verst

»Gott« – Eine Entwicklungshilfe

Wir wissen längst, dass Milliarden von Galaxien das Weltall bilden, dass eine dieser Galaxien, die Milchstraße, einen Durchmesser von 100.000 Lichtjahren hat, dass die Erde im Sonnensystem 30.000 Lichtjahre vom Zentrum der Milchstraße entfernt ist. — In diesem riesigen Weltall, das sich seit 15 bis 30 Milliarden Jahren entwickelt, gibt es den Menschen, gemessen an den kosmischen Zeiträumen, erst seit einer winzigen Spanne Zeit, seit wenigen hunderttausend Jahren. Innerhalb der Geschichte des Universums bildet die Menschheitsgeschichte nur eine vorübergehende Episode von ungeheurer Kürze. Das bewusste Leben, das sich im Menschen entwickelt hat, beruht auf der Funktionstüchtigkeit organischer und neurophysiologischer Prozesse, ist also nicht das Werk eines der Natur enthobenen, selbstbestimmten und seiner selbst mächtigen Geistes, sondern an materielle Prozesse rückgebunden, die dem Menschen selbst entzogen sind.

Religion oder ein Glaube an Gott ist also nicht nötig, um einem die Welt zu erklären. Vielleicht ist so etwas nützlich, um die Welt und die Rolle des Menschen in ihr besser zu verstehen. Jedenfalls geht es einem Gottesglauben vorrangig nicht um das, was ist, sondern darum, wie sich mit dem, was ist, leben lässt. Das Leben, genauer: das gelebte, von Menschen je neu zu lebende Leben steht im Mittelpunkt. Keine empirisch gewonnenen Informationen, keine Fakten, sondern Erfahrungen, verarbeitet in Narrationen — Poesie. Denn vor dem gewaltigen Hintergrund der Naturgeschichte und der bedrohlichen Fülle an Informationen über sie erfährt sich der Mensch als klein, als entbehrlich, als letztlich unerheblich. Der Katalog der Kränkungen durch empirisches Wissen zeigt seinen ungeheuren Bedeutungsverlust.

Welchen Beitrag könnte ein Gottesglaube angesichts solcher Befunde liefern? Was hätte er beizutragen, wenn man ihn nicht als Reflex auf eine verlorene Vergangenheit, in der der Mensch davon ausging, eine Sonderstellung im Kosmos innezuhaben, missverstehen soll —, wenn man ihn also nicht als mentales Reparaturunternehmen für Selbstwertverlust betreiben will? — Gesucht wird ein Gotteskonzept, das den unermesslichen Dimensionen des Kosmos und den naturwissenschaftlichen Erkenntnissen heute gerecht würde, ohne dabei selbst zu einer Fakten- und Formelsprache zu mutieren?

Ein Gotteskonzept auf der Höhe der Zeit könnte dazu beitragen, nicht in zwei Welten zu denken, in oben und unten, Himmel und Erde.

Ein überzeugender Versuch, Schöpfung und Evolution zusammenzusehen, trägt den Namen Prozesstheologie. Dieser relativ jungen theologischen Denkrichtung geht es in der Gottesfrage um einen Perspektivwechsel. Sie verabschiedet sich von der klassisch-abendländischen Anschauung, nach der Gott als ein im Prinzip ewig Unveränderlicher gedacht wird, als ein von der Welt unabhängiger Gott. Sie versucht die Geschichte der Welt und die Geschichte Gottes mit den Menschen als eine universale Entwicklungsgeschichte zu deuten.

Wir können vom Geist und von der Materie nicht mehr so sprechen, wie es die Menschen früher getan haben. Wir erkennen heute, dass Geist eine Struktureigenschaft aller komplexen Systeme ist. Alles, was nach dem „Urknall“ Materie, Raum und Zeit wird, entfaltet sich explosionsartig durch unendliche Folgen von Teilungen. Aber zugleich entstehen aus diesen Teilen überraschend neue, nie da gewesene Beziehungen. Denn Geist ist die Kraft, die zur Teilung drängt und zugleich neue Zusammenhänge schafft. Eine Kraft, die immer neue Lebensgestalten hervorbringt, die im Tod zwar ihre je irdische Gestalt aufgeben, nicht aber ihren Anteil an der Lebensenergie, dem Geist. Diese Kraft nimmt vielmehr alles, was sich im Kosmos an Bewusstseinskräften entwickelt hat, hinein in die weitere Evolution des Geistes. Gott ist in diesem Sinne etwas, das sich in der Welt als Welt selber entfaltet, also kein unveränderlicher, weltenthobener, sondern ein weltzugewandter, Freiheit stiftender Gott. Das ist ein Konzept von hoher Poesie und Kreativität und auch von Weisheit.

