012023

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Konzept

Helmut Zander

Religionstopographie: Gott. Historisch-kritisch-küchenpsychologische Überlegungen

Eine theologische Lieblingsfrage lautet: „Wer ist Gott?“ Aber sie führt rasant schnell ins Spekulativ-Ungefähre. Im folgenden geht es um eine Frage, die ortsfester ist: Wo ist Gott? Sie hat zwei Vorteile: Ziemlich präzise zu benennen, wo sich das Christentum von beträchtlichen Teilen der allgemeinen Religionsgeschichte wegbewegt hat, das funktioniert historisch-kritisch. Und sie führt von der Theologie in die Anthropologie und damit in die Psychologie. Für den ersten Vorteil fühle ich mich leidlich kompetent, hinsichtlich des zweiten bitte ich, mich als fröhlichen Dilettanten hinzunehmen.

Jesus und Paulus

Die topographische Frage nach Gott führt in der Antike in den Tempel, wo ein Gott oder eine Göttin wohnte, im Jerusalemer Tempel etwa Jahwe, oder an den Altar im privaten Haus, wo man in Rom die Laren als Schutzgeister verehrte. Gottheiten hatten jedenfalls Wohnorte und waren besuchbar. Im Zentrum stand ein Ritual des Gebens und Nehmens, das Opfer. Im Tempel konnte das heißen, Opfertiere verbrennen, und das geschah, in Jerusalem wie in Rom, vor dem Tempel unter freiem Himmel. In das Tempelinnere, das Wohnzimmer der Gottheit, hatten nur Priester und manchmal Priesterinnen Zutritt, die Gemeinde musste vor den Toren bleiben. Das Zentrum des Tempels war ein fanum, eine sakrale Rauminsel; die Verehrer und Verehrerinnen der Gottheit aus dem gemeinen Volk aber blieben aufgrund ihrer Unreinheit im profanum. Das „Allerheiligste“ des Jerusalemer Tempels hat es als Tabernakel in den katholischen Kirchen in die Gegenwart geschafft und ist ein Dokument der symbiotischen Verschwisterung von Katholizismus und allgemeiner Religionsgeschichte.

Gottheiten hatten Wohnorte und waren besuchbar.

Für Jesus und Paulus war all das ganz selbstverständlich, und doch versteht man die beiden nur, wenn man realisiert, dass ihre Theologie das Sakralitätskonzept der Tempeltheologie unterminiert hat. In welchem Ausmaß sie dies willentlich und wissentlich taten, lasse ich einmal außen vor. Jesus hat den Tempel jedenfalls nicht abgelehnt, die Geschichte der Tempelreinigung (Joh 2) dürfte seine Überzeugung zeigen, dass der Tempel zu reformieren, nicht aber abzuschaffen sei. Gleichwohl: Die Tempelkritik Jesu zieht sich durch seine Jerusalemer Konfliktgeschichte. Wenn man etwa das Markusevangelium genau liest, stößt man auf die arme Witwe, die nicht versteht, dass der Tempel und die Tempelbank Teil der Ökonomie sind (Mk 12,41-44), auf die man sich besser nicht verlässt (Mk 13,1-4) – und lieber in das Reich Gottes investiert. Diese Kritik traf den Tempel als religionspolitisches Machtzentrum und war wohl einer der Gründe, der Jesus in Konflikt mit dem jüdischen Establishment brachte und schließlich zu seiner Tötung führte.

Wirklich auffällig aber ist etwas anderes. Immer wieder wird von einem persönlichen Gebet berichtet, in dem sich Jesus unmittelbar an Gott als seinen Vater wendet, in einer fast intimen Ansprache, mit der Anrede „abba“. Dieses Gebet funktioniert ohne Tempel, ohne Opfer, ohne sakralen Raum. Das Johannesevangelium, dieser Text für eine exklusive Gemeinschaft, macht daraus das Gebet „im Geist“ und schleift die Unterscheidung von Gott und Mensch in Jesus: „Ich und der Vater, eins sind wir“, sagt der johanneische Gottmensch Jesus (Joh 10,30) – um damit Unverständnis und den Häresieverdacht von Überheblichkeit und Gotteslästerung zu produzieren. „(Herbei)trugen wieder Steine die Judaier, damit sie ihn steinigten“, heißt es unmittelbar anschließend. Diesen Komplex, dessen Achse der Geist (lateinisch: spiritus) ist, kann man im Wissenschaftsdeutsch Spiritualismus nennen. Bei Spiritualisten wohnt Gott nicht mehr im Tempel, sondern im Menschen.

Das Gebet Jesu funktioniert ohne Tempel, ohne Opfer, ohne sakralen Raum.

