012023

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Konzept

Hermann-Josef Wagener

Der kosmo-, sozio- und noomorphe Zugang zur Transzendenz und die Formenkreise religiöser Entwicklung

Religionssoziologie und Fundamentaltheologie beschreiben seit längerem eine Krise des traditionellen Monotheismus der jüdisch-christlichen und europäisch-philosophischen Tradition. Klassisch trennscharfe Unterscheidungen wie Theismus, Deismus und Pantheismus verlieren ihre analytische Kraft, weshalb neue Zugangswege aufgewiesen werden müssen. Darum schlägt der Fundamentaltheologe und Religionsphilosoph Bernhard Nitsche aus Münster eine neue Differenzierung vor, den Menschen als Person in seinem Welt- (ES), Sozial- (DU) und Selbstbezug (ICH) wahrzunehmen. Damit geht die Idee einher, dass sich mit diesen Grundbezügen auch Bezüge des Menschen zu einem transzendenten Anderen verbinden lassen. So ergeben sich nach Nitsche drei fundamentale Zugangsweisen:1

1 Die drei Zugangsweisen zur Transzendenz

Die erste lautet kosmomorpher Zugang. Die Immanenz trägt in sich selbst Verweise auf die Transzendenz. Gott oder das Göttliche (GoG) wird hier beispielsweise als Energie, die allem innewohnt, bezeichnet. Über GoG wird damit in weithin naturalen und unpersönlichen Metaphern von Atem, Quelle, Licht, Energie und ewigem Gesetz gesprochen, transpersonal wird GoG als höchstes ES (erste Ursache, erster Beweggrund aller Bewegung) gedacht.

Die zweite Zugangsweise zur Transzendenz sieht Nitsche im soziomorphen Zugang. Hier wird GoG als höchstes DU oder höchster ER angerufen oder als eine persönliche und beziehungsbestimmende (menschenähnliche) Handlungsmacht gekennzeichnet. Persönliche Glaubenserfahrungen mit dem persönlichen DU gehören zur soziomorphen Dimension, die für die jüdisch-christliche Tradition typisch ist. DU und ER werden in Rollen beschrieben wie Schöpfer, Erlöser, Befreier und Retter.

Die dritte Zugangsweise bezeichnet Nitsche als noomorphen Zugang. Hier wird GoG in seiner transzendentalen Bedeutung als Grund und Voraussetzung menschlicher Subjektivität thematisiert. Gott liegt und geht also allen konkreten Bewusstseins-Aktivitäten und jedem reflexiven Selbst-Bewusstsein voraus. In dieser transzendentallogischen Rückbindung wird GoG als letzte Unbedingtheit, als höchstes unpersönliches Bewusstsein oder als höchste Ich-Subjektivität vorpersonal gedacht. GoG erscheint hier einerseits als anonym, als nicht subjekt- und ichhaft, andererseits aber doch als höchste, souveräne und freie göttliche Subjektivität.

Die drei Zugänge zur Transzendenz stellen theoretisch selbstständige Dimensionen dar, die sich in der Kreuzung mit den Bezugsqualitäten der religiösen Formenkreise empirisch nachweisen lassen. Zudem lässt sich empirisch darlegen, dass unterschiedliche Gottesbilder (Referenzobjekte) und Bezugssqualitäten in den Formenkreisen auftreten.

2 Die drei Formenkreise religiöser Entwicklung

Ein religiöser Formenkreis ist ein religiöses Persönlichkeitskonstrukt mit seinen unterschiedlichen Denk- und Deutungsmustern. Das persönliche Konstrukt sitzt in der kognitiven Struktur der Persönlichkeit und steuert als Formenkreis das religiöse Erleben, Denken und Handeln. In Anlehnung an George A. Kelly blickt der Mensch „auf seine Welt durch transparente Muster oder Schablonen, welche er entwirft und dann an die realen Gegebenheiten, aus denen die Welt besteht, anzupassen sucht. Nicht immer gelingt diese Anpassung. Ohne solche Muster scheint die Welt aber ein so undifferenziertes Ganzes zu sein, daß der Mensch keinen Sinn in ihr sehen kann. Auch eine schlechte Anpassung ist hilfreicher als gar keine. Wir wollen diesen Mustern, deren Größen ausprobiert werden, den Namen Konstrukte geben. Es sind Mittel, die Welt zu konstruieren. Sie ermöglichen es dem Menschen und auch den niederen Tieren, die Richtung ihres Verhaltens festzulegen“.2 Jedes Konstruktsystem hat seinen eigenen begrenzten Gültigkeitsbereich.3