Schöpferisch ist ein Gotteskonzept, dass die Zukunft der Welt als radikal offen begreift.

Was mich an dem Entwurf der Prozesstheologie überzeugt, ist, dass sie theologisches, naturwissenschaftliches und tiefenpsychologisches Denken miteinander zu verbinden versteht. Sie sieht „Gott als Zug- und Schubkraft den gesamten kosmischen Prozess durchdringen. Unter seiner Anziehungskraft gestaltet sich die Materie immer komplexer und beziehungsreicher, bis sie schließlich beginnt, sich selbst zu steuern und zu organisieren. Die Geschichte des Kosmos stellt sich der Prozesstheologie sozusagen als ein Lernvorgang, als offener Lernprozess dar, dessen Ziel es ist, die eigene Entwicklung, seine Geschichte selbst zu steuern und zu bestimmen. Gott kommt im kosmischen Prozess sozusagen die Aufgabe eines Entwicklungshelfers zu (Arnulf Zitelmann: Wenn Affen beten — oder: Ein kleines ABC der Prozesstheologie. Achtseitiges Manuskript des Autors; 1995, 4).

Gott ist demnach keine allmächtige Regelungs- und Kontrollinstanz, sondern ein lebendiges Geschehen, das die Freiheit und die Kreativität seiner Geschöpfe fördert. Noch zugespitzter formuliert, sieht die Prozesstheologie in der kosmischen Evolution selbst einen Prozess der Befreiung und Selbstwerdung seiner Geschöpfe angelegt. Die biologische Evolution, die wir mit dem Namen Darwin und dem Darwinismus verbinden, wird weiter nach vorn getragen durch die Bewusstseinsevolution. Ein neuer Evolutionshorizont gerät ins Blickfeld. Religionen könnten neue Evolutionshorizonte bilden für innovative Bilder und Konzepte von Gott oder Göttlichem, die der Welt und dem Menschen nicht in ewiger Unveränderlichkeit und dogmatischer Starre gegenüberstünden, sondern schöpferische Impulse ermöglichten: Imaginationen einer göttlichen Geistkraft, die ihre Absichten nicht mit Gewalt durchsetzt, sondern sich auf einen Prozess der Liebe einlässt und so — typisch für jede Liebe — davon abhängig wird, ob sie erwidert wird. In solch freiwilliger, liebender Dialogizität lägen Impulse zu schöpferischen, wenn auch oft konflikthaften Transformationen, die — theologisch gesehen — das Motiv und die Wirkkraft der Evolution sind.

Gott ist keine handelnde Kraft neben den Geschöpfen, sondern eine schöpferische Kraft in ihnen — gerade in den Brüchen und Krisen eines Entwicklungsweges.

In jedem größeren Entwicklungsschritt steckt die Gefahr, sich zu verlieren, aber auch die Chance der Entdeckung einer neuen Selbstständigkeit. Deshalb können Menschen sich entwickeln, weil sie etwas hinter sich lassen, das die eigene Identität zu einer bestimmten Zeit konstruiert und wohl auch benötigt hat — Projektionen, Gewohnheiten, Komfortzonen … —, die aber jetzt zurückgelassen werden können, um dem (großen) UNBEKANNTEN zu begegnen. Es sind die Soll-Bruchstellen eines lebendigen Glaubens, die in ein neues Gottesverhältnis führen, um den eigenen göttlichen Heilsweg noch tiefer erleben und ‚entschlüsseln‘ zu können.

Die Prozesstheologie erkennt in Jesus von Nazareth, in der fast grenzenlosen Naivität eines galiläischen Provinzlers, die menschlich einzigartige schöpferische Liebe, wie sie im Gottesverständnis christlicher Theologie prototypisch zum Ausdruck kommt. Jesus lebte in solch innerer Übereinstimmung mit Gott, dass in ihm Gott Mensch wurde. Wer in demselben Geiste lebe wie er, der lebt — biblisch gesprochen — „in Christus. Christus ist der Vorläufer einer neuen Bewusstseinsevolution, der Erstgeborene einer neuen Menschheit: „Wenn jemand in Christus ist, dann ist er eine neue Schöpfung. Das Alte ist vergangen, Neues ist geworden (2 Kor 5, 17).