Rund zwanzig Jahre nach dem Tod Jesu radikalisiert Paulus den Spiritualismus. Dieser Jude und Pharisäer aus Kleinasien, hellenistisch geprägt und ein Wanderprediger wie Jesus auch, beansprucht, eine Erfahrung gemacht zu haben, durch die sein Leben in ein Vorher und ein Nachher zerfalle. Der Gekreuzigte sei ihm als Auferstandener begegnet, und als ob dies nicht schon bizarr genug klinge, behauptet er, „in Zungen“ geredet zu haben, und setzt noch eins drauf: Er sei in den dritten Himmel, „ad tertium caelum“, entrückt worden (2 Kor 12,2). Damit wird dieser Coelonaut überraschenderweise nicht zum Prototyp des Wahnsinnigen (was er in der Antike ohnehin nicht war), sondern zum zentralen Theologen des Neuen Testaments. Albert Schweitzer verehrte ihn als „den Schutzheiligen des Denkens im Christentum“, aber in Wahrheit war Paulus ein Ver-rückter, der, wie er sich selbst in dieser Korintherstelle gestand, nicht so recht denken konnte, was und wie da etwas mit ihm passiert war, als er in den Himmel hingerissen worden sei.

Vor diesem Hintergrund spiritualisiert es in seinen Gemeinden munter vor sich hin. Viele, namentlich Frauen, reden „in Zungen“ und gehen davon aus, dass sich in ihren schwer artikulierten Lauten der Geist selber manifestiere; viele, wieder vor allen Dingen Frauen, fühlen sich als Medien der göttlichen Offenbarung. Paulus lässt all das zu, rät Frauen allenfalls – jedenfalls wenn und nur wenn sie Offenbarungen haben – das Zeichen der Vollmacht (griechisch: exousia, 1 Kor 11,10) auf dem Kopf zu tragen. Damit ist möglicherweise wie verbreitet in der römischen Welt ein Schleier (was aber an dieser Stelle explizit nicht steht) als Auszeichnung gemeint. Damit legt Paulus die Axt an die theologische Legitimation des Tempels, denn für ihn ist die Gemeinde der Tempel, und das Allerheiligste sei in ihrer Mitte, weil in jedem und jeder von ihnen Gottes Geist (griechisch: pneuma) wohne. Dieses Tempelkonzept hat natürlich auch ganz praktische Gründe, weil seine Gemeinden irgendwo im östlichen Mittelmeerraum waren und der Jerusalemer Tempel für sie weit weg. Doch hätte sich dieses Problem auch anders lösen lassen, als Synagogengemeinde etwa, die zu Schriftlesung und Gebet zusammenkommt. Aber Paulus war eben Spiritualist.

Paulus, dieser Coelonaut, wird überraschenderweise nicht zum Prototyp des Wahnsinnigen, sondern zum zentralen Theologen des Neuen Testaments.

Zwischenfazit: Zwei der zentralen Gründerväter des Christentums, Jesus und Paulus, verlagerten den Ort der Kommunikation mit Gott (auch) ins Innere des Menschen. Der Bau von Tempeln, Kirchen und Basiliken stand nicht auf ihrer Agenda. Sie waren zwar keine Tempelstürmer, aber haben dessen Grundlagen bis zur Einsturzwahrscheinlichkeit untergraben. Ob sie wussten, welche Konsequenzen das in der Sozialgestalt einer Religionsgemeinschaft haben könnte, ob sie also wussten, was sie taten, weiß ich, wie gesagt, nicht.

Kirchengeschichte

Wenn das stimmt, wenn also Jesus und Paulus ihre Theologie spiritualistisch begründet haben, wird die Frage spannend: Warum gibt es im Christentum immer noch Kirchen, Kathedralen und Kapellen? Und wo sind die Spiritualisten geblieben? Man könnte nun eine lange Historie des Spiritualismus schreiben. Mitte des zweiten Jahrhunderts etwa trifft man auf den „Montanismus“, in dem Frauen sich als Prophetinnen des Heiligen Geistes verstehen, das Weltende erwarten und strengste Askese fordern. Tausend Jahre später gründet Franziskus seinen Orden, nachdem er glaubt, Christus habe ihn vom Kreuz von San Damiano unmittelbar angesprochen, während ungefähr zur gleichen Zeit der Zisterzienser-Abt Joachim von Fiore nach einer göttlichen Mitteilung das Zeitalter des Heiligen Geistes ankündigt. Im 17. Jahrhundert entsteht im evangelischen Christentum der Pietismus, wo idealerweise die „Wiedergeburt“ im Geist den wahren Christen ausmache; noch der amerikanische Präsident George Bush jun. verstand sich als „reborn Christian“. Heute ist die charismatische Bewegung, die die Unmittelbarkeit der Geisterfahrung verspricht, einer der schnellstwachsenden Zweige des Christentums. All diese sehr unterschiedlichen Gruppen und Bewegungen verbindet eine zentrale Überzeugung: Im Zentrum des Christentums steht der Geist, die innere Erfahrung, kein Gebäude, keine Institution.