Insgesamt ergeben sich drei verschiedene religiöse Persönlichkeitstypen, die unterschiedliche religiöse Muster von Gottesbeziehungen entwickeln:4

  • Der heteronom-reziproke Persönlichkeitstyp sieht seinen Glauben als ein fertiges Produkt an und orientiert sich daran, dass er seinem vorgegebenen (Kinder-) Glauben zu folgen hat. Insofern gestaltet er seinen Glauben nicht eigenständig, sondern übernimmt ihn unreflektiert, wie er ihn gelernt hat. Sein Glaube wird durch die Autorität Gottes von außen her fremdbestimmt und nicht aus innerem Antrieb angeregt; er ist somit extrinsisch motiviert. In der Gottesbeziehung ist der Gläubige Gott hörig (Heteronomie) oder er verhandelt mit ihm. Diese Reziprozität lässt sich beschreiben als ein Tun-Ergehen-Zusammenhang oder als eine Wenn-Dann-Beziehung. Diese Beziehung zwischen Mensch und Gott gestaltet sich asymmetrisch. Deren religiöse Denkmuster fasse ich im sogenannten heteronom-reziproken Formenkreis zusammen.
  • Der autonom-narzisstische Persönlichkeitstyp betont seine Selbstbestimmung, Selbstständigkeit und Eigenaktivität in seinem Glaubensleben und Gottesbezug. Dieser Persönlichkeitstyp lässt sich von der Vorstellung leiten, dass Gott und er (Mensch) jeweils für sich autonom und voneinander unabhängig sind. „Nee, manche glauben nicht an Gott und darum … lassen sie auch Gott nicht rein. … Ja, und manche … denken an Gott, aber sie sind zu böse. … Und Gott … darf rein, aber Gott geht nicht rein, weil sie böse sind.“5 So gestaltet die religiöse Person ihr gläubiges Leben eigenverantwortlich und vorwiegend aus einem inneren Antrieb und Interesse, also intrinsisch. Der Glaube dient ihr zur narzisstischen Bestätigung ihres persönlichen Lebens: „Ich glaube, dass Gott mich auch so sieht. … Na, fröhlich, lustig. … Wo ich fröhlich bin, spielt vielleicht Gott mit mir, weil ich Spaß haben will.“6 In diesem Bereich kann auch ein Atheismus formuliert werden. Diese vielfältigen Denkmuster lassen ich im sogenannten autonom-narzisstischen Formenkreis zusammenfassen.
  • Der homonom-apriorische Persönlichkeitstyps pflegt eine gleichwertige und gleichberechtigte Beziehung mit Gott, der ihn als Bedingung der Möglichkeit, als Ermöglichungsgrund oder apriorische Voraussetzung von menschlichem Sein, Entscheiden und Handeln unbedingt annimmt und so gänzlich umfängt. Der Glaubende erfährt Gott beispielsweise als absolute Freiheit, die endliche Freiheit ermöglicht und sinnhaft verbürgt. Der Gottesbezug gleicht einer Beziehung auf Augenhöhe, in der Freiheit positiv besetzt und gegenseitige Selbstständigkeit (Autonomie) akzeptiert wird. Zudem versteht dieser religiöse Typ Gott als Motiv seines Glaubens und Handelns. Seine Glaubensgestalt hat eher den Menschen und die Welt zum Ziel als Gott selbst (Beispiel: Gott motiviert mich dazu, die Welt zu verändern, aber nicht, ihn gut und wohlwollend zu stimmen). Sein Glaube gründet in Gott, den er durch individuelle Interpretation wahrnimmt. Für ihn ist der Gottesgedanke im Menschsein verankert und dadurch fassbar, beispielsweise in der Geschöpflichkeit des Menschen und der Welt. Für den 18-jährigen Elias „fängt der Glaube mit den Menschen an, die glauben. Da ist etwas passiert, was ich sehe, was man spürt. … Die menschliche Verbundenheit ist erst mal da im Namen von etwas Existierendem oder auch nicht. Das ist jetzt da und wichtig. Und das kann es nur geben, solange es Menschen gibt.“7 Der Glaube gestaltet sich durch eine relative und nicht durch eine absolute Selbststeuerung (Autonomie) und ist von intrinsischer Motivation geprägt. Die Denkmuster bündle ich im sogenannten homonom-apriorischen Formenkreis.