Es ist diese Transparenzerfahrung, die den Evangelien- und Briefeschreibern des Neuen Testaments die Augen öffnet. Sie erkennen in dem Mann aus Nazareth Urbildhaft-Archetypisches. Im Menschen Jesus kommt ihnen der „Sohn“ Gottes als ‚das wahre Selbst des Menschen‘ entgegen. An den „Sohn Gottes“ glauben meint also nicht die (kirchliche) Verehrung eines Außergewöhnlichen, sondern mit der archetypischen Wirksamkeit dessen in Berührung zu kommen, der sich in vielfältiger Weise manifestiert als „Lehrer“ und „Arzt“, als „guter Hirt“, als „Tür“ zu den Menschen (…), als „Weg“,„Wahrheit“ und „Leben“.

C.G. Jung hebt den dynamisch-prozesshaften Aspekt dieses Christus-Archetyps hervor:„Das Ziel der psychologischen Entwicklung ist, wie das der biologischen, die Selbstverwirklichung resp. die Individuation. Da der Mensch sich nur als ein Ich kennt, und das Selbst als Totalität unbeschreibbar und ununterscheidbar von einem Gottesbild ist, so bedeutet die Selbstverwirklichung in religiös-metaphysischer Sprache die Inkarnation Gottes. Das ist in der Sohnschaft Christi ausgedrückt (C.G. Jung: Symbolik des Geistes. Studien über psychische Phänomenologie, Zürich 1953, 385).

Wenn der Mensch werdende Gott nun die Kraft ist, die im Entwicklungsgang der Welt zum Ausdruck kommt, könnten dann nicht auch die alten, auf Konkurrenz und Gesetz beruhenden, „archaischen“ Gottesbilder ausrangiert werden zugunsten eines  Gotteskonzepts, das vom Konkurrenzprinzip (der Natur) zum Kommunikationsprinzip der Geschwisterlichkeit führt?

Willy Obrist hat zumindest für den tiefenpsychologischen Sprachgebrauch vorgeschlagen, den Ausdruck „Gottesbild“ beim heutigen Stand des Wissens über die Mutation des Bewusstseins zu vermeiden und stattdessen vom „Selbstsymbol zu sprechen (vgl. W. Obrist: Tiefenpsychologie und Theologie, Stuttgart 2002). Das bewusst gewordene „Hereinklappen der jenseitigen Welt“ in die Psyche des Einzelnen lege dies im Grunde nahe. Kirchliche Dogmatiker tun sich an dieser Stelle bekanntermaßen schwer. Zu sehr befürchten sie wohl eine Psychologisierung des Göttlichen, eine Vorstellung vom Heil als einer rein ichbezogenen Selbstverwirklichung. Solche Befürchtungen sind nicht neu.

„Gott ist der ideale Begleiter. (…) Er ist der Spiegel, der jedem Geschöpf seine eigene Größe enthüllt“
(Alfred N. Whitehead: Wie entsteht Religion? Frankfurt 1990, 115).

Weil die Prozesstheologie Gott als die schöpferische und verwandelnde Kraft der Liebe beschreibt, tut sie dies so, dass sie sein Wirken zwar in personalen Bildern ausdrückt, Gott selbst aber nicht auf bestimmte personale Vorstellungen festlegt. Sie stellt damit klar: Gottvertrauen ist kein romantischer Restposten der Menschheitsgeschichte, keine Sonderwirklichkeit, sondern eine tief gründende Existenzerfahrung des Menschen. Durch die schöpferische Kraft der Liebe erfahren Menschen sich in einem unauslöschbaren Ur-Vertrauen auf den Wert ihrer Existenz, deren Grund und Begründung Gott ist: Es ist ein personaler Gott, weil er*sie sich in Christus dem Menschen vorstellbar und bewusst zuwendet, und es ist ein für Menschen unvorstellbarer Gott, weil er*sie als Ursprung und Ziel allen Lebens spürbar verborgen ist und bleibt.

 

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