Nun ließen sich noch Hunderte und Tausende von Offenbarungsempfängern, Visionären, Geistbegabten und Enthusiasten dokumentieren. Ihre Gesamtgeschichte ist noch ungeschrieben und schwer zu schreiben, denn neben denjenigen, die damit Reklame machten, stehen Menschen wie Blaise Pascal, die ihre Erfahrungen nur geheimen Aufzeichnungen anvertrauten. Aber insgesamt gilt, wenn man ehrlich ist: Die Spiritualisten landeten meist am Rande der Kirchen, als „Schwärmer“ in der protestantischen Tradition marginalisiert, unter dem Verdacht des „Subjektivismus“ in der katholischen Tradition misstrauisch beäugt. Wenn man mit dieser institutionellen Logik auf Jesus und Paulus zurückschaut, kann man der Feststellung kaum ausweichen: Die Kirchen haben die Spiritualisten verraten. Die großen Kirchen sind Institutionen mit Dogmen und Regeln und Prüfungen, und mit religiösen Profis, Priestern und Priesterinnen, Pfarrern und Pfarrerinnen, aber keine freie Ebene des wo auch immer wehenden Geistes.

Die Kirchen haben die Spiritualisten verraten. Man kann diesen Verrat, das Bestehen auf Prüfung und Konsens, verstehen.

Aber diese Niederlage des Geistes hat Gründe. Zum einen: Mit einer Kirche, die nur aus freien Geistern besteht, in der jede und jeder mit dem Anspruch, unmittelbaren Zugang zu Gott zu haben, die eigene Position legitimiert, kann man keine Sozialstruktur aufbauen. Wenn man auf die Feststellung, „der Herr hat mir gesagt“, bescheiden antwortet, „aber der Herr hat mir gesagt“, ist jede Kommunikation, jede Debatte, jede Konsensfindung am Ende. Der Spiritualismus hat organisationslogisch eine dramatisch asoziale Potenz und zieht Selbstdarsteller.innen jedweder Couleur an. Die Entscheidung zwischen mitbeten oder therapieren ist deshalb keine Scheinfrage. Sodann: Die Geistbegabten haben nicht nur nette Dinge verkündet, sondern auch schon einmal das Fasten bis zum Tod, das Ideal des Martyriums oder die Ausgrenzung derjenigen, die gerade nicht ihrer Meinung waren. Will sagen: Die dramatisch asoziale Potenz macht auch vor Inhalten nicht halt. Man kann also diesen Verrat, freundlicher gesagt, das Bestehen auf Prüfung und Konsens, verstehen.

Leben mit den Freigeistern

Nun sollte man bitteschön nicht meinen, man bekäme außergewöhnliche Menschen auf gewöhnlichen Lebenswegen. Was tun? Ich empfehle, Experimentaltheologie mit einem psychologischen Assessment-Center zu verbinden. Anleihen kann man bei zwei spiritualitätserfahrenen Lehrern des Christentums machen, der eine ist – wie vielleicht kaum anders zu erwarten – Paulus. Er war in Sachen Spiritualität eine Art amerikanischer Pragmatist avant la lettre: Prüft, was gut ist und nehmt, was nützt. Wenn Offenbarungen, Himmelsreisen und Zungenreden der Gemeinde nützen, o. k., ansonsten: lasst es. Und seid vorsichtig mit der Überzeugung, immer schon zu wissen, wo die Grenze zwischen Geist und Ungeist, wahr und falsch liegt.

Der matthäische Jesus war tendenziell dieser Meinung des Paulus. Solltet ihr, so erzählt er in einem Gleichnis (Mt 13,24-30), auf dem Acker den Taumel-Lolch entdecken, der dem dort angebauten Weizen zum Verwechseln ähnlich sieht und der oft von einem Parasiten, dem Pilz Neotyphodium coenophialum, befallen ist, der Menschen taumeln und sie wirre Dinge sehen lässt, dann könnt ihr vor der Ernte nicht wissen, wo wahr und falsch ist, wo Weizen und wo Unkraut wächst. Also lasst – erstmal – wachsen.

Brauchen wir eine Kirche der Spiritualisten? Wie immer, ja und nein.