So gestaltet jeder Persönlichkeitstyp seine Beziehung zu Gott in unterschiedlichen Mustern, die ich in den drei genannten Formenkreisen zusammenfasse. Ein Formenkreis bezeichnet also einen Komplex von religiösen Denk- und Deutungsmustern eines Persönlichkeitstyps.

3 Empirische Operationalisierung

Um die drei Zugangsweisen zur Transzendenz empirisch operationalisieren zu können, wurden bestimmte Referenzobjekte (Gottesbilder) und Bezugsqualitäten, die in idealtypischen Aussagen die drei Zugänge (Dimensionen) kosmomorph, soziomorph und noomorph erfassen, in den unterschiedlichen religiösen Formenkreisen formuliert, sodass das inhaltliche Modell der drei Zugangsweisen mit dem strukturellen Modell der Formenkreise gekreuzt wurde.8 Diese Kreuzung stellt nun eine umfassende Typologie religiöser Konstruktsysteme dar, die in ihren Auswirkungen untersucht und beschrieben werden konnte. Die dazu verwendete Faktorenanalyse wies die kosmomorphe, soziomorphe und noomorphe Dimension als eigenständige Dimensionen aus. Die Bezugsqualitäten erklären akzeptabel die drei Dimensionen:

Tabelle 1: Faktorenanalyse: Bezugsqualitäten und die drei Dimensionen

Faktor 1
Soziomorphe Dimension
Faktor 2
Kosmomorphe Dimension
Faktor 3
Noomorphe Dimension
Ladung8,684,762,50
Varianz0.350.190.10
Kumulative Varianz0.350.540.64
Die Faktorstruktur ist stabil (= 0.92); Varianzerklärungsanteil: 64 %.

Die verwendete Datenlage ermöglicht zudem, die fundamentaltheologisch interessante Frage zu beantworten, welche Referenzobjekte und Bezugsqualitäten der drei unterschiedlichen Zugänge in welchem Formenkreis erfasst werden und sich verorten. Die dazu angewendete Regressionsanalyse schätzt den Einfluss verschiedener unabhängiger Referenzobjekte und Bezugsqualitäten auf ein abhängiges Denkmuster und wird primär für die Untersuchung von Kausalbeziehungen, die auch als „Je-Desto-Beziehungen“ bezeichnet werden, verwendet. Die Regressionsanalyse errechnete folgende starke und signifikante Beziehungseffekte, die in der nachstehenden Tabelle 2 aufgeführt sind (Multiples R-Quadrat = > 0.30; Signifikanzniveau: 0.001 bis 0.05):

Tabelle 2: Bezugsqualität, Referenzobjekt und Formenkreise

BezugsqualitätFormenkreiseReferenzobjekt
Je mehr ich Gott gehorchen muss (Heteronomie), …
desto weniger verhandle (s) ich mit Gott.
desto mehr verpflichtet (s) er mich und
desto mehr fürchte (k) ich Gott.

Je mehr ich mich reziprok verhalte (Reziprozität), …
desto mehr verhandle (s) ich mit Gott,
desto weniger verursacht (k) er mich
heteronom-reziprokJe mehr heteronom, desto mehr Vernunft und Richter; desto weniger Leben und Freund.
Je mehr reziprok, desto mehr Erleuchtung und Geist; desto weniger Liebe und Friedensfürst.
Bestätigend; „Gott unterstützt und bestätigt mich in dem, was ich will: Ich finde Gott gut, weil Gott mich gut findet.“:
Je mehr Gott mich umarmt (s), desto mehr bestätigt er mich. Je mehr er mich bestätigt, desto weniger lausche (k) ich.

„Gott und Mensch sind unabhängig voneinander“:
Je mehr Unabhängigkeit, desto weniger erscheint (n) Gott durch mich.

Ablehnend; „Selbst wenn Gott existiert, will ich von Gott nichts wissen“:
Je mehr Ablehnung, desto weniger…
bete (s) ich zu Gott.
verhandle (s) ich mit Gott.
staune (k) ich angesichts Gottes.
glaube (n) ich an Gott.