Der zweite Lehrer mehr als tausend Jahre später ist Ignatius von Loyola (1491-1556), der Gründer des Jesuitenordens. In seinen Geistlichen Übungen reflektiert er religiöse Erfahrung vor dem Hintergrund der neuzeitlichen Verstärkung der Rolle des Subjektes. Die Unterscheidung der Geister, die „discretio spirituum“, spielt, wenn man dem einzelnen eine religiöse Erfahrung zubilligt und Jesuiten nachgerade auf einen Weg schickt, spirituelle Erfahrungen zu machen, eine entscheidende Rolle, soll eine Gemeinschaft unter all den subjektiven Wahrheitsansprüchen nicht explodieren. Seine Antwort ist ähnlich pragmatisch wie die des Paulus: Erscheint der spirituelle Weg, wenn ich ihn beginne, gut? Ist das in der Mitte weiterhin der Fall? Und sind die Ergebnisse auch gut? Wenn man dreimal ja sagt, besitze man eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass das etwas mit dem Heiligen Geist zu tun habe.

Fazit: Brauchen wir jetzt eine Kirche der Spiritualisten? Wie immer, ja und nein, sic et non. Ja, weil der Spiritualismus das Antidot gegen dogmatische Übersicherheit und institutionelle Arroganz ist. Spiritualisten sind überlebensnotwendig. Nein, wir brauchen sie nicht, jedenfalls nicht als einzige Legitimationsgrundlage von Religion, der gerade genannten Absturzkanten wegen. Denn letztlich man weiß nie, ob das, was der Geistbegabte für Gott hält, nicht doch ein ganz irdisches Selbst ist.

Der sakrale Raum ist ein Angebot, Stress aus der religiösen Biographie herauszunehmen.

All das sind Gründe, warum es weiterhin Tempel, Kirchen und Gebetssäle gibt, warum sakrale Räume nicht totzukriegen sind. Dahinter steht eine Weisheit religiöser Praxis, die aus der nicht-christlichen Religionsgeschichte kommt, der Raum. Nicht jeder Mensch hat eine raumfreie spirituelle Offenbarung. Und wenn doch, kann sie psychisch schnell belastend werden – und auch das Gegenteil ist nicht lustig, wenn man fürchtet, der Geist habe einen jetzt verlassen. Hier schlägt die Stunde des sakralen Raumes: Er bietet einen Rahmen für religiöse Praxis auch dann, wenn man nicht auf der Pneuma-Wolke Nr. 7 lebt und nicht immer das Gefühl hat, begeistigt zu sein. Der sakrale Raum bietet an, dem Druck der Orthodoxie durch die Orthopraxie ein Schnippchen zu schlagen. Und sobald dies in Gemeinschaft, im Ritual passiert, muss man selbst nicht einmal mehr der zentrale Akteur sein und kann sich bedienen lassen. Der sakrale Raum ist sozusagen ein Angebot, Stress aus der religiösen Biographie herauszunehmen.

Wo also wohnt Gott? Die großkirchliche Antwort lautet, auch wenn Jesus und Paulus dezidiert auf das Innere verweisen: hier und dort, innen und außen. Es komme darauf an, wer man sei und was man brauche. Auf jeden Fall, mit Paulus und Ignatius: Es müsse sich gut anfühlen und nützen. Manchmal hat man den Eindruck, die beiden seien Rheinländer avant la lettre gewesen.

Literaturhinweise

Natürlich ist das meiste in diesem Artikel, wie immer, von klügeren Menschen ausgeliehen.

  • Eine große oder auch leicht zugängliche Geschichte des Spiritualismus scheint mir zu fehlen, vorerst: Die Kirchenkritik der Mystiker, 3 Bde., hg. v. Mariano Delgado u. a., Fribourg: Academic Press 2004-2005.
  • Die Interpretation der Geschichte der armen Witwe nach Markus Lau: Die Witwe, das γαζοφυλάκιον und der Tempel. Beobachtungen zur mk Erzählung vom „Scherflein der Witwe“ (Mk 12,41–44), in: Zeitschrift für die Neutestamentliche Wissenschaft 107/2016, 186-205.
  • Zum Spiritualismus des Paulus Gudrun Nassauer: Ekstase und Selbstdefinition. Zur sozialen Konstruktivität außergewöhnlicher religiöser Erfahrung bei Paulus und seinen Adressaten, Freiburg i. Br. u. a.: Herder 2022.
  • Übersetzungen aus dem Neuen Testament nach: Münchener Neues Testament. Studienübersetzung, erarb. vom Collegium Biblicum München, hg. v. Josef Hainz, Martin Schmidl und Josef Sunckel, Düsseldorf: Patmos 51998.

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