„Gott existiert überhaupt nicht“:
Je mehr ich die Nicht-Existenz Gottes ablehne,
desto mehr
lausche (k) ich Gott.
entspringe (k) ich aus Gott.
…lässt Gott mich erkennen (n).
Je weniger ich an die Nicht-Existenz-Gottes glaube,
desto mehr…
spüre (k) ich Gott.
glaube (n) ich an Gott.
sehe (k) ich Spuren von Gott.
…bin ich von Gott erschaffen (s).
autonom-narzisstischJe mehr bestätigend, desto mehr Gott als das immer Neue, desto mehr Erleuchtung und Schöpfer.

Je mehr Unabhängigkeit, desto weniger Bewusstsein.

Je mehr ablehnend, desto mehr Erleuchtung und Drang nach Leben; desto weniger Vater, Liebe und Schöpfer.

Je mehr ich die Nicht-Existenz Gottes ablehne, desto mehr bejahe ich Gott als Energie, Göttliche Ord-nung,
Lebendige Beziehung, Liebe, Schöpfer.
Je mehr ich mich homonom-apriorisch verhalte,
desto mehr…
spüre (k) ich Gott.
gründe (n) ich in Gott.
entstamme (k) ich Gott.
energetisiert (k) Gott mich.
erscheint (n) Gott durch mich.
staune (k) ich angesichts Gottes,
wirkt Gott durch mich (n).
vertraue (s) ich Gott.
erfahre (n) ich an Gott Orientierung.
homonom-apriorischJe mehr homonom-apriorisch, desto mehr Liebe, Leben, Schöpfer, Energie, Unendliches Gespräch, Lebendige Beziehung, Vollendete Gemeinschaft.
(k) = kosmomorpher Zugang | (s) = soziomorpher Zugang | (n) = noomorpher Zugang

Wie aus der Tabelle 2 entnommen werden kann, beinhalten die unterschiedlichen religiösen Formenkreise idealtypische Bezugsqualitäten und Referenzobjekte.

4 Abschließende Bemerkungen

Die Auswertung zeigt, dass die drei Zugänge zur Transzendenz im autonomen und homonomen Formenkreis vorkommen. Im heteronomen Formenkreis verortet sich nur der sozio- und kosmomorphe Zugang, da offensichtlich die kognitiven Fähigkeiten für das Denken des noomorphen Zugangs noch nicht vorhanden sind. Ferner weist jeder einzelne Formenkreis ganz typische und bestimmte Bezugsqualitäten und Referenzen vor. In dem Zusammenspiel von Bezugsqualitäten und Formenkreise zeigen sich die Zugänge zur Transzendenz als drei unabhängige Dimensionen. Des Weiteren lässt sich erkennen, dass die religiösen Formenkreise mit fundamentaltheologischen Überlegungen übereinstimmen und die drei Transzendenzzugänge sich in den einzelnen Formenkreisen widerspiegeln.

  1. Vgl. dazu und zum Folgenden: Bernhard Nitsche, Formen des menschlichen Transzendenzbezuges (2. Teil): Phänomene und Reflexion, in: ders., Florian Baab (Hg.), Dimensionen des Menschseins – Wege der Transzendenz?, Paderborn 2018, 31–78.
  2. George A. Kelly, Die Psychologie der persönlichen Konstrukte, Paderborn 1986, 24.
  3. Vgl. Kelly 1986, 22–29, 33–37, 90–189.
  4. Ausführlich dargelegt in: Hermann-Josef Wagener, Den Glauben in Form bringen. Eine Metaanalyse der Formenkreise religiöser Entwicklung, Ostfildern 2022,46–52, 65–73.
  5. 11-jährige Damian, in: Anna-Katharina Szagun, Dem Sprachlosen Sprache verleihen. Rostocker Langzeitstudie zu Gottesverständnis und Gottesbeziehung von Kindern, die in mehrheitlich konfessionslosem Kontext aufwachen, Jena 2006, 171.
  6. 11-jährige Damian, in: Szagun 2006, 173.
  7. Anna-Katharina Szagun & Michael Fiedler, Religiöse Heimaten. Rostocker Langzeitstudie zu Gottesverständnis und Gottesbeziehung von Kindern, die in mehrheitlich konfessionslosem Kontext aufwachen, Jena 2008, 333.
  8. Vgl. dazu und zum Folgenden: Hermann-Josef Wagener, 2022,76–80.